Es gibt ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, sagte 2020 das BVerfG – und forderte eine gesetzliche Regelung der Suizidhilfe. Weil es die immer noch nicht gibt, klagen Betroffene auf Zugang zu tödlichen Medikamenten – bis vor das BVerwG.
Multiple Sklerose – eine Erkrankung, die für Harald M. die totale Abhängigkeit bedeutet. Die Lähmung abwärts vom Hals fesselt ihn an seinen Rollstuhl. "Ich habe mich heute morgen nicht selbst zurecht gemacht – ich wurde zurecht gemacht", sagte er am Donnerstag nach der Verhandlung im Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, Az. 3 C 8.22 u. a.). "Ich bin rund um die Uhr auf Betreuung angewiesen."
Bislang hat Harald M. seine Lebensfreude nicht verloren. Doch wenn die Folgen seiner Erkrankung zunehmend unerträglich werden, möchte er selbst entscheiden dürfen, wann es genug ist. Das Mittel seiner Wahl ist Natrium-Pentobarbital (Na-P). Das Problem an der Sache: Für den Erwerb des Mittels braucht M. eine Erlaubnis des Bundesinstituts für Arzneimittel- und Medizinprodukte (BfArM). Denn Na-P ist als Betäubungsmittel gelistet und dessen Abgabe unterliegt damit den Beschränkungen des Betäubungsmittelrechts. Muss das BfArM Suizidwilligen die Erlaubnis erteilen?
Das muss das BVerwG nun klären, die Leipziger Richter entscheiden über eine Revision von Harald M. gegen ein Urteil des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts (OVG NRW). Dieses hatte entschieden, dass das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) auch Suizidwilligen keinen Anspruch auf Erteilung der Erlaubnis durch das BfArM gewährt. Das Gericht hielt § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG für einschlägig. Danach darf das BfArM die Erlaubnis zum Erwerb von Arzneimitteln nicht erteilen, wenn dies dem Zweck des BtMG, die notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, zuwiderläuft. Diesem Zweck entspricht es, nur den Erwerb von Medikamenten mit therapeutischer Zielrichtung zu erlauben. Es muss also darum gehen, Krankheiten oder krankhafte Beschwerde zu heilen oder zu lindern. Die Selbsttötung fällt nicht darunter.
Verletzt das BtMG das Recht auf selbstbestimmtes Sterben?
Eine Gesetzesanwendung, die zunächst nachvollziehbar ist. Doch könnte sie im Widerspruch zu einem Urteil des Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vom Februar 2020 stehen: In einer aufsehenerregenden Entscheidung leitete es aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben ab.
Das OVG NRW hatte nicht erkennen können, dass seine Rechtsanwendung dieses Recht der Suizidwilligen verletzt. Im Gegensatz dazu betonte die Vorsitzende Richterin am BVerwG, dass die Eröffnung des Schutzbereichs und der Eingriff für sie feststünden. Allerdings sei zu prüfen, ob der Eingriff gerechtfertigt sei.
Der 3. Senat legte dabei besonderen Wert auf eine sorgfältige Interessensabwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit: In der einen Waagschale lägen das Interesse der Betroffenen an einem selbstbestimmten Sterben, in der anderen die Schutzgedanken des BtMG: die Gesundheit des Einzelnen und der Bevölkerung insgesamt und der Schutz vor Fehlgebrauch- und Missbrauch von Betäubungsmitteln. Eine solche Abwägung finde man im OVG-Urteil gerade nicht, so die Richterin.
Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit sah sich der 3. Senat dazu veranlasst, auch und insbesondere die Frage nach zumutbaren Alternativen zu Na-P zu klären. Eine Kernfrage der Verhandlung am Donnerstag betraf damit die Vorteile von Na-P gegenüber anderen tödlichen Arzneimittelkombinationen.
Natrium-Pentobarbital als Mittel der Wahl
Ein anderes Mittel kommt für Harald M. nicht in Betracht. "Ich möchte zu Hause sein bei meiner Familie, wenn ich sterbe. Und das geht nur mit Natrium-Pentobarbital." Das liegt laut seinem Prozessbevöllmächtigten, Rechtsanwalt Prof. Robert Roßbruch, daran, dass Betroffene das Mittel oral selbst zu sich nehmen könnten und nicht auf die Hilfe einer ärztlichen Person angewiesen seien. Für ihn ein Vorteil, für das BfArM ein Nachteil: Das Institut sieht einen Suizid ohne ärztliche Begleitung wegen erheblicher Risiken generell kritisch.
Roßbruch verwies zudem auf die Erfahrungen in der Schweiz und den Niederlanden. Hier wird Na-P schon seit Jahren zur Sterbehilfe eingesetzt. Das Mittel sei für einen regelmäßig schnellen und schmerzfreien Tod auf vergleichsweise sichere Weise besonders geeignet. Zudem habe es gegenüber anderen Arzneimittelkombinationen den Vorteil, dass nur ein Glas anstatt mindestens drei Gläsern mit Flüssigkeit getrunken werden muss. Angesichts der Schluckstörung von M. eine relevante Tatsache. Diese Eigenschaften und die orale Einnahmemöglichkeit machten Na-P zum Mittel der Wahl. Dass das BfArM Suizidwilligen den Zugang zu dem Mittel verwehrt, stelle deshalb eine Grundrechtsverletzung dar.
