Mit beachtlichem Wirtschaftswachstum bereitet die Türkei ihren Auftritt auf dem Parkett der westlichen Wirtschaftsmächte vor. Um den Schutz von Menschenrechten scheint sie sich dagegen weniger zu kümmern. Tatsächlich aber führen die Türken bald die Verfassungsbeschwerde ein – und setzen damit ein deutliches Zeichen, das weit mehr ist als bloß Imagepflege, kommentieren Martin Wintermeier und Martin Manzel.
In Deutschland ist es normal, dass jedermann sich mit einer Verfassungsvbeschwerdegegen Eingriffe des Staates in seine verfassungsmäßigen Grundrechte wehren kann. Durch die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte genießt der "Jedermann" diesen Schutz, bisweilen mittelbar sogar im Privatrecht. Anders als man vermuten könnte, ist das jedoch nicht common sense in Europa. So ist beispielsweise den Franzosen das hierzulande verfassungsmäßige Institut der Individualbeschwerde ebenso fremd wie den Italienern.
Die Türkei hat diese Beschwerdemöglichkeit seit ihrem Referendum im Oktober 2010 in der Landesverfassung verankert. Das Ausführungsgesetz zur Verfassungsbeschwerde soll im September 2012 in Kraft treten. Dann wird der Türkische Verfassungsgerichtshof erstmals Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung annehmen.
Die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes in der Türkei
Bis zu diesem Meilenstein für Land, Volk und Verfassung war die Türkei oftmals negativ im öffentlichen Fokus. Aufgrund von Spitzenbeschwerdezahlen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg sah sich die Türkei teils massiver Kritik ausgesetzt. Auch in Deutschland wurde die Türkei nicht selten in Negativrelation mit dem Schlagwort Menschenrechte gebracht. Zahlreiche Auslieferungen wurden abgelehnt, weil die deutschen Gerichte durch die türkische Militärgerichtsbarkeit westliche Grund- und Menschenrechte gefährdet sahen.
Trotz dieses negativen Befundes hat die Türkei tatsächlich bereits 1954 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zugestimmt und diese ratifiziert. Seither bekennt sie sich positiv zum Menschenrechtsschutz. Die Auswirkungen des Beitritts zu diesem völkerrechtlichen Vertrag kamen 1998 mit Einführung der Individualbeschwerde vor dem EGMR voll zum Tragen. Erst seit diesem Zeitpunkt können türkische Bürger die Verletzung von Menschenrechten aus der EMRK rügen.
Die Möglichkeit der nationalen Verfassungsbeschwerde dagegen fehlte in der Türkei bis dato völlig. Dieses Manko auf nationaler Ebene ist mit faktischen und rechtlichen Defiziten verbunden. Allein das Verfahren vor dem EGMR reicht für einen effektiven Rechtsschutz nicht aus.
Für denjenigen, der sich gegen die Verletzung seiner Menschenrechte wehren will, ist die Dauer des Verfahrens oft sehr wichtig. In Straßburg zu klagen aber dauert aufgrund nahezu vollständiger Überlastung des Gerichts bekanntermaßen sehr lange, Rechtsschutz im einstweiligen Verfahren gibt es nicht.
Häufig scheitern Verfahren auch an für den Laien undurchsichtigen Zulässigkeitsvoraussetzungen. Außerdem sind Feststellungsurteile des EGMR im Mitgliedstaat nicht unmittelbar durch nationale Vollstreckungsmaßnahmen durchsetzbar.
Verbessertes Image und mehr Effizienz in Straßburg
Die neue Option, nun in der Türkei individuelle Verfassungsbeschwerden zu erheben, wird daher neben dem sicherlich zu erwartenden Imagegewinn der Türkei bei Juristen aus aller Weltauch dem sonstigen öffentlichen Negativimage der Republik entgegenwirken. Ein verfassungsmäßig garantierter nationaler Rechtsschutz kann auch die anprangernde Wirkung einer Feststellung von Menschenrechtsverletzungen durch den EGMR verhindern.
Internationale Auswirkungen dürfte auch die teilweise Entlastung des Straßburger Gerichts haben. Der EMRK-Rechtsbehelf dürfte wegen verbesserter Effizienz aufgewertet werden, wenn mit den aktuell sehr zahlreichen Beschwerden gegen die Türkei auch ein erheblicher Bearbeitungsaufwand für den EGMR entfällt und die Bearbeitungsdauer von Verfahren verkürzt werden kann.
