Über die Frage, ob und wie Gerichte ihre Entscheidungen veröffentlichen dürfen und müssen, wird seit Jahren gestritten. Profiteur der unklaren Rechtslage war bislang die juris GmbH, welche von den Bundesgerichten exklusiv beliefert wird. Dieser seit langem umstrittenen Praxis will der VGH Baden-Württemberg nun einen Riegel vorschieben. Martin W. Huff analysiert die Urteilsgründe.
Vor nun 16 Jahren hat das Bundesverwaltungsgericht eine Grundsatzentscheidung zur Gleichbehandlung bei der Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen gefällt (BVerwG, Urt. v. 26.2.1997 – 6 C 3/96). Damals entschieden die Richter, dass der Bürger einen Anspruch darauf habe, über gerichtliche Entscheidungen informiert zu werden, damit er sich im demokratischen Rechtsstaat über die Rechtslage, auch geprägt durch Urteile und Beschlüsse, informieren kann.
Weiter spielten bei der Veröffentlichung die Medien eine entscheidende Rolle, so dass sie über Entscheidungen zu informieren seien. Zudem verpflichtete das BVerwG die Gerichtsverwaltungen zu einer strikten Gleichbehandlung bei der Belieferung mit Entscheidungen.
Jetzt wird das Gericht aller Voraussicht nach erneut Gelegenheit erhalten, sich mit Fragen der Entscheidungsveröffentlichung zu befassen. Anlass dazu bietet ein vielbeachtetes Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (VGH BaWü), welcher über einen Streit zwischen der LexXpress GmbH und dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu entscheiden hatte. In der Entscheidung vom 7. Mai 2013 (Az. 10 S 281/12), deren Gründe nun veröffentlicht wurden, erklärten die Mannheimer Richter die bisherige Praxis der Bundesgerichte für rechtswidrig, die juris GmbH, ein Mehrheitsunternehmen des Bundes, exklusiv mit Entscheidungen der obersten deutschen Gerichte zu beliefern. Sollte die Entscheidung Bestand haben, so wären nicht nur die Belieferungsverträge hinfällig, sondern die Zukunft von juris selbst stünde auf dem Spiel. Der VGH hat die Revision jedoch ausdrücklich zugelassen; dass das Bundesverfassungsgericht von dieser Möglichkeit Gebrauch machen wird, kann als sicher gelten.
Das Verfahren vor dem VGH im Zeitraffer
Zum Hintergrund des Verfahrens: Aufgrund eines Vertrags der Bundesrepublik Deutschland, hier immer vertreten durch das Bundesjustizministerium, gibt es ein besonderes Prozedere insbesondere bei der elektronischen Aufbereitung von Gerichtsentscheidungen, welches der VGH BaWü in seinen jetzt vorliegenden Urteilsgründen ausführlich schildert. Die maßgeblichen Verträge selbst sind inzwischen ebenfalls im Internet zu finden.
Konkret werden die Entscheidungen des BVerfG von dort angestellten Dokumentaren (Volljuristen) inhaltlich aufbereitet, zum Beispiel mit Orientierungssätzen und Normenketten etc. versehen. Danach stellt das Karlsruher Gericht sie juris zur Verfügung gestellt, wo sie zur Veröffentlichung vorbereitet und in Datenbanken zum Abruf bereit gehalten werden. Das Bundesunternehmen juris bietet die Entscheidungen aber auch gegen Entgelt als Einzeldokument oder im Abonnement an und tritt somit in Konkurrenz zu privaten Verlagen wie etwa C.H.Beck, Wolters Kluwer, oder eben der Klägerin LexXpress.
Die GmbH wollte das BVerfG verpflichten, es mit den gleichen Daten zu beliefern wie juris. Die Argumentation des Unternehmens: Gerichtsentscheidungen seien einschließlich sämtlicher amtlicher Leitsätze und Normenketten nach § 5 UrhG gemeinfrei, an ihnen gebe es also keine Urheberrechte. Daher sei der Bund nach dem Informationsweiterverwendungsgesetz (IWG) verpflichtet, LexXpress mit den gleichen Daten zu beliefern, die auch an juris flössen.
Gerichtsentscheidungen nicht urheberrechtsfähig
Das BVerfG vertritt den gegenteiligen Standpunkt. Urheberrechte an Gerichtsentscheidungen bestünden sehr wohl, eine Belieferung dürfe mithin verweigert werden. Nach einer sehr ausführlichen mündlichen Verhandlung hat der VGH BaWü der Argumentation des Klägers den Vorzug gegeben und das BVerfG entsprechend zur Belieferung verurteilt. Auf 42 Seiten legt der Gerichtshof – Berichterstatter war hier der renommierte Öffentlichrechtler Prof. Dr. Friedrich* Schoch – dar, warum sich das BVerfG und damit nahezu alle obersten Bundesgerichte bisher rechtswidrig verhielten.
