UN-Bericht zur Seeblockade des Gazastreifens: Zu viel Gewalt beim Sturm auf die Mavi Marmara

Der am Freitag veröffentlichte UN-Untersuchungsbericht zur Erstürmung der Gaza-Hilfsflottille durch israelische Sicherheitskräfte sorgt für Spannungen. Die Seeblockade des Gaza-Streifens soll rechtmäßig, aber unverhältnismäßig gewesen sein. Warum die Türkei überlegt, vor den IGH zu ziehen und wieso der Bericht potenziell die Hamas legitimiert, erklärt Przemyslaw Roguski.

Der Angriff israelischer Sicherheitskräfte auf das türkische Schiff Mavi Marmara, bei dem mehrere Menschen starben, erhitzt nun über ein Jahr später wieder die Gemüter beider Staaten. Grund dafür ist die Veröffentlichung eines Untersuchungsberichts der von den Vereinten Nationen eingesetzten und von Sir Geoffrey Palmer geführten Kommission, welche die Umstände dieses tragischen Zwischenfalls untersuchen sollte. Die Untersuchung war mit Spannung erwartet worden; und doch war von Anfang an klar, dass sie nicht beide Seiten des Konflikts würde befriedigen können. Die Sicht der Kritiker des israelischen Einsatzes und seiner Politik, allen voran der Türkei, auf der einen, die der Israelis auf der anderen Seite ist naturgemäß zu unterschiedlich.

Der von der Kommission untersuchte Angriff auf die Mavi Marmara ereignete sich am 31. Mai 2010. Das unter komorischer Flagge segelnde Schiff war Teil eines Hilfskonvois, der nach Angaben seiner Organisatoren humanitäre Hilfsgüter in den Gaza-Streifen liefern sollte. Deren erklärtes Ziel war es aber auch, mit der Flottille die israelische Seeblockade des Gaza-Streifens zu durchbrechen, um Aufmerksamkeit auf die Politik Israels gegenüber dem Gaza-Streifen zu lenken.

Israel hatte den Gaza-Streifen nach der Machtübernahme durch die Hamas im Jahre 2007 vom Land her komplett abgeriegelt, um die Einfuhr von Waffen und Raketenmaterial zu stoppen. Nachdem aber weiterhin Waffen in den Gaza-Streifen geliefert wurden, vermuteten die israelischen Behörden, dass diese auf dem Seeweg nach Gaza gelangten und errichteten im Jahre 2009 zusätzlich eine Blockade des Seezugangs.

Sowohl die Türken als auch die Israelis veröffentlichten im Vorfeld des UN-Berichts ihre eigenen Untersuchungsberichte und kamen darin zu unterschiedlichen Ergebnissen. Während die türkische Untersuchung sowohl die von Israel eingesetzte Seeblockade des Gaza-Streifens als auch die Militäraktion scharf kritisierte und als illegal bezeichnete, fand der israelische Bericht an beiden Punkten nur wenig auszusetzen. Die Palmer-Kommission hatte daher eine schwierige Aufgabe zu bewältigen.

Freiheit der Schiffahrt auf Hoher See

Der Hauptstreitpunkt zwischen den Parteien war die Zulässigkeit der Seeblockade. Außerhalb der Territorialgewässer eines Staates gilt nach Völkergewohnheitsrecht und Art. 87 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (SRÜ) die so genannte Freiheit der Hohen See. Das bedeutet, dass das Meer außerhalb des eigenen Territoriums allen Staaten zur Schifffahrt offen ist und kein Land fremde Schiffe stoppen oder gar durchsuchen darf, ohne vorher die Erlaubnis des Flaggenstaats einzuholen. Die Hohe See ist friedlichen Zwecken vorbehalten.

Das Abfangen der Gaza-Hilfsflottille und die Erstürmung der Mavi Marmara verstößt daher zunächst gegen die Freiheit der Hohen See und stellt zudem einen durch Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta verbotenen Gewaltakt dar. Israel berief sich bei der Errichtung der Seeblockade jedoch auf sein Selbstverteidigungsrecht: Die Blockade diene dazu, Waffenlieferungen nach Gaza zu unterbinden und so Angriffe auf Israel zu erschweren.

Tatsächlich darf sich ein Staat nach Art. 51 UN-Charta gegen einen bewaffneten Angriff zur Wehr setzen. Als letztes Mittel erlaubt die Charta sogar einen Krieg, bei dem als Instrumentarium die Seeblockade völkerrechtlich anerkannt ist. Sie ist im so genannten San Remo Manual geregelt, das den Stand des Völkerrechts und die Staatenpraxis auf dem Gebiet der Seekriegsführung zusammenfasst.