Ärztliche Verschreibung wäre illegal
Dabei ist eine Erlaubnis des BfArM nicht die einzige Möglichkeit, die das BtMG vorsieht, um an Betäubungsmittel zu gelangen. Grundsätzlich bietet § 13 Abs. 1 Nr. 1 BtMG dem Suizidwilligen auch die Möglichkeit, sich Betäubungsmittel ärztlich verschreiben zu lassen. Ein solches Rezept würde die Erlaubnis des BfArM ersetzen – doch die Kläger haben kein Rezept. Hätten sie zum Arzt gehen und um ein solches Rezept bitten müssen? Ist das die Lösung des Problems?
Nein, stellte das BVerwG klar. Dabei komme es auf die Frage, ob die Kläger ein Rezept anfordern müssen, nicht an. Denn es sei rechtlich ausgeschlossen, dass ärztliches Personal das Medikament tatsächlich verschreiben würde: Die Verschreibung sei nur erlaubt, wenn das Medikament therapeutischen Zwecken diene, was im Falle einer Selbsttötung nicht der Fall sei. Eine ärztliche Person würde sich daher strafbar machen, wenn sie das Medikament zur Selbsttötung verschriebe.
Das heißt: Auf einem anderen legalen Weg als durch die Erlaubnis des BFArM ist das Na-P nicht zu erhalten. Muss das BFArM sie dann nicht erteilen, um dem vom BVerfG entwickelten Recht auf selbstbestimmtes Sterben zur Durchsetzung zu verhelfen?
Verfassungskonforme Auslegung des BtMG?
Wenn das BVerwG das so entscheiden und in der Versagung der Erlaubnis eine Grundrechtsverletzung sehen sollte, so müsste es schließlich die Frage klären, ob der Versagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG verfassungskonform auszulegen ist. Widerspricht denn ein Erwerb eines Medikaments zur leidensfreien Selbsttötung bei unerträglich schwerer Krankheit wirklich den Zwecken des BtMG, die "medizinische Versorgung" sicherzustellen? Ist das nicht auch Medizin oder Therapie?
Neu sind die Überlegungen einer solchen verfassungskonformen Auslegung nicht. Denn bereits im Jahr 2017 hatte das BVerwG entschieden, dass unheilbar kranke Menschen einen Anspruch auf Zugang zu todbringenden Medikamenten durch das BfArM haben können, wenn es sich um eine extreme Notlage mit unzumutbarem Leidensdruck handelt, die nicht anders gelindert werden kann. Es ist unklar, ob die Erkrankung von M. darunter fällt. Seine MS-Erkrankung sei zwar unheilbar; allerdings bestünde noch die Möglichkeit palliativmedizinischer Maßnahmen.
Für M.s Rechtsanwalt Roßbruch ist die Sache klar: "Das BfArM ist nach meiner Rechtsauffassung mittels verfassungskonformer Auslegung des Betäubungsmittelgesetzes zur Erlaubniserteilung verpflichtet", sagte er im Vorfeld gegenüber LTO. Zudem sei die Entscheidung aus dem Jahr 2017 überholt durch die Entscheidung des BVerfG zum Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses könne nicht auf bestimmte Krankheitszustände beschränkt werden, Betroffene seien auch nicht zur Inanspruchnahme von palliativmedizinischen Maßnahmen verpflichtet.
Die Vorsitzende Richterin erinnert sich selbst noch an das Verfahren, bei dem sie schon im Jahr 2017 mitwirkte. Ein gutes Zeichen für die Kläger? Das Gericht lässt sich heute nicht in die Karten gucken. Sein Urteil verkündet das BVerwG erst am 7. November.
Gesetzliche Regelung der Suizidhilfe in weiter Ferne
Gewinnt Harald M., geht für ihn ein sechsjähriger Kampf um sein Recht zu Ende. Neben ihm hatte ein 79-jähriger mit schwerer Herzkrankheit Revision eingelegt, über die am Donnerstag mitverhandelt wurde – in Abwesenheit des Mannes, der wegen seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht erscheinen konnte.
M.s Anwalt Roßbruch mutmaßt, dass die Behörden auf Zeit spielen. Er habe Mandanten in insgesamt sieben Verfahren vertreten: "Fünf Antragsteller sind bereits verstorben, davon zwei durch Suizid. Ich bin froh, dass zwei Kläger überhaupt noch leben." Alle Anträge wurden – soweit ersichtlich – vom BfArM seit 2017 abgeschmettert. Die Alternative, den Weg am Ende des Lebens über einen Sterbehilfeverein zu gehen, lehnen beide Kläger ab.
Einigkeit bestand bei den Prozessbeteiligten am Donnerstag immerhin darüber, dass eine Neuregelung der Suizidhilfe mit einer Änderung des BtMG nötig ist. Entsprechende Entwürfe gab es, doch sind sie alle im Juli diesen Jahres in der Abstimmung des Bundestag gescheitert.
Harald M. zeigt sich nach dem Ende der mündlichen Verhandlung im Gespräch mit LTO aber zuversichtlich "Ich bin heute guter Dinge", sagt er mit leiser Stimme. Ob er auf die Art und Weise aus dem Leben scheiden kann, wie er es sich wünscht, wird sich am 7. November in Leipzig zeigen.
Anne Baldauf ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie und Doktorandin im Medizinrecht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sie hat außerdem einen Masterabschluss im Studiengang Medizin-Ethik-Recht (M.mel.).
Wenn Ihre Gedanken um Suizid kreisen, wenn Sie sich traurig oder depressiv fühlen, holen Sie sich Hilfe. Die Telefonseelsorge ist kostenlos und zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichbar: Per Telefon 0800 / 111 0 111 oder 0800 / 111 0 222 oder 116 123, per Mail und Chat unter online.telefonseelsorge.de.
BVerwG verhandelt über tödliches Suizidmittel: . In: Legal Tribune Online, 26.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53007 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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