Ein weiterer großer Vorteil der Einführung der Verfassungsbeschwerde in der Türkei ist die tatsächliche Durchsetzbarkeit der per Urteil festgestellten Verstöße gegen Grundrechte - im Gegensatz zu den Feststellungen des EGMR.
Starke Orientierung an Straßburg zu erwarten
Die neue Beschwerde macht, nach Erschöpfung des nationalen Rechtswegs, die Anrufung des türkischen Verfassungsgerichts nach Art. 148 Türkische Verfassung (TV) möglich, wenn der Beschwerdeführer durch die öffentliche Gewalt in seinen Grundrechten verletzt wurde. Art. 148 TV schränkt die Beschwerde allerdings auf solche Grundrechte ein, die auch in der EMRK enthalten sind.
An dieser Stelle manifestiert sich ein wesentlicher Unterschied zur deutschen Verfassungsbeschwerde. In Deutschland ist beispielsweise die Berufsfreiheit geschützt, in der EMRK ist diese nicht zu finden. Eine Beschwerde wegen deren Verletzung im Wege der Verfassungsbeschwerde ist also ausgeschlossen.
Der EGMR und das deutsche Bundesverfassungsgericht haben, trotz aller Gemeinsamkeiten und gegenseitiger Einflüsse, unterschiedliche Systeme des Grundrechtsschutzes entwickelt. Es ist zu befürchten, dass sich das türkische Verfassungsgericht künftig sehr stark an Europa orientieren und die wünschenswerte gegenseitige Beeinflussung unterschiedlicher dogmatischer Ansätze ausbleiben wird.
Eine erstaunliche Wandlung mit einigen Fragezeichen
Spannend bleibt die Frage, ob das türkische Verfassungsgericht künftig über nicht ausdrücklich erwähnte Menschenrechte, welche der EGMR beispielsweise in Art. 8 EMRK hineinliest, entscheiden wird. Denn nach der Rechtsprechung des EGMR fallen unter den Begriff des Privatlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK nahezu sämtliche Bereiche der freien Persönlichkeitsentfaltung – von sexueller Orientierung über die persönliche Identität bis hin zu Fragen des Aufenthaltsrechts. Ob zukünftig dieser weiten und über den Wortlaut der Norm hinausgehenden Auslegung im Einzelnen gefolgt wird und damit umfassende Persönlichkeitsrechte im Rahmen der türkischen Verfassungsbeschwerde gerügt werden können, bleibt abzuwarten.
Auch wenn die Konvention eine Grundrechtsentwicklung zum Beispiel im Sinne des deutschen Allgemeinen Persönlichkeitsrechts für das türkische Verfassungsgericht grundsätzlich nicht zulässt, ist die Frage nach dessen eigenständiger Entwicklung dogmatischer Ansätze, welche den Bedürfnissen des türkischen Volkes und seiner Kultur angepasst sind, hoch interessant.
Die erstaunliche Wandlung der Türkei ist nicht zu übersehen. Mit der Einführung der Verfassungsbeschwerde ist sie wesentlichen demokratischen Grundgedanken nachgegangen und hat den Status des Bürgers als aktivem Mitgestalter der verfassungsmäßigen Demokratie weiter ausgebaut. Es gelingt ihr mehr und mehr aus eigener Kraft, gerade in rechtlicher Hinsicht an westeuropäische Standards anzuknüpfen. Die erneute klare Positionierung für den Schutz der Menschenrechte ist ein deutliches Zeichen, welches Kontinente übergreifend Beachtung finden sollte.
Martin Wintermeier ist Student der Rechtswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Wirtschaftsrecht und Geistiges Eigentum an der Technischen Universität München (Prof. Dr. Christoph Ann, LL.M. (Duke Univ.)). Grundlage für den Beitrag war sein Vortrag im Rahmen der Deutsch-Türkischen Sommer Akademie in Kusadasi (Türkei), gefördert von der Robert Bosch Stiftung, der Kültür Universitesi Istanbul sowie der Universität Passau.
Martin Manzel leitet das Fachlektorat des DAAD in Istanbul und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit Lehrauftrag an der Kültür Universitesi, Istanbul. Er ist als Rechtsanwalt in Berlin tätig.
Verfassungsbeschwerde in der Türkei: . In: Legal Tribune Online, 31.05.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6294 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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