2/2: Beteiligung von Mitgliedstaaten würde Rechtssicherheit schaffen
Genau in die umgekehrte Richtung weist jedoch Art. 207 Abs. 6 AEUV, der normiert: "Die Ausübung der durch diesen Artikel übertragenen Zuständigkeiten im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik hat keine Auswirkungen auf die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten." Dies spricht dafür, dass durch ein Freihandelsabkommen wie das TTIP strikt nur die Materien, die die EU auch sonst reguliert, vereinheitlicht werden können. Sofern Daseinsfürsorge- und Kulturfragen nicht allein unter Handelsgesichtspunkten relevant werden, ist daher sehr zweifelhaft, ob die EU hier allein ohne die Mitgliedstaaten einen völkerrechtlichen Vertrag schließen könnte.
Diese unsichere bis skeptische Beurteilung der EU-Kompetenzen unterstreicht damit den obigen Befund, dass schon aus Rechtssicherheitsgründen EU und Mitgliedstaaten zwingend gemeinsam im Ratifikationsprozess tätig werden sollten. Möglicherweise lässt dies das TTIP scheitern. Dies könnte freilich auch ohne Beteiligung der Mitgliedstaatsparlamente geschehen. Denn gemäß Art. 207 Abs. 4 AEUV ist für das TTIP im EU-Ministerrat womöglich keine qualifizierte Mehrheit, sondern nur ein einstimmiges Ergebnis ausreichend. Das wäre dann der Fall, wenn das Abkommen auch den "Dienstleistungsverkehr" regelt, was nach den bekannt gewordenen Informationen relativ wahrscheinlich erscheint. Der Kultur-, der Bildungs- und der Gesundheitssektor etwa werden dort auch ausdrücklich genannt.
Die Vorstellung, dass das TTIP aus Kompetenzgründen und nachfolgender nationaler Widerstände in Europa scheitern könnte, werden die einen begrüßen, die anderen dagegen nicht. Ob die Kritik an der Freihandelsidee, die den aktuellen Widerstand gegen das Abkommen zum Teil befeuert, auch berechtigt ist, kann man differenziert beurteilen. Auch bei den ökologischen Fragen lohnt eine differenzierte Beurteilung. Befürchtungen über zu lasche Umweltstandards bestehen je nach Themenbereich beidseits des Atlantiks, auch wenn die Befürchtungen in der EU mehr Bereiche betreffen.
Freihandel als Weg zu hohen öko-sozialen Standards
Übersehen wird in der TTIP-Debatte über öko-soziale Standardverschlechterungen dennoch einiges. Erstens gibt es nicht nur bei EU-Bürgern, sondern auch bei US-Bürgern Befürchtungen. Denn die Standards etwa für Pkw-Abgasgrenzwerte und für die Medikamentenzulassung sind in den USA strenger und nicht lascher als in der EU. Zweitens ist die EU mitnichten der große Umweltvorreiter. Der Klimagasausstoß und der Ressourcenverbrauch etwa sind auch in der EU pro Kopf und Jahr um ein Vielfaches höher als das Niveau, was tragfähig wäre, wenn alle Menschen weltweit und auf Dauer so leben würden. Ruht man sich nach der TTIP-Debatte auf der eigenen vermeintlichen Umweltvorreiterrolle aus, würde der Umweltschutz unterminiert statt gefördert.
Drittens droht die TTIP-Debatte von einer anderen wichtigen Frage abzulenken. Grundsätzlich könnte die Freihandelsidee den globalen ökologischen und sozialen Fortschritt nämlich auch befördern. Dies wäre dann der Fall, wenn parallel zum weltweiten Freihandel auch globale öko-soziale Standards geschaffen würden - und zwar orientiert am höchsten, nicht am niedrigsten Niveau der Freihandelspartner. Allerdings würden die Entwicklungsländer dann finanzielle Unterstützungen der Industriestaaten benötigen, um diese Standards kurzfristig umsetzen zu können.
Der Autor Prof. Dr. Felix Ekardt, LL.M., M.A., Jurist, Philosoph und Soziologe, Universität Rostock und Leiter der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik in Leipzig und Berlin, ist politikberatend zu Nachhaltigkeitsfragen tätig und arbeitet vor allem in den Bereichen deutsches, europäisches und internationales Energie-, Klimaschutz-, Landnutzungs- und Verfassungsrecht sowie transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung.
Felix Ekardt, Europäisch-amerikanisches Freihandelsabkommen: . In: Legal Tribune Online, 21.03.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11412 (abgerufen am: 01.11.2024 )
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