Das GG hat in der Coronakrise Kratzer abbekommen. Aber Rechtsschutz, Föderalismus und Öffentlichkeit funktionieren. Länger als das Virus werden uns die gesellschaftlichen Verwerfungen beschäftigen, meint Thorsten Kingreen.
Wir feiern jedes Jahr den Staat, aber nur bei runden Geburtstagen die Verfassung. Während der 3. Oktober ein gesetzlicher Feiertag ist, ist der 23. Mai ein Tag wie jeder andere. Wir Deutschen sind pragmatisch, im Mai gibt es eben einfach schon zu viele Feiertage. Vielleicht liegt es aber auch an unserer historisch tief verwurzelten Affinität zum Staat.
Am 23. Mai 2019 haben wir uns zwar zu einem großen Fest des Grundgesetzes (GG) zusammengefunden. Es erhielt zum 70. Geburtstag die Lobeshymnen, die es verdient; die Bundesregierung schaltete sogar eine eigene Geburtstagswebsite mit Podcasts, in denen Kolleginnen und Kollegen die einzelnen Grundrechte würdigen. In den vergangenen Wochen haben wir dann aber eine Renaissance des Staates und seiner Verwaltung erlebt, die manchen Podcast zum 71. Geburtstag anders aussehen ließe.
Der R-Faktor der Juristen: das Recht
Der aktive Staat ist zunächst einmal kein Grund zur Aufregung. Unsere Institutionen haben in der akuten Krisensituation funktioniert, sie haben Vertrauen erzeugt, auch weil sie wissenschaftlichen Rat ernst genommen haben. Gute Verwaltung kann Leben retten. Nun hat der Staat aber plötzlich mehr Freunde, als er verkraften kann. Nach den hunderttausenden Urlaubern, die zurück in die Heimat wollten, erreichen ihn nunmehr Hilfegesuche auch aus solchen Kreisen der Gesellschaft, die ihn noch wenige Wochen zuvor wegen zu hoher Steuern und sozialer Freigiebigkeit angegangen waren. Jetzt ist der Staat überall gefordert; er greift so tief ein und leistet so viel wie noch nie.
Für die Verfassung ist der starke Staat eine Herausforderung. Wenn starke Männer mit düsterer Miene apokalyptische Gefahrenszenarien zeichnen und sich dem verängstigten Publikum zugleich als Retter in der Not und mit dickem Geldbeutel inszenieren, ist die Freiheit in Gefahr. Mit der verfassungsrechtlich unterkomplexen Marschroute "Leben und Gesundheit über alles" wurden Freiheitsrechte in einer Weise auf null gestellt, die sich 2019 kein Festredner hätte träumen lassen. Das ist keine grundsätzliche Kritik an Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverboten und Quarantäneanordnungen und auch nicht daran, dass in der ersten Akutphase die politische Beratung ein wenig monodisziplinär ausgerichtet war. Aber auch wir Juristinnen und Juristen haben unseren R-Faktor: das Recht und vor allem das Grundgesetz.
Unbemerkte Gewaltenverschiebung
Nach wie vor sind beispielsweise alle Eingriffsgrundlagen des Infektionsschutzgesetzes nur an "Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider" adressiert. Kann dann trotzdem die gesamte Bevölkerung als Nichtverantwortliche im Sinne des Polizei- und Ordnungsrechts in Anspruch genommen werden, obwohl es an einer individuell zurechenbaren Gefahr fehlt? Angesichts der bislang einmaligen Streubreite und Tiefe der Grundrechtseingriffe ist man kein Ketzer, wenn man hier zumindest eine gesetzliche Grundlage fordert. Die starken Männer aber haben solche Fragen immer wieder als unsolidarische Störung ins gesellschaftliche Off gestellt. Wohl auch deshalb dauerte es quälend lange, bis sich Widerstand rührte gegen ausnahmslose Versammlungsverbote und absurde Hinweise auf doch mögliche Online-Versammlungen. Zu den Gottesdienstverboten hat man von den großen Kirchen bis zum heutigen Tage kaum etwas gehört; sie hatten sich der Allianz der starken Männer gefügt.
Nun kann man über grundrechtliche Abwägungen im Einzelfall immer streiten. Sie erfolgen unter den Bedingungen doppelter Unsicherheit, die erhebliche politische Einschätzungsprärogativen legitimiert. Nach wie vor wissen wir auf der einen Seite über das Virus ebenso wenig wie auf der anderen Seite über die langfristigen gesellschaftlichen Folgen eines wochenlangen Lockdowns und möglicherweise noch vieler Monate andauernder Kontaktbeschränkungen. Daher sind es auch nicht die Grundrechtsbeschränkungen, die am 71. Geburtstag des Grundgesetzes Sorge bereiten, sondern es ist eine von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkte staatsorganisationsrechtliche Gewaltenverschiebung.
