Extremismus, Polizei, AfD-Landrat: Was ist eigent­lich "ver­fas­sungs­feind­lich"?

von Pauline Engels

19.08.2023

Er ist in den vergangenen Wochen in aller Munde: der Begriff der Verfassungsfeindlichkeit. Doch was verbirgt sich dahinter? Pauline Engels wirft einen rechtshistorischen Blick darauf.

Der Begriff der Verfassungsfeindlichkeit wird durch die Rechtsprechung geprägt und dabei nie eindeutig definiert. Das ist kein Versäumnis, sondern Absicht. Denn auch der Blick darauf, was eine Gefahr für die rechtsstaatliche Ordnung ist, hat sich verändert.  

Aktuelle Beispiele gibt es mehrere. Nach der ersten Etappe der Europawahlvorbereitungen der Alternative für Deutschland (AfD) stand beispielsweise fest: Der Einfluss der verfassungsfeindlichen Strömungen innerhalb der Partei wächst - so jedenfalls lautete zumindest die Einschätzung des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Thomas Haldenwang. Verfassungsfeindliche Tendenzen sah auch das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg in dem Verhalten eines Polizeianwärters, der auf Social Media wiederholt Beiträge der Neuen Rechten geliked hatte. Er habe durch die Billigung der den Nationalsozialismus verharmlosenden Beiträge gegen seine Pflicht zur Verfassungstreue verstoßen. Und ein im Kreis Sonneberg gewählter AfD-Politiker hat nach seiner Wahl zum Landrat einen "Verfassungstreue-Check" überstanden

Ist automatisch verfassungsfeindlich, wer nicht verfassungstreu ist?  

Diese und weitere Ereignisse haben eines gemeinsam, nämlich die Anknüpfung an den Begriff der Verfassungsfeindlichkeit. Was verfassungsfeindlich ist, beurteilt das BfV bzw. dessen Ableger in den einzelnen Bundesländern. Gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes (BVerfSchG) geht es dabei vor allem um Bestrebungen, die gegen die Freiheitliche Demokratische Grundordnung (FDGO) gerichtet sind. Informationen über solche Bestrebungen sammelt das BfV gezielt, wertet sie aus und erstellt Berichte. In diesen Berichten geht es zum Beispiel auch um Reichsbürger, Linksextremismus und islamistischen Terrorismus.  

Dabei hat (bis auf wenige Ausnahmen, etwa für Beamte) niemand die Pflicht, sich verfassungstreu zu verhalten. Zweifel an einzelnen Elementen der Verfassung darf man also haben und auch äußern. Die Grenze verläuft da, wo es sich eben nicht mehr nur um eine Meinung handelt, sondern um das Vorhaben, die FDGO als solche zu beeinträchtigen oder gar zu beseitigen. Davon geht das BfV etwa bei der Planung von Anschlägen aus. In diesen Fällen, in denen Einzelne (oder auch Parteien, wie aus Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) hervorgeht) der FDGO gefährlich werden, gelten die Garantien der FDGO als Maßstab. 

Die Folgefrage: Was ist die FDGO? 

Die FDGO ist ein unbestimmter Rechtsbegriff und soll den Wesenskern des politischen Systems umreißen - ein recht hoher Anspruch an jeden Definitionsversuch. Dabei ist sie nicht gleichbedeutend mit der Verfassung, sondern reicht weiter. Ins Grundgesetz (GG) hat man die aus der vergangenen NS-Diktatur gezogenen Lehren einfließen lassen, also bewusst eine demokratische Ordnung schaffen wollen. Doch diese gerade aus der Taufe gehobene Demokratie sollte auch wehrhaft sein. Damit umfasst die FDGO insgesamt den unentbehrlichen Ausschnitt des demokratischen Systems, dessen Gefährdung man abwehren wollte. Zugegeben: Wirklich konkret ist das immer noch nicht.

Zu einer ersten ausführlicheren Definition dessen, was unter der FDGO eigentlich zu verstehen ist, kam es dann 1952 im Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Verbot der Sozialistische Reichspartei (SRP). In dem Urteil wurde bereits deutlich, dass eine zu konkrete Definition des Begriffs nicht das war, das den Richtern des BVerfG vorschwebte.  

Man bezeichnete die FDGO darin als wertgebundene Ordnung, als Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt. Außerdem benannte das BVerfG acht Kernelemente dieser Ordnung, unter anderem die Gewaltenteilung. Im Laufe der Zeit wurde diese Definition immer wieder durch die Rechtsprechung des BVerfG bestätigt und der Katalog ihrer Elemente erweitert, etwa um das Recht auf freie Meinungsäußerung. 

In der FDGO-Definition nicht hinwegzudenken: die Menschenwürde 

2017 folgte dann noch einmal eine ausführlichere Erläuterung des FDGO-Begriffs im Urteil des BVerfG zum angestrebten Verbot der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD). Bewusst, so das Gericht, beschränke man sich dabei auf einige wenige Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich seien. Ausgangspunkt seien die Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG), außerdem das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip. Zudem könne die FDGO nicht ohne ein Verbot der Relativierung nationalsozialistischen Unrechts gedacht werden.  

Diese Rechtsprechungselemente schaffen zumindest ein wenig Klarheit. Außerdem lassen sich aus den BVerfG-Urteilen Beispiele für Verstöße gegen die FDGO ableiten. Verfassungsfeindlich ist nach dem NPD-Urteil etwa, wenn eine Partei den "ethnische[n] Personenbegriff als Basis für die völkische Welt- und Rechtsanschauung" zugrunde legt. Denn das sei ein "Verstoß gegen die Menschenwürde" (Urt. v. 17.01.2017, Az. 2 BvB 1/13, Rn. 43).  

