EGMR zum Recht auf Selbstbestimmung: Zeugin Jehovas durfte keine Blut­trans­fu­sion bekommen

von Dr. Franziska Kring

17.09.2024

Bei einer Notoperation bekam eine Zeugin Jehovas in Spanien eine Bluttransfusion – trotz entgegenstehender Patientenverfügung. Der EGMR verurteilt Spanien und betont das grundlegende Recht aller Patienten auf Selbstbestimmung. 

Mit Verweis auf die Bibel lehnen die Zeugen Jehovas Bluttransfusionen grundsätzlich ab. So auch die aus Ecuador stammende, aber in Spanien lebende Rosa Pindo Mulla. Dies ist auch in einer Patientenverfügung so festgehalten: Pindo Mulla akzeptiert jede medizinische Behandlung, die nicht mit der Verwendung von Blut verbunden ist. Unter keinen Umständen möchte sie allerdings eine Bluttransfusion, selbst wenn ihr Leben in Gefahr ist. 

Obwohl die Patientenverfügung im offiziellen Register hinterlegt und elektronisch abrufbar ist,  erhielt Pindo Mulla bei einer Notoperation in einem spanischen Krankenhaus eine Bluttransfusion. Die Ärzte hatten zuvor den zuständigen Richter verständigt – und der hatte "alle lebensrettenden Maßnahmen" genehmigt.

Dies verletzte Pindo Mullas Rechte aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), entschied am Dienstag der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, Urt. v. 17.09.2024, Beschwerde-Nr. 15541/20). Konkret sah der EGMR das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK verletzt, das im Lichte der Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK auszulegen sei. In der Folge muss Spanien insgesamt 26.000 Euro Schadensersatz an Pindo Mulla zahlen, 12.000 Euro für immaterielle Schäden sowie 14.000 Euro für die Kosten und Auslagen.

"Ich fühle mich verletzt, gebrochen, tieftraurig und deprimiert"

2018 war Pindo Mulla mit schweren inneren Blutungen in ein Krankenhaus in ihrem Wohnort in Soria eingeliefert worden. Ein Arzt sprach mit ihr über eine mögliche Bluttransfusion, was sie aber ablehnte. Dies wurde auch in einer schriftlichen Erklärung festgehalten, die sowohl Pindo Mulla als auch der Arzt unterschrieben.

Nachdem es ihr immer schlechter ging, wurde sie in ein Krankenhaus in Madrid verlegt, das alternative Behandlungsmethoden zu Bluttransfusionen anbietet. Noch während Pindo Mulla im Krankenwagen war, kontaktierten die Ärzte in Madrid den diensthabenden Richter. Sie wiesen darauf hin, dass Pindo Mulla eine Zeugin Jehovas sei, die mündlich zum Ausdruck gebracht habe, dass sie "jede Art von Behandlungen" ablehne, und dass ihr Zustand bei Ankunft in Madrid sehr instabil sein würde. Nachdem der Richter Stellungnahmen eines Gerichtsmediziners und des örtlichen Staatsanwalts eingeholt hatte, genehmigte er "alle medizinischen oder chirurgischen Maßnahmen, die erforderlich waren, um das Leben der Frau zu retten". 

Als sie in den Operationssaal gebracht wurde, war Pindo Mulla bei vollem Bewusstsein. Dennoch wurden weder sie noch ihr nahestehende Personen über die richterliche Anordnung informiert. Sie bekam drei Transfusionen roter Blutkörperchen. Davon erfuhr sie erst am Tag nach der Operation.

"Ich fühle mich verletzt, gebrochen, tieftraurig und deprimiert", zitiert ihr Anwalt sie bei der mündlichen Verhandlung vor dem EGMR im Januar. Sie habe ihren Willen in verschiedenen offiziellen Dokumenten eindeutig zum Ausdruck gebracht, so Pindo Mulla. Die nationalen Behörden hätten dies aber ignoriert. 

In Spanien durchlief sie erfolglos alle Instanzen bis zum Verfassungsgericht. 2020 reichte sie Individualbeschwerde beim EGMR ein, 2023 gab die zuständige Kammer den Fall an die Große Kammer des EGMR ab. Dort bekam Pindo Mulla jetzt Recht. Der EGMR stellte dabei formal vor allem auf das Recht auf Privat- und Familienleben aus Art. 8 EMRK ab. Die Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK sei bei dessen Auslegung aber zu berücksichtigen. Pindo Mulla hatte sich in ihrer Beschwerde auf beide Menschenrechte gestützt.

Recht auf Selbstbestimmung vs. Recht auf Leben

Der EGMR betonte zunächst, es sei nicht seine Aufgabe, den Gesundheitszustand von Frau Pindo Mulla oder die Notwendigkeit der ärztlichen Behandlung zu beurteilen. Vielmehr komme es darauf an, ob die zuständigen Stellen den Willen der Patientin hinreichend berücksichtigt hätten. Das sei hier nicht der Fall.

Zwar habe der spanische Richter das alleinige Ziel verfolgt, das Leben der Frau zu retten. Dennoch sei das Recht auf Selbstbestimmung eines der grundlegenden Patientenrechte. Eine einwilligungsfähige, erwachsene Patientin könne frei entscheiden, ob sie einen chirurgischen Eingriff oder eine medizinische Behandlung – einschließlich einer Bluttransfusion – akzeptiere. Gleichzeitig müsse man aber sicherstellen, dass die Patientin sich der Tragweite ihrer Einwilligung bzw. Ablehnung bewusst sei.

In einer Notfallsituation müsse eine Abwägung zwischen diesem Recht auf Selbstbestimmung und dem Recht auf Leben erfolgen. Die Entscheidung, eine lebensrettende Behandlung abzulehnen, müsse "klar, spezifisch und unmissverständlich“ sein. Wenn es vernünftige Gründe gebe, an einem dieser Aspekte zu zweifeln, seien die Ärzte verpflichtet, den Willen der Patienten mit "allen zumutbaren Anstrengungen" zu ermitteln. Nur falls dies nicht möglich sei, seien die Ärzte – oder ein Gericht – verpflichtet, die lebensrettenden Maßnahmen zu ergreifen bzw. anzuordnen.

"Staat muss sicherstellen, dass System für Patientenverfügungen auch funktioniert"

Der EGMR richtet auch deutliche Worte an Spanien: Ein Staat, der sich für die Einführung einer Datenbank mit Patientenverfügungen entschieden habe, auf die sich die Patienten verlassen, müsse sicherstellen, dass dieses System auch tatsächlich funktioniert. Das sei hier nicht der Fall gewesen. 

Zudem habe der diensthabende Richter über unvollständige und teilweise auch falsche Informationen verfügt. Dies habe seine Entscheidung maßgeblich beeinflusst. Insbesondere sei die fundamentale Frage, ob Frau Pindo Mulla noch in der Lage sei, selbst zu entscheiden, ausgeklammert worden. Stattdessen sei die Entscheidungsbefugnis auf die behandelnden Ärzte übertragen worden.

Insbesondere die Frage der Entscheidungsfähigkeit hätten die nationalen spanischen Gerichte nicht hinreichend berücksichtigt. Das Berufungsgericht habe zwar vermutet, dass sie entscheidungsfähig war, gleichzeitig aber auch bestätigt, dass der Richter zu Recht die Behandlung genehmigt habe. Ein Widerspruch, den das Gericht nicht aufgeklärt habe.

Zitiervorschlag

EGMR zum Recht auf Selbstbestimmung: . In: Legal Tribune Online, 17.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55434 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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