Der Senat stellt klar, dass an Gerichtsentscheidungen grundsätzlich nach § 5 Urheberrechtsgesetz (UrhG) keine Urheberrechte entstehen können. Dies gelte nicht nur für Sachverhalt und Gründe, sondern für alle Bearbeitungen, die amtlich entstehen. Auch wenn ein Gericht, wie das BVerfG, seine Entscheidungen durch bei ihm beschäftigte Juristen aufarbeiten, also mit Orientierungssätzen, Normenketten etc. versehen lasse, handele es sich immer um eine amtliche Bearbeitung, an der gleichfalls keine Urheberrechte entstünden. Demnach seien die elektronischen Urteilsfassungen insgesamt gemeinfreie Werke, bei deren Veröffentlichung juris lediglich als Verwaltungshelfer fungiere, dem keinerlei Sonderstellung zukommen dürfe.
In rechtlicher Hinsicht ist somit der Anwendungsbereich des IWG eröffnet, da es sich um amtliche – öffentliche – Informationen handelt. Der Ausnahmetatbestand des § 1 Abs. 2 Nr. 4 IWG, wonach das Gesetz auf urheberechtlich geschützte Werke keine Anwendung findet, greift gerade nicht. Gemäß § 3 Abs. 1 IWG hat LexXpress einen Anspruch auf Belieferung mit den (digitalisierten) Urteilen.
Klare Absage an die Argumentation des BVerfG
Auch dem Argument des BVerfG, dass der Staat ein besonderes Interesse an der ausschließlichen Belieferung (§ 3 Abs. 4 S. 2 IWG) habe, erteilten die Mannheimer Richter eine klare Absage. Eine Erforderlichkeit sei in keiner Weise nachgewiesen, zudem habe das BVerfG die dann vorgeschriebene regelmäßige Evaluation unterlassen.
Wörtlich schreibt das Gericht: "Ob ein solcher Fall vorliegt, wird üblicherweise in einem Markterkundungsverfahren ermittelt, dabei hat die zuständige Stelle die relevanten Marktgegebenheiten im Hinblick auf das Vorhandensein, Leistungsfähigkeit und Effizienz der am Markt agierenden Anbieter zu prüfen und einen konkreten Vergleich der Leistungsangebote vorzunehmen". Eine solche Markterkundung habe aber nie stattgefunden. Sollte sie heute nachgeholt werden, so könnte die Erforderlichkeit eines exklusiven staatlichen Angebots mit Blick auf die zahlreichen leistungsfähigen Privatanbieter wohl kaum festgestellt werden.
Abschließend und ergänzend stützt das Gericht den Anspruch des Klägers noch auf Art. 3 GG, denn die Herausgeber von "Presseerzeugnissen" seien auch nach der Rechtsprechung des BVerfG selbst strikt gleich zu behandeln.
Was öffentlich finanziert wird, sollte auch öffentlich zugänglich sein
Sollte die Entscheidung rechtskräftig werden, so hätte dies erhebliche Auswirkungen für die juristischen Verlage und Datenbankanbieter. Denn wenn das Monopol von juris bei der Belieferung wegfiele, dann wäre – auch ohne zusätzliche Zahlungen – eine gleichmäßige Belieferung aller Anbieter durch die Gerichte gewährleistet.
Viele Justizbehörden in den Ländern haben im Übrigen schon bisher einen pragmatischen Lösungsweg gefunden. Sie stellen den Datenbankanbietern ihre Entscheidungen freiwillig zur Verfügung und erhalten im Gegenzug vergünstigte Konditionen für ihre eigenen Abonnements bei diesen.
Das macht die Grundsatzentscheidung des VGH BaWü indes nicht weniger richtig: Entscheidungen, die "im Namen des Volkes" ergehen, und deren Aufbereitung und Digitalisierung durch Steuergelder des Volkes finanziert wird, haben dem Volk auch offenzustehen – und zwar auf allen Kanälen, nicht nur bei einem Exklusivorgan des Bundes.
Der Autor Martin W. Huff ist Rechtsanwalt und Journalist in Leverkusen. Er ist Geschäftsführer der Rechtsanwaltskammer Köln und hat u.a. einen Lehrauftrag für Berufsrecht an der German Graduate School of Management and Law (GGS) in Heilbronn.
Anm. d. Red. v. 07.06.2013: Da sind uns die Vornamen etwas durcheinander geraten. Professor Schoch heißt Friedrich, nicht Ferdinand, wie hier zunächst stand.
Martin W. Huff, Wer darf Gerichtsentscheidungen veröffentlichen?: . In: Legal Tribune Online, 06.06.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8859 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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