Intransparenz, Verurteilungswille und ein faktisches Machtgefälle: Das Strafverfahren braucht Reformen, die an demokratischem Grundverständnis und effektiver Teilhabe der Beschuldigten orientiert sind, meint Gabriele Heinecke.
Enis* ist in Hamburg geboren und aufgewachsen. Seine Mutter hat ihn 11-jährig nach Syrien mitgeschleppt, zum Islamischen Staat (IS). Seit dem 15 Lebensjahr ist er in kurdischen Flüchtlingslagern und Gefängnissen eingesperrt. Im Alter von 20 wird er durch ein Rückführungsprogramm nach Deutschland zurückgebracht, zum Bundesgerichtshof (BGH) geflogen und inhaftiert. Als Kindersoldat soll er den IS unterstützt haben.
Hauptverhandlung vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg: Enis ist aussagebereit. Die Vorsitzende sagt, Enis habe sein Leben jetzt selbst in der Hand, man sei gespannt. Doch dann bestreitet er. Er sei kein Kindersoldat gewesen, vielmehr mit 13 Jahren bei einem Bombenangriff auf einem Marktplatz so schwer verletzt worden, dass er seitdem gar nicht kämpfen könnte. Die Verletzungen sind nachgewiesen. Drei, vier oder mehr Jahre liegen sie zurück.
Was wirklich passiert ist, ist jedoch nicht bekannt. Beweise aus Syrien gibt es nicht. Der Verdacht gründet sich auf Indizien, u.a. auf eine Rückkehrerin in der Rolle als Kronzeugin vom Hörensagen. Sie ist vor Gericht nicht mehr aussagebereit. Ihre Erzählung wird, ohne dass sie hinterfragt werden können, durch Vernehmungsbeamte in das Verfahren eingeführt.
Kein herrschaftsfreier Diskurs
In der Akte gibt es Hinweise für die eine und für die andere Version einer möglichen Wirklichkeit. Generalbundesanwaltschaft sowie Richterinnen und Richter sind sich einig über die Wahl der belastenden Interpretation. Sie können oder wollen nicht verstehen, was der junge Angeklagte zu sagen hat. Was kein Geständnis ist, kann nicht richtig sein.
Die Kommunikation ist schon von der Struktur her schwierig. Kein herrschaftsfreier Diskurs, in dem sich eine angstfreie Kommunikation entwickeln könnte. Kein wirkliches Bemühen um Verständnis, sondern Misstrauen gegenüber dem Angeklagten und der Verteidigung, die mit lästigen Anträgen das Verfahren "verzögert". Anträge, die man sowieso reihenweise ablehnen wird. Dagegen Vertrauen in die Staatsanwaltschaft. Das "Unterbewusstsein" des Gerichts hat sich bereits eine Meinung gebildet. Die vermeintliche Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung findet sich allenfalls auf Papier.
Gerichte blenden Argumente der Verteidigung aus, lassen Alternativhypothesen eines Geschehens in ihren Köpfen erst gar nicht zu. Sie haben gelernt, dass Zweifel mit Mehrarbeit verbunden sind. Und manchmal sogar mit Freispruch, obwohl der Bauch Verurteilung will.
Es ist nicht die Theorie der Strafverteidigung, die in der Praxis weiterhilft, nicht die Beschreibung der Probleme und Grenzen. Auszuloten sind Möglichkeiten, Gerichte von ihrer oft misstrauischen Haltung gegenüber engagierter Strafverteidigung abzubringen, sie vielmehr als Chance zu begreifen. Zu machen scheint das nur mit einem reformierten Strafprozess, der an den Grundsätzen von demokratischem Grundverständnis und effektiver Teilhabe der Beschuldigten orientiert ist.
Effektive Strafverteidigung durch Transparenz der Gerichte
Vorwärtsweisend wäre z.B., wenn Gerichte schon während der Hauptverhandlung über den Stand ihrer – vorläufigen – Meinungsbildung Rechenschaft ablegen müssten. Wenn es einen Rechtsanspruch auf ein offenes, nicht taktisches Feedback durch das Gericht im laufenden Verfahren und so auf effektives rechtliches Gehör geben würde. Damit man als Verteidigung nicht fortwährend im Nebel gerichtlicher Vor-Urteile stochern muss.
Wünschenswert wäre außerdem ein Strafprozess, in dem eine mit guten Argumenten um die Überzeugung des Gerichts kämpfende Verteidigung nicht in einem Beschluss mit dem Satz "Die Gegenvorstellung gibt dem Gericht keine Veranlassung, von seiner Entscheidung abzuweichen" abgewatscht wird. Um damit die Kommunikation komplett zu verweigern und den Angeklagten auf die Revision – in der Regel verbunden mit einer weiteren langen Zeit der U-Haft – zu verweisen. Nicht selten ist es diese reine Ausübung von Macht durch das Gericht, die die Verteidigung sprachlos und ohnmächtig zurücklässt.