Wie der Gesundheitsminister zum Verteidigungsminister im Pandemiefall wird
§ 5 Abs. 2 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) ermächtigt den Bundesminister für Gesundheit nach Ausrufung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite zu einem ganzen Regiment von Anordnungen und Rechtsverordnungen, durch die er alle möglichen parlamentsgesetzlichen Regelungen suspendieren darf. Anknüpfungspunkt der Kritik ist meist Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG, der Ermächtigungen zum Erlass von Rechtsverordnungen nur zulässt, wenn das ermächtigende Gesetz Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmt. Aber dieser Prüfungsmaßstab ist eine pure Verharmlosung. Art. 80 Abs. 1 GG regelt die Anforderungen an Bundesgesetze, die durch Rechtsverordnungen konkretisiert werden. Die hier in Rede stehenden Rechtsverordnungen sollen die Gesetze aber nicht konkretisieren, sondern konterkarieren.
Um diesen Vorgang zu erfassen, muss man die Königsklasse des GG bemühen: das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip, also zwei Staatsfundamentalprinzipien, die auch durch Änderungen des GG nicht beseitigt werden dürfen (Art. 79 Abs. 3 GG). Die rechtsstaatliche Bindung der vollziehenden Gewalt "an Recht und Gesetz" (Art. 20 Abs. 3 GG) gilt selbstverständlich auch für Ministerien. § 5 Abs. 2 IfSG versetzt den Bundesminister für Gesundheit nun aber in die Lage, das Recht und das Gesetz, an das er gebunden ist, durch eigenes Recht zu ersetzen. Damit wird er zu einem Verteidigungsminister im Pandemiefall: Was der Deutsche Bundestag heute beschließt, kann er morgen außer Kraft setzen.
Sternstunde für Verfassung, Gerichte und den Föderalismus
Dennoch hat sich die Verfassung in den letzten Wochen bewährt. Wir haben den Wert einer unabhängigen Gerichtsbarkeit erkannt, die unsinnige Differenzierungen wie die 800qm-Regelung ebenso für rechtswidrig erklärt hat wie ausnahmslose Versammlungsverbote, Freizügigkeitsbeschränkungen und pauschale Quarantäneanordnungen, ohne dabei aber die notwendigen Handlungsspielräume der Exekutive aus den Augen zu verlieren. § 5 Abs. 2 IfSG wird es vor den Gerichten ebenfalls schwer haben.
Auch der Bundesstaat hat während der Öffnungsdebatte eine Sternstunde erlebt: Vor dem Hintergrund der angesprochenen doppelten Unsicherheit und der regional unterschiedlichen Infektionsverläufe sind öffentlich ausgetragene Meinungsverschiedenheiten über das richtige Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit Ausdruck eines lebendigen Föderalismus.
Die Krise zeigt, wer keine Lobby hat
Ist also alles gut? Mitnichten. Die Krise hat jede Menge Probleme an die Oberfläche der Gesellschaft gespült: die erschütternden Arbeitsbedingungen in der Pflege und in Schlachthöfen, die Ungleichheit im Bildungssystem und die Situation von Frauen im wochenlangen Spagat zwischen Home Care, Home Schooling und Home Office. Immerhin zeigt uns die Öffnungsdebatte jetzt schonungslos, wer in diesem Land eine Lobby hat und wer nicht: Es gab einen Autogipfel, aber bislang noch keinen Kultur-, Sozial- oder Bildungsgipfel. Auch manchem Verband fehlt die Sensibilität für die ungleiche Lastenverteilung in der Krise. Wenn etwa der Deutsche Hochschulverband in der Verpflichtung zur Online-Lehre einen verfassungswidrigen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit meint sehen zu müssen, stellt er sich offenbar nicht die Frage, wie dieses Lobbying für eine Gruppe ohne jegliche Gehaltseinschränkungen bei Menschen ankommt, die in Kurzarbeit sind und um ihre Existenz fürchten.
Diese Probleme löst kein starker Staat. Fehlende Wertschätzung und die Unfähigkeit, sich in die Situation anderer Menschen hineinzuversetzen, sind gesellschaftliche Phänomene. Unsere Gesellschaft muss sich daher gerade jetzt ihr Erinnerungsvermögen an Freiheit und Zwischenmenschlichkeit erhalten und wachsam gegenüber der Verstetigung von Freiheitseinschränkungen bleiben: Wir dürfen keine segmentierte Gesellschaft von maskierten Einzelgängern werden, die Gemeinschaft nur noch digitalisiert und distanziert erleben. Die grundgesetzlichen Versprechen des offenen und öffentlichen Meinungsaustausches und die Anerkennung unserer Mitmenschen als Gleiche sind damit aktueller denn je. Daher, trotz Abstandsregeln, dieses Mal besonders innig: Happy Birthday, liebes Grundgesetz!
Der Autor Prof. Dr. Thorsten Kingreen ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg. Für kritische Diskussion des Textes dankt er Marje Mülder und Anna Rambach.
Verfassungstag in der Coronakrise: . In: Legal Tribune Online, 23.05.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41694 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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