Palmer-Kommission: Seeblockade – ja, aber

Zulässig ist die Sperrung des Seezugangs also nur im Kontext eines internationalen bewaffneten Konflikts. An dieser Stelle wird die Beurteilung der israelischen Blockade des Gaza-Streifens schwierig. Denn als internationaler bewaffneter Konflikt gilt nur ein solcher zwischen Staaten oder zumindest zwischen einem Staat und einer Gruppierung, die Kombattanten-Status hat. Hier liegt das Problem: weder Israel noch irgendein anderer Staat erkennen das palästinensische Autonomiegebiet als eigenständigen Staat an.

Fakt ist aber, dass der Gaza-Streifen nicht Teil israelischen Territoriums ist und Israel den Küstenstreifen seit 2007 nicht mehr besetzt. Da das Gebiet damit eine quasi-staatliche Autonomie wie auch eine Art Regierung besitzt und eine eigene Armee aufstellt, entschied sich die Palmer-Kommission, die Feindseligkeiten als internationalen bewaffneten Konflikt anzusehen. Sie hielt die Seeblockade aus diesem Grund für zulässig.

Die Israelis hatten also sehr wohl das Recht, den Hilfskonvoi zu stoppen und sogar Gewalt anzuwenden. Die Kommission stellte jedoch auch fest, dass der Angriff auf die Mavi Marmara unverhältnismäßig war. Der Bericht moniert, dass die israelischen Sicherheitskräfte eine klare Warnung hätten erteilen müssen, dass die Schiffe geentert würden.

Auch abschreckende Gewalt, der sprichwörtliche Schuss vor den Bug, wäre als milderes Mittel zunächst nötig gewesen, um die Flottille von der Weiterfahrt abzuhalten. Die Palmer-Kommission kritisierte zudem die exzessive Gewaltanwendung durch die israelischen Sicherheitskräfte, die zum Tod mehrerer Personen führte.  Auch wenn die Sicherheitskräfte selbst angegriffen wurden, sei diese Reaktion nicht gerechtfertigt gewesen.

Mehr als nur die Seeblockade: Hamas-Kämpfer als Kombattanten?

Der Bericht der Palmer-Kommission übernimmt also in einem wesentlichen Punkt die Argumentation Israels, wenn er die Seeblockade des Gaza-Streifens als zulässig erachtet. Dieser Standpunkt hat für Israel aber weit reichende Konsequenzen.

Geht man davon aus, dass zwischen Israel und der Hamas ein internationaler bewaffneter Konflikt herrscht - was wie erläutert Voraussetzung einer zulässigen Seeblockade ist -, dann wären die Hamas-Kämpfer Kombattanten im Sinne des humanitären Völkerrechts. Das Töten israelischer Soldaten wäre ihnen erlaubt, sie dürften dafür nicht strafrechtlich belangt und müssten nach der Gefangennahme als Kriegsgefangene behandelt werden.

Diese Rechte möchte Israel der Hamas aber gerade nicht gewähren – eine Inkonsequenz, die auch der Palmer-Bericht anspricht.

Ob dieses Dokument einen Schlussstrich unter die Diskussion um die Ereignisse im Mittelmeer ziehen kann ist fraglich. Die Untersuchung der Palmer-Kommission bindet die Parteien nicht. Laut Medienberichten prüft die Türkei, ob sie die Sache vor den Internationalen Gerichtshof (IGH) bringt. Das könnte sie tun, indem sie entweder Israel verklagt oder aber einen Beschluss der Generalversammlung der Vereinten Nationen über die Einholung eines Gutachtens beim IGH initiiert.

Eine Klärung durch das UN-Tribunal hätte sicherlich ihre Vorteile. Der Palmer-Bericht ist bei aller Qualität seiner besonders im Annex I dargelegten juristischen Analyse vornehmlich ein politisches Dokument und an manchen Stellen verbesserungswürdig. Die Begründung, weshalb der Konflikt zwischen Israel und der Hamas ein internationaler bewaffneter Konflikt sein soll, fällt recht knapp aus. Weitere wichtige juristische Fragen wie beispielsweise die Anwendbarkeit der Menschenrechtspakte auf den Einsatz an Bord der Mavi Marmara, lässt der Bericht unbeantwortet. Entscheidend ist damit, ob den Parteien an einer verbindlichen Entscheidung und Entspannung der aufgeheizten Atmosphäre gelegen ist.

Der Autor Przemyslaw Nick Roguski, Mag. Iur. ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht, Internationales Wirtschaftsrecht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

 

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Zitiervorschlag

Przemyslaw Roguski, UN-Bericht zur Seeblockade des Gazastreifens: . In: Legal Tribune Online, 06.09.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4212 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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