Signale an die Öffentlichkeit
Ein stückweit ist es paradox: Das Wort der Verteidigung wird häufig eher in der Öffentlichkeit als von den Gerichten gehört. Keine Frage: Öffentlichkeit kann wichtig für den Ausgang eines Strafverfahrens sein und Verteidigung kann eben auch bedeuten, rechtspolitische Signale zu setzen.
Wenn die Gesetzgebung – nehmen wir z.B. die Betäubungsmittelprohibition – angreifbar ist, wenn Verfassungs- und Bürgerrechte durch staatliche Repression in Frage gestellt werden, muss Verteidigung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln streiten, unter Inanspruchnahme aller Zeit, die dafür notwendig ist. Vor allem dann, wenn nicht hinterfragbare, geheimdienstliche Informationen in eine Hauptverhandlung getragen werden. Verteidigung ist ein Menschenrecht, Aufgabe der Strafverteidigung ist die Durchsetzung dieses Rechts, es steht nicht unter dem Vorbehalt der Billigung eines Gerichts oder sonst irgendeiner Instanz.
Demokratisierung von Ermittlungs- und Strafverfahren
Meine These lautet: Es gibt keine Theorie der Strafverteidigung, die einen Gebrauchswert für die Praxis hat. Und genau deswegen wünsche ich mir eine Theorie und eine Praxis zur Demokratisierung eines transparenteren Ermittlungsverfahrens und Strafprozesses.
Die deutsche Strafprozessordnung ist eine Brutstätte der Perseveranz, die bei der Polizeiarbeit und Polizeizeugen anfängt und die sich darin fortsetzt, dass dieselben Richter, die einen Strafbefehl unterscheiben oder einen Eröffnungsbeschluss erlassen haben, auch das Urteil sprechen. Das ist nicht gut.
Richterinnen und Richter müssen mit der Erkenntnis auf ihr Amt vorbereitet werden, dass es in einem Prozess um Wahrheitssuche geht, die nicht gleichbedeutend mit dem Finden von Wahrheit ist. Sie müssen verinnerlichen, dass es auch für das Gericht nur eine subjektive Wahrheit gibt und eine konstruierte Wirklichkeit, an die es eine Näherung geben kann, die aber eine Konstruktion bleibt, mit der behutsam umzugehen ist.
Erkenntnisse der Aussagepsychologie noch nicht angekommen?
Außerdem wünsche ich mir, dass sich bei Richterinnen und Richtern die Erkenntnis der Aussagepsychologie durchsetzt, wonach Erinnerungen extrem fehleranfällig sind. Dass sie vielfältigen Einflüssen ausgesetzt sind, die sie verändern. Dass der BGH an der Pflicht von Polizeizeugen zur Vorbereitung ihrer gerichtlichen Aussage durch Aktenlektüre festhält, ist nicht nur ein Ärgernis, es ist ein Einfallstor für Fehlurteile.
Es ist ein – hoffentlich bald überwundener – Systemfehler, dass es keine audiovisuelle oder zumindest audiogestützte Dokumentation der Hauptverhandlung gibt. Die Diskussion darüber ist beeindruckend, sie offenbart geradezu absurde Ängste der Staatsanwaltschaft und der Justiz, die lieber an inhaltsleeren Landgerichtsprotokollen festhalten möchte. Und damit Festhalten an einer "freien", aber manchmal eben entfesselten Beweiswürdigung.
Jedenfalls solange die Theorie der Strafverteidigung als Gebrauchswert nicht recht greifbar ist, gilt was der Kollege Wolf-Dieter Reinhard mir Ende der 90er Jahre im Fachanwaltskurs des Republikanischen Anwältinnen- und Anwaltsvereins RAV beigebracht hat: "In der Strafverteidigung ist alles erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist."
*Name geändert
Gabriele Heinecke ist Fachanwältin für Strafrecht und Arbeitsrecht in Hamburg.
Bei dem Text handelt es sich um eine Zusammenfassung eines wissenschaftlichen Beitrags mit Literatur- und Rechtsprechungsbelegen, der in der Zeitschrift "StV – Strafverteidiger", Heft 3, 2024, erschienen ist. Die Zeitschrift wird wie LTO von Wolters Kluwer herausgegeben. Sie ist als Einzelausgabe hier und als Abo hier erhältlich.
Strafverteidigung und die Macht der Gerichte: . In: Legal Tribune Online, 11.03.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54072 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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