Eine neue Wehrpflicht für Männer und Frauen, die nur wenige trifft, verstößt gegen verfassungsrechtliche Vorgaben. Ohne Grundgesetzänderung könnte das sogenannte Schwedische Modell nicht eingeführt werden, analysiert Christian Rath.
Die Bundeswehr hat Personalnot. Ihre derzeitige Sollstärke von 180.000 Soldat:innen erreicht sie nicht. Ende vergangenen Jahres waren mehr als 18.000 Unteroffiziers- und Offiziersposten unbesetzt. Dabei soll die Bundeswehr doch bis 2031 auf 203.000 Soldat:innen anwachsen. Das aber wird schwer angesichts des allgemeinen Fachkräftemangels, der auch Industrie, Verwaltung und Diensleistungsbranche trifft.
Kein Wunder, dass langsam wieder über eine Wehrpflicht diskutiert wird. So sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) im Interview mit der Welt am Sonntag, die Aussetzung der klassischen Wehrpflicht 2011 sei ein Fehler gewesen. Sie nun in alter Form wiedereinzuführen, sei aber schwierig, weshalb er sich auch andere Modelle, etwa das schwedische, anschaue. "Dort werden alle jungen Frauen und Männer gemustert und nur ein ausgewählter Teil von ihnen leistet am Ende den Grundwehrdienst", so Pistorius.
In den Medien wurde dies überwiegend wohlwollend als eine Art Kontakt-Wehrpflicht wahrgenommen. Die jungen Leute sollen einmal im Leben mit der Bundeswehr in Berührung oder gar ins Gespräch kommen, letztlich aber selbst entscheiden, ob sie zur Bundeswehr gehen. So könnten die bestehenden Lücken in der Armee gefüllt werden, vor allem weil ein Teil der Wehrpflichtigen sich dann erfahrungsgemäß für längerfristige Engagements als Zeitsoldat:innen oder Berufsoffizier:innen entscheidet.
Wie das schwedische Modell funktioniert
Nach Darstellung des Wissenschaftlichen Diensts des Bundestags sieht das 2017 eingeführte schwedische Modell so aus: Im Geburtsjahrgang 2000 gab es 93.000 Männer und Frauen. Alle mussten einen webbasierten Fragebogen zu Motivation, Fähigkeiten und Interessen ausfüllen. Auf dieser Grundlage sollten 11.000 Personen zur Musterung geladen werden, um sie insbesondere körperlich zu untersuchen. Für das Jahr 2019 wollte Schweden am Ende 4.000 Rekrut:innen zum Dienst verpflichten – wobei in der Regel nur Männer und Frauen eingezogen wurden, die auch Interesse geäußert hatten. Der Dienst dauert zwölf Monate und wurde 2019 mit umgerechnet 14 Euro pro Tag vergütet (plus Verpflegung und Unterkunft).
In Deutschland werden im Jahr rund 750.000 Kinder geboren (2000: 766.000, 2022: 739.000). Die Zahlen lägen also etwa acht mal so hoch wie in Schweden.
Da es um eine Wehrpflicht geht, müssen nach dem schwedischen Modell auch dann Rekrut:innen eingezogen werden, wenn sich nicht genügend geeignete junge Männer und Frauen interessieren. Es geht eben nicht nur um eine Musterungspflicht, wie manche in Deutschland das Modell derzeit missverstehen. Ob sich genügend Freiwillige finden, hängt dabei von vielen Faktoren ab, etwa von der Länge des Wehrdienstes.
Gesetz müsste Aussetzung der deutschen Wehrpflicht rückgängig machen
Um ein derartiges Modell in Deutschland einzuführen, wäre zunächst ein Gesetz erforderlich, das die 2011 beschlossene Aussetzung der Wehrpflicht rückgängig macht.
Zwar hat sich die Sicherheitslage seit 2011, insbesondere seit der russischen Annexion der Krim 2014 und dem offenen Angriffskrieg auf die Ukraine 2022, vehement verändert. Darauf kommt es aber nicht an. Da die Wehrpflicht in Art. 12a Grundgesetz (GG) weiter vorgesehen ist, kann der Bundestag sie jederzeit wieder einführen.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat 2002 (Urt. v. 20.02.2002, Az.: 2 BvL 5/99) klar gemacht, dass es sich hier um eine freie politische Entscheidung des Parlaments handelt. Hier komme es nur auf "politische Klugheit und ökonomische Zweckmäßigkeit" an. Neben der Sicherheitslage könnten auch viele andere Faktoren eine Rolle spielen, etwa die Nachwuchsgewinnung, Kostenfragen oder die demokratische Kontrolle der Armee.
Keine Rolle spiele dagegen, so das BVerfG in dieser Entscheidung, ausgerechnet das Verhältnismäßigkeitsprinzip, dass doch sonst jedes staatliche Handeln bestimmt. Da die Wehrpflicht im Grundgesetz geregelt ist, komme es nicht darauf an, dass junge Männer nur mit einem Zwangsdienst belastet werden, wenn dies erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne ist.
Probleme mit der Wehrgerechtigkeit
Die Einführung des schwedischen Modells in Deutschland könnte allerdings, wenn es tatsächlich zu Zwangseinberufungen kommt, zu Problemem mit der Wehrgerechtigkeit führen.
Die Wehrgerechtigkeit war auch in den vergangenen zehn Jahren der klassischen Wehrpflicht in Deutschland ein ständiges juristisches Thema. Dazu trug insbesondere 2004 ein Urteil des Verwaltungsgerichts Köln bei, das die Wehrpflicht im Rheinland aussetzte, weil weniger als 50 Prozent eines Jahrgangs Wehr- oder Ersatzdienst leisten.
Anlass waren neue Einberufungsregeln, die seit Juli 2003 in Kraft waren. Demnach werden junge Männer nicht mehr einberufen, wenn sie den Musterungsgrad T3 erhielten, über 23 Jahre alt oder verheiratet waren. Doch der Gesetzgeber reagierte schnell und schrieb die Regeln, die zunächst nur als Verwaltungvorschriften galten, ins Wehrpflichtgesetz.
Beim Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) als Revisionsinstanz (Urt. v. 19.01.2005, Az.: 6 C 9.04) war dann wieder alles in Ordnung: Nun betrug der Einberufungsgrad wieder über 90 Prozent. Das BVerwG stellte zwar fest, dass "möglichst alle verfügbaren Wehrpflichtigen" auch zum Wehrdienst herangezogen werden müssen. Durch eine "sachgerechte Neuregelung der Verfügbarkeitskriterien" habe der Gesetzgeber jeodch für die "Wiederherstellung verfassungsgemäßer Zustände" gesorgt.
Das BVerfG hat sich nicht abschließend zum Maßstab der Wehrgerechtigkeit geäußert, aber durchaus Sympathie für den Ansatz des BVerwG erkennen lassen (Urt. v. 31.07.2009, Az.: 2 BvL 3/09).
Das schwedische Modell, bei dem am Ende nur ein kleiner Teil der Männer und Frauen Dienst leisten muss, wäre mit deutschen verfassungsrechtlichen Vorgaben also schwer vereinbar. Erforderlich wären komplizierte wehrpflichtrechtliche Konstruktionen oder gleich eine Verfassungsänderung, die die neue Form der Wehrpflicht festschreibt.
Wehrpflicht für Frauen
Eine Verfassungsänderung wäre auch aus einen zweiten Grund erforderlich: In Schweden gilt die Wehrpflicht für Männer und Frauen, während im deutschen Grundgesetz vorgesehen ist, dass die Wehrpflicht nur für Männer gilt. Dementsprechend trifft auch die Zivildienstpflicht für Verweigerer nur Männer. Das Grundgesetz spricht ausdrücklich von einem "Ersatzdienst".
Der gesetzlichen Einführung einer Dienstpflicht für Frauen stünde derzeit Art. 12 GG entgegen. In dessen Absatz 2 heißt es: "Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden". Zwar sind Ausnahmen möglich "im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht." Gemeint sind damit aber traditionelle gemeindliche Dienste oder eine Feuerwehrpflicht. Da eine Dienstpflicht für Frauen neu eingeführt würde, wäre sie keine "herkömmliche" Pflicht.
Zulässig wäre eine Wehrpflicht auch für Frauen aber nach einer entsprechenden Grundgesetzänderung. Erforderlich wäre hierfür die übliche Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat.
Es gab zwar bereits Versuche, Art. 12a GG zu verfassungswidrigem Verfassungsrecht zu erklären, so eine Richtervorlage des Amtsgerichts Düsseldorf. Dass die Wehrpflicht auf Männer beschränkt ist, sei ein Verstoß gegen die im Grundgesetz enthaltene Pflicht zur Gleichbehandlung der Geschlechter. Dieser Ansicht schloss sich das BVerfG (Beschl. v. 27.03.2002, Az. 2 BvL 2/02) aber nicht an. Die Wehrpflicht für Männer sei eine in der Verfassung vorgesehene "ranggleiche" Ausnahme von der Geschlechtergleichheit.
Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte 2002 keine Bedenken gegen die Wehrpflicht nur für Männer. Ein junger Mann hatte argumentiert, sie stelle ein zeitweises "Berufsverbot für Männer" dar und führe außerdem dazu, dass er erst neun Monate später Zugang zum Arbeitsmarkt erhalte als junge Frauen. Damit verstoße die Wehrpflicht gegen die EU-Richtlinie zur Gleichbehandlung der Geschlechter im Arbeitsleben. Dieser Argumentation folgte der EuGH (Urt. v. 11.03.2003, Az.: C-186/01) aber nicht. Die EU habe keine Befugnis, grundlegende Fragen der Landesverteidigung zu regeln, erklärten die Richter, solche Fragen seien auch weiterhin Sache der Mitgliedstaaten. 1999 hatte der EuGH allerdings militärische Laufbahnen für Frauen geöffnet, auf freiwilliger Basis.
Eine Grundgesetzänderung, die auch Dienstpflichten für Frauen vorsieht, dürfte die CDU/CSU befürworten. Dort verfolgt man ein eigenes Modell: das verpflichtende Gesellschaftsjahr für alle Schulabgänger:innen. Es ist nicht auf die Bundeswehr fixiert, sondern schließt alle Formen gesellschaftlichen Engagements mit ein.
Pistorius für neue Wehrpflicht: . In: Legal Tribune Online, 27.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53502 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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