Nach dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte behinderter Menschen muss die Bundesrepublik ein integratives Bildungssystem gewährleisten. Weil in Deutschland noch der Unterricht an Förderschulen überwiegt, wollen einige Betroffene ihre Rechte vor Gericht durchsetzen. Doch inwieweit gewährleistet die Konvention ein einklagbares Recht auf inklusiven Schulunterricht?
Die Behindertenrechtskonvention ist die jüngste Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN). Lange Zeit herrschte die Ansicht vor, dass die Belange behinderter Menschen eher ein sozial- und gesundheitspolitisches denn ein menschenrechtliches Thema sind. Erst im Jahre 2001 setzte die Generalversammlung der UN einen Ausschuss ein, der sich mit der Situation solcher Menschen befassen und zur Stärkung ihrer Rechte eine Konvention erarbeiten sollte.
Die daraufhin am 13. Dezember 2006 von der Generalversammlung angenommene Konvention haben bisher 147 Staaten unterzeichnet; 96 Staaten, darunter die Bundesrepublik, haben sie ratifiziert. Durch die Ratifikation wurde das Übereinkommen für Deutschland verbindlich. Der Staat ist daher völkerrechtlich gegenüber den anderen beteiligten Ländern zur Gewährleistung der in der Konvention festgehaltenen Rechte verpflichtet.
Behinderte Personen sollen vor Ausgrenzung geschützt werden
Die Behindertenrechtskonvention konkretisiert die in anderen Menschenrechtspakten festgehaltenen Rechte für Personen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen. Sie verbietet jede Diskriminierung aufgrund einer Behinderung und verpflichtet die Vertragsstaaten dazu, dies durch eine Reihe von Maßnahmen zu garantieren sowie die Gleichberechtigung zu fördern. Daneben gewährt die Konvention eine Reihe politischer, wirtschaftlicher und sozialer Rechte.
Zu diesen Rechten gehört auch das in Art. 24 festgehaltene Recht auf Bildung. Um dieses ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, verpflichteten sich die Vertragsstaaten, ein "integratives Bildungssystem" zu gewährleisten. Die Idee eines solchen Bildungssystems (das nach dem englischen Originaltext der Konvention eher "inklusiv" als "integrativ" genannt werden sollte) ist, dass behinderte Schüler zusammen mit nicht behinderten Kindern eine Schule besuchen können.
Neben dem Ziel, die Ausgrenzung ebensolcher Schüler zu vermeiden, hat dies vor allem einen pädagogischen Aspekt: Untersuchungen haben gezeigt, dass sich behinderte Schüler, die an Regelschulen unterrichtet werden, besser entwickeln und größere Chancen haben, einen Schulabschluss zu erreichen.
Hingegen sieht die triste deutsche Realität bisher so aus, dass ca. 85 Prozent der Schüler mit Behinderungen, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf aufweisen, in Förderschulen unterrichtet werden. Im Jahre 2008 haben 76 Prozent aller Förderschulabgänger die Schule ohne einen Hauptschul- oder höheren Abschluss verlassen.
Der Staat muss nicht mehr als die verfügbaren Mittel einsetzen
In Anbetracht dieser Tatsache ist es nicht verwunderlich, dass sich viele betroffene Eltern vom Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention eine Verbesserung der Lage ihrer Kinder durch Unterricht an allgemeinen Schulen erhofft hatten. Doch dies ist nicht so einfach: Zwar verpflichtet Art. 24 der Konvention die Bundesrepublik grundsätzlich zur Gewährleistung eines integrativen/inklusiven Unterrichts. Es ist allerdings umstritten, inwieweit die Norm den Betroffenen auch ein einklagbares Recht gewährt. Dabei treten zwei Probleme besonders hervor.
Das Recht auf Bildung und integrativen Schulunterricht zählt zu den so genannten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Anders als die klassischen bürgerlichen und politischen Rechte - wie etwa das Recht auf freie Meinungsäußerung - sind solche Rechte keine Abwehrrechte gegen den Staat, sondern verlangen von ihm ein positives Handeln. Der Staat muss also konkrete Maßnahmen treffen – wie etwa sein Schulsystem so einrichten, damit das Recht auf integrativen Schulunterricht gewährleistet ist.
Dies ist jedoch nicht unbegrenzt möglich, sondern nur im Rahmen der verfügbaren Kapazitäten. Art. 4 Abs. 2 des Übereinkommens verpflichtet die Vertragsstaaten nur, die verfügbaren Mittel auszuschöpfen und Maßnahmen zu treffen, damit "nach und nach" die volle Wirkung der Rechte erreicht werden kann. Der Staat kann also im Rahmen seiner verfügbaren Mittel die Methode der Umsetzung des Rechts auf Bildung bestimmen. Er muss diese nicht sofort implementieren, sondern kann dies eben schrittweise tun.
Die innerdeutsche Kompetenzverteilung erschwert eine Umsetzung
Gegen eine unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 24 der Behindertenrechtskonvention spricht auch die Tatsache, dass die Norm nicht self-executing ist, also keinen vollstreckbaren Charakter hat. Nur solche völkerrechtlichen Normen, die für ihre volle Wirksamkeit keines weiteren staatlichen Rechtsaktes bedürfen, sind unmittelbar anwendbar, könnten vor Gericht also als Anspruchsgrundlage dienen. Dies ist aber wohl gerade für die Gewährleistung eines integrativen Schulunterrichts nicht der Fall. Dafür wäre nämlich eine Neuorganisation des Schulsystems erforderlich, was erst durch den Gesetzgeber geregelt werden müsste.
Eine weitere Schwierigkeit besteht in der innerstaatlichen Kompetenzverteilung. Nach Art. 32 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) hat der Bund die Kompetenz zur Pflege der auswärtigen Beziehungen, also auch zur Unterzeichnung internationaler Konventionen. Durch das Zustimmungsgesetz zur Konvention wurde gemäß Art. 59 Abs. 2 GG innerstaatlich ihr Vollzug angeordnet.
Allerdings hat innerstaatlich nicht der Bund, sondern die Länder die Kompetenz zur Regelung des Schulwesens. Zwar hatte der Bund durch die Zustimmung der Länder die Zuständigkeit zum Abschluss der Konvention auch im Bereich ausschließlicher Landeskompetenzen. Am Schluss müssen aber noch die Länder die Konvention in ihre Schulgesetze transformieren.
Möglich bleibt ein Individualbeschwerdeverfahren
Aus den oben genannten Gründen ist es für Eltern behinderter Kinder daher immer noch schwierig, diese an allgemeinen Schulen und nicht an Förderschulen unterrichten zu lassen. Die Gerichte (etwa der Verwaltungsgerichtshof Kassel, Beschl. v. 12.11.2009, Az. 7 B 2763/09) haben Anträge auf Zuweisung behinderter Schüler an allgemeine Schulen abgewiesen, weil eben kein einklagbarer Anspruch bestehe. Die Betroffen hätten höchstens einen Anspruch auf Berücksichtigung der Konvention durch die Schulbehörden im Rahmen ihres Ermessens.
Da Deutschland eines der ersten Länder war, das die Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat, bleibt zu hoffen, dass auch die Länder die entsprechenden Verpflichtungen des Bundes entsprechend schnell in ihren Schulgesetze umsetzen. Dabei ist ihnen jedoch ein zeitlicher und organisatorischer Spielraum zuzuerkennen, handelt es sich doch bei der Umgestaltung des Schulwesens um einen komplizierten Vorgang.
Sollte sich die Implementierung des Rechts auf inklusiven Schulunterricht über Gebühr verzögern, haben die Betroffenen noch die Möglichkeit, nach dem Fakultativprotokoll zur Behindertenrechtskonvention ein Individualbeschwerdeverfahren vor dem Ausschuss für Menschen mit Behinderungen anzustrengen. Ein innerstaatlich einklagbares Recht und eine effektive Umsetzung der Verpflichtungen aus Art. 24 der Konvention vermag jedoch auch dieses Verfahren nicht zu ersetzen.
Der Autor Przemyslaw Nick Roguski, Mag. Iur. ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht, Internationales Wirtschaftsrecht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Przemyslaw Roguski, UN-Behindertenrechtskonvention: . In: Legal Tribune Online, 23.12.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2212 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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