Hierauf bezog sich beispielsweise der Bericht des Landesverfassungsschutzes Thüringen, der den Thüringer AfD-Landesverband 2021 als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung einstufte. Die Ideologie innerhalb des Landesverbands richte sich gegen eben diese Grundprinzipien, so die Verfassungshüter. Ein Anhaltspunkt dafür sei die vom Verbandsvorstand befeuerte Islamfeindlichkeit. Dieser befürworte einen ethnisch-kulturellen Volksbegriff, dem die "biologisch begründete […] Ungleichheitsannahme zwischen einzelnen Menschen" zugrunde liege. Auch das sei mit der Menschenwürde nicht vereinbar. 

Wie unbestimmt darf der Begriff nun wirklich sein?

Bisweilen kommt Kritik auf an der fehlenden Konkretheit des FDGO-Begriffs. Das liegt nicht zuletzt daran, wie der Begriff gerade in der Anfangszeit der Bundesrepublik interpretiert worden war. Im politischen Strafrecht schuf man etwa einen Tatbestand, der die FDGO im Zusammenhang mit der Strafbarkeit der "Staatsgefährdung" nennen sollte – dabei hatte es einen ähnlichen Tatbestand bereits im NS-Recht zur Bekämpfung kommunistischer Bestrebungen gegeben.

Auch wenn der Straftatbestand letztlich ohne den Begriff auskam, wurden die kritischen Stimmen lauter. Sie sahen in dem unbestimmten Wort ein Instrument, mit dem sich die Bundesrepublik eine eigene Identität in Abgrenzung zur DDR aufbauen und das sie für den Kampf gegen kommunistische Gruppierungen missbrauchen wollte, denn letztere galten in der Anfangszeit der BRD als unüberschaubare Bedrohung.  

In dieses Bild passte es dann auch, dass der Begriff der FDGO 1950 im sogenannten Adenauer-Erlass auftauchte, der vor allem Anhänger kommunistischer und linker Organisationen als "Gegner" der FDGO aus dem Staatdienst entfernen sollte. Auch der 1972 in Kraft getretene sogenannte Radikalenerlass diente vor allem der Beobachtung linksextremistischer Bestrebungen. Vorgeblich diente er zwar dazu, generell alle Bewerber für den öffentlichen Dienst auf mögliche verfassungsfeindliche Bestrebungen hin überprüfen zu können. Dass es dabei aber nur um bestimmte, für besonders misslich erachtete Bestrebungen ging, wurde deutlich, als 1995 sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Ablehnung einer Bewerberin aufgrund des Erlasses als Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention (MRK) einstufte (Urt. v. 26.09.1995, Az. 17851/91). 

Die Kritik in Teilen der juristischen Literatur dazu lautet: Die Vagheit des FDGO-Begriffs sei nicht weniger als politisches Kalkül gewesen, um sich vorzubehalten, bestimmte Meinungen aus dem politischen Diskurs fernzuhalten. In seinem NPD-Urteil ging das BVerfG direkt auf diese Kritik ein (Urt. v. 17.01.2017, Az. 2 BvB 1/13, Rn. 535) und stellte klar: Der Begriff werde bewusst offengehalten, weil Kritik an einzelnen Elementen der Verfassung möglich sein muss und oftmals schwere Grundrechtseingriffe damit einhergingen, sobald man den Stempel der Verfassungsfeindlichkeit trage.

Eine zu enge Definition wäre einem Ablaufdatum gleichgekommen 

Tatsächlich wurde der Begriff der FDGO immer offen genug gehalten, um ihn im Laufe der Entwicklung der Bundesrepublik für unterschiedliche politische Zwecke einsetzen und gezielt gegen Anhänger unbeliebter Ansichten vorgehen zu können. Dass man so nationalsozialistischen Kontinuitäten in der frühen Bundesrepublik den Weg bereitete, lag allerdings weniger an der Offenheit des Begriffs als an dem in der Nachkriegszeit noch vorherrschenden (kommunistischen) Feindbild der regierenden Parteien. 

Dabei ist es auch eine Chance, dass der Begriff der FDGO viel Raum für Interpretationen lässt. Denn wäre er 1952 eindeutig als antikommunistisch definiert worden, wäre er heute im Kampf gegen andere Strömungen wie beispielsweise Rechtsextremismus nutzlos. Wahrscheinlich hätte man eine an einen zu konkret definierten FDGO-Begriff angelehnte Regelung einfach irgendwann abgeschafft, ähnlich wie den Radikalenerlass. In seiner Vagheit aber kann der Begriff der FDGO und damit letztlich auch der der Verfassungsfeindlichkeit ein zuverlässiger Garant sein für die Werte, nach denen wir leben wollen – eine trotz mancher Kritik nicht zu unterschätzende Schutzschild-Funktion.

Die Autorin Pauline Engels ist Diplomjuristin und arbeitet in einer Kanzlei. Ihr Schwerpunktstudium hat sie in Rechtsphilosophie und -geschichte absolviert.

Zitiervorschlag

Extremismus, Polizei, AfD-Landrat: . In: Legal Tribune Online, 19.08.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52516 (abgerufen am: 23.11.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen