Ein halbes Jahr nach den ersten Meldungen zum Organspendeskandal sitzt nun der erste Transplantationsarzt in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt wegen versuchten Totschlags. Den Chef der Organspende-Kommission, Hans Lilie, wundert das gar nicht. Wieso er von der Rücksichtslosigkeit der Ärzte überrascht ist, von neuen Strafnormen aber nichts hält, erklärt er im LTO-Interview.
LTO: Professor Lilie, ich würde gerne mit Ihnen über die strafrechtliche Dimension des Organspendeskandals sprechen.
Lilie: Mich stört schon der Begriff. Einen Organspendeskandal gibt es nicht. Was es gibt, ist ein Allokationsskandal. Es ist zu Manipulationen bei der Vergabe der Organe gekommen, nicht bei der Spende. In der Öffentlichkeit entsteht durch den Begriff ein völlig falsches Bild. Immer wieder höre ich, dass manche meinen, Organe seien für Geld verkauft worden. In keinem der Fälle gibt es aber bisher auch nur einen Anfangsverdacht für einen solchen Organhandel.
LTO: Gut, dann fasse ich es allgemeiner: Der Skandal hat am Freitag seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Der frühere leitende Transplantationsarzt am Uniklinikum Göttingen wurde verhaftet. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt gegen ihn wegen Körperverletzung mit Todesfolge, schwerer Körperverletzung und versuchten Totschlags in neun Fällen. Der Arzt soll falsche Gesundheitsdaten an Eurotransplant gemeldet haben. Hat Sie die Verhaftung überrascht?
Lilie: Nein, das war für mich gar nicht überraschend. Damit habe ich schon lange gerechnet.
LTO: Warum?
Lilie: Weil meine Kollegen bei der Organspende-Kommission und ich uns die Sache von vornherein auch von der strafrechtlichen Seite aus angesehen haben. Manipulationen bei der Vergabe von Organen sind nicht unmittelbar nach dem Transplantationsgesetz strafbewehrt, so dass man auf das allgemeine Strafrecht schauen muss. Wenn ein Arzt seine Patienten kränker macht als sie sind, damit sie auf der Warteliste bevorzugt werden, benachteiligt er gleichzeitig einen anderen, der eigentlich dran gewesen wäre und das Organ nicht bekommt. Das macht er wissentlich und willentlich, zumindest nimmt er aber billigend in Kauf, dass ein anderer eine dringend benötigte Leber nicht bekommt und stirbt.
"Die Nachweisbarkeit ist beim Versuch kein Problem"
LTO: Hätte eine etwaige Anklage nicht mit der Nachweisbarkeit der Kausalitätszusammenhänge zu kämpfen?
Lilie: Das ist nur beim vollendeten Delikt schwierig. Beim Versuch hat der Arzt in dem Zeitpunkt, in dem er seinen eigenen Patienten bevorzugt, dazu angesetzt, einen anderen Menschen zumindest an der Gesundheit zu schädigen oder eben sogar zu töten.
LTO: Muss die Staatsanwaltschaft nicht konkretisieren, zu wessen Lasten die Manipulationen gingen, welcher Patient hätte sterben können? Reicht es aus, auf sämtliche Patienten zu verweisen, die auf der Warteliste vor dem kränker gemachten Patienten standen?
Lilie: In jedem Fall musste wegen der Manipulation ein anderer Patient länger und gegebenenfalls auch vergeblich warten. Damit wurden jedenfalls die Chancen eines anderen Menschen so verschlechtert, dass man sagen muss, dass in der Manipulation ein unmittelbares Ansetzen zu einer Tötungshandlung zu sehen war.
LTO: Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt aber nicht nur wegen versuchten Totschlags, sondern auch wegen Körperverletzung mit Todesfolge und schwerer Körperverletzung. Also auch wegen vollendeter Delikte.
Lilie: Das sind Fälle, bei denen eine Indikation zur Transplantation überhaupt nicht bestanden hat. Die Patienten brauchten also gar keine neue Leber. Das ist tatbestandlich eine schwere Körperverletzung; stirbt der Patient nachweislich wegen der Operation, ist es eine Körperverletzung mit Todesfolge.
"Ich rate davon ab, Verstöße bei der Vergabe von Organen strafrechtlich zu ahnden"
LTO: Göttingen ist nicht das einzige Klinikum, an dem Manipulationen bei der Vergabe von Organen publik geworden waren. Auch Regensburg, München und Leipzig haben wegen ähnlicher Vorgänge Schlagzeilen gemacht. Warum sitzen nicht schon mehr Ärzte in Untersuchungshaft?
Lilie: In Leipzig stehen die Ermittlungen ja erst ganz am Anfang. Über die Verfahren in Regensburg und München weiß ich zu wenig, um das beurteilen zu können.
LTO: Gegenüber der taz äußerten Vertreter der Staatsanwaltschaften München und Regensburg Skepsis, ob überhaupt ein strafrechtlicher Tatbestand erfüllt ist. Sie sprechen von einer Strafbarkeitslücke. Teilen Sie diese Einschätzung?
Lilie: Strafbarkeitslücke halte ich für das falsche Wort. Der Gesetzgeber hat die Richtlinien zur Transplantationsmedizin der Bundesärztekammer bewusst nicht strafbewehrt, weil diese nicht so bestimmt gefasst werden können, dass sie § 1 Strafgesetzbuch entsprechen und man daran unmittelbar strafrechtliche Konsequenzen knüpfen kann. Deshalb würde ich nicht von einer Strafbarkeitslücke sprechen, sondern von einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers.
Ich rate auch nachdrücklich davon ab, Verstöße bei der Vergabe von Organen strafrechtlich zu ahnden. Die Richtlinien müssten dann so genau formuliert werden, dass medizinische Notwendigkeiten kaum noch abgebildet werden könnten. Letztlich muss aber auch ärztliches Ermessen immer eine gewisse Rolle spielen.
"Hätte nie gedacht, dass sich Ärzte so rücksichtslos über die Richtlinien hinwegsetzen"
LTO: Würden Sie sagen, dass die ganze Problematik neu ist und der Gesetzgeber deshalb auch neue Lösungsansätze finden muss?
Lilie: Ich muss sagen, ich persönlich und viele andere, die mit der Transplantationsmedizin und ihrer Kontrolle befasst sind, haben sich nie vorstellen können, dass es Ärzte gibt, die sich so rücksichtslos über die Richtlinien hinwegsetzen. Das versuchen wir für die Zukunft zu verhindern, indem wir die interdisziplinäre Transplantationskonferenz verpflichtend gemacht haben.
LTO: Was genau bedeutet das?
Lilie: Es müssen jetzt immer auch an der Transplantation unbeteiligte Ärzte über die Meldung für die Warteliste bei Eurotransplant mitentscheiden. Für viele Transplantationszentren ist das nichts Neues. Ein Mehr-Augen-Prinzip war dort auch vorher schon Gang und Gebe. Die Allokationsverstöße haben immer da stattgefunden, wo einzelne Personen alleine entscheiden durften.
LTO: Das Gesundheitsministerium hat nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa ein Gutachten in Auftrag gegeben, mit dem geklärt werden soll, inwiefern Straf- und Bußgeldnormen sowie das ärztliche Berufsrecht geändert werden müssen, um Verstöße wirkungsvoll zu sanktionieren. Würden Sie sagen, dass Manipulationen bei der Vergabe von Organen eher mit Aufsichts- und Kontrollmaßnahmen wie der interdisziplinären Transplantationskonferenz verhindert werden können als mit Strafandrohungen?
Lilie: Ja. Viel Strafrecht hilft nicht viel. Ich wäre aber auch sehr glücklich, wenn man sich das Berufsrecht und dort Aspekte wie das Ruhen oder den Entzug der Approbation etwas näher ansähe. Das trifft den Arzt im Einzelfall am Nerv, weil mit dem vorläufigen oder endgültigen Entzug seiner Approbation seine beruflichen Chancen erheblich beeinträchtigt werden können. Wenn der Gesetzgeber da Tatbestände schaffen würde, die das leichter machen, wäre das ein ganz wichtiger Schritt.
LTO: Behält heute ein Arzt, der nicht strafrechtlich verurteilt werden kann, seine Approbation?
Lilie: Das muss die Approbationsbehörde selbständig prüfen. Und die sind leider bislang in der Transplantationsmedizin sehr zurückhaltend. Bei Fällen aus der Drogensubstitution sind die Approbationsbehörden viel schneller mit einer vorläufigen Entziehung dabei.
LTO: Professor Lilie, vielen Dank für das Gespräch.
Prof. Dr. Hans Lilie ist Vorsitzender der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer. Das Gremium kontrolliert die Vermittlung und Vergabe von Organspenden in Deutschland. An der Universität Halle hat Lilie den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung und Medizinrecht inne und ist Geschäftsführender Direktor des Interdisziplinären Wissenschaftlichen Zentrums Medizin-Ethik-Recht.
Das Interview führte Claudia Kornmeier.
Chef der Organspende-Kommission zur U-Haft für Arzt: . In: Legal Tribune Online, 15.01.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7967 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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