Völkerstrafrecht im Ukraine-Krieg: Wann wird ein Zivi­list zum Sol­daten?

Gastbeitrag von Prof. Dr. Christoph Safferling, LL.M. (LSE)

05.03.2022

Auch im Krieg gibt es Regeln – sie sollen Zivilisten schützen und Leid gering halten. Was gilt, wenn sich Zivilisten bewaffnen und töten, was sind Angriffe auf zivile Einrichtungen? Christoph Safferling erläutert das Völkerstrafrecht.

Das humanitäre Völkerrecht ist eine komplexe Materie. Seit der 1. Genfer Konvention aus dem Jahr 1864 versucht es, das Unregelbare zu regeln: Den Krieg. Der Verrohung Einhalt zu gebieten, ist in einem bewaffneten Konflikt vor allem deswegen geradezu aussichtslos, weil hier die menschliche Hemmung schlechthin außer Kraft gesetzt wird, indem das Töten erlaubt wird. Daneben gelten aber Regeln. Die Verbindlichkeit der Kernnormen des humanitären Völkerrechts soll das Völkerstrafrecht gewährleisten. Dafür gilt das Universalitätsprinzip, auch Weltrechtsprinzip genannt, und dafür gibt es seit nunmehr 20 Jahren einen permanenten Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Wer gegen das humanitäre Völkerrecht im Krieg verstößt, kann sich in Den Haag auf der Anklagebank wiederfinden.

Die Genfer Konventionen von 1949 nebst den Zusatzprotokollen von 1977 sind ebenso wie die Haager Landkriegsordnung von 1907 völkergewohnheitsrechtlich anerkannt. Schwere Verstöße werden in Art. 8 des Römischen Statuts des IStGH und in vielen nationalen Gesetzesbüchern, wie etwa in §§ 8-11 des deutschen Völkerstrafgesetzbuchs (VStGB), kriminalisiert.

Welche Regeln gelten im Krieg?

Seit dem Nürnberger Prozess 1945/1946 ist der Angriffskrieg (damals Verbrechen gegen den Frieden genannt) eine Strafnorm. Heute heißt es Verbrechen der Aggression und ist mit einiger Verspätung 2010 ins Römische Statut für den IStGH gelangt. Es wurde in den letzten Tagen viel darüber geschrieben, dass der Tatbestand durch den Überfall Russlands am 24. Februar auf die Ukraine zwar erfüllt wäre, die hohen prozessualen Hürden eine Anklage unwahrscheinlich erscheinen lassen.

Alleine diese Norm thematisiert das sog. ius ad bellum, also die Frage der Kriegsschuld. Kriegsverbrechen beziehen sich allein auf das sog. ius in bello und klammern die Frage der Kriegsschuld gerade aus. Das humanitäre Völkerrecht zu achten haben alle Kriegsparteien, sobald ein bewaffneter Konflikt ausgebrochen ist, unabhängig davon, ob es sich um einen Angriffs- oder einen Verteidigungskrieg handelt. Dieser Gleichlauf ist ein fundamentaler Grundsatz des humanitären Völkerrechts und soll durch Gegenseitigkeit die Einhaltung der Normen garantieren.

Wer ist Zivilist, wer Kombattant?

Das Ziel des humanitären Völkerrechts ist es, Leid im Krieg zu verringern. Das gilt einerseits unter den Angehörigen der Streitkräfte, den sog. Kombattanten. Sie dürfen zwar getötet werden, selbst aber auch töten und verletzen, und im Falle der Gefangennahme nicht für die bloße Teilnahme am Krieg bestraft werden, sondern sind als Kriegsgefangene privilegiert zu behandeln. Andererseits gilt die Maxime der Vermeidung von Leid vor allem auch gegenüber der Zivilbevölkerung. Das gilt im modernen Krieg, der von der Verwendung von Fernwaffen wie Raketen und Artillerie geprägt ist, in besonderem Maße. Zu unterscheiden ist zwischen militärischen und zivilen Objekten. Nur militärische Objekte dürfen angegriffen werden. Zivile Objekte dürfen hingegen niemals das Ziel eines Angriffs sein (vgl. Art. 48 Zusatzprotokoll I der Genfer Konventionen).

Militärische Objekte sind solche, die "auf Grund ihrer Beschaffenheit, ihres Standorts, ihrer Zweckbestimmung oder ihrer Verwendung wirksam zu militärischen Handlungen beitragen und deren gänzliche oder teilweise Zerstörung, deren Inbesitznahme oder Neutralisierung unter den in dem betreffenden Zeitpunkt gegebenen Umständen einen eindeutigen militärischen Vorteil darstellt" (Art. 52 Abs. 2 ZP I). Es kann auch eine vormals zivile Einrichtung, z.B. eine Brauerei, zu einem militärischen Objekt sich wandeln, wenn dort nunmehr Waffen, z.B. sog. Molotow-Cocktails, hergestellt werden. Im Zweifel aber ist von einem zivilen Objekt auszugehen und ein Angriff ist zu unterlassen. Ein Angriff ist selbst dann zu unterlassen, wenn er sich zwar gegen ein militärisches Objekt richtet, die Schäden unter der Zivilbevölkerung aber zu dem erwarteten militärischen Vorteil außer Verhältnis stehen. Diese vage und auch etwas zynische Verhältnismäßigkeitsprüfung ist immerhin eine Mahnung an die Befehlshaber, sich die Angriffe gut zu überlegen.

Wann werden Zivilisten zu Kombattanten, wann zu Tätern?

Wer Kombattant ist, bestimmt letztlich der Staat. Er legt dadurch fest, wer ihn als Organ vertritt. Im Fall eines internationalen bewaffneten Konflikts kommt es dabei auf die Zugehörigkeit zu den Streitkräften an (Art. 43 Abs. 2 ZP 1). Erkennbar muss diese Zugehörigkeit etwa durch eine Uniform oder das offene Tragen von Waffen sein. Soldaten sind - ausgenommen des Sanitäts- und Seelsorgepersonals - Kombattanten, weil sie in die Streitkräfte eingegliedert sind und im Auftrag des Staates unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen. Dem Staat steht es frei, auch paramilitärische Einheiten oder eine "Fremdenlegion" in die eigenen Streitkräfte einzubeziehen (Art. 43 Abs. 3 ZP 1). Wer die Befugnis als Kombattant nicht hat, darf sich an den Kampfhandlungen nicht aktiv beteiligen.

Zivilisten sind hingegen grundsätzlich gegen kriegerische Angriffe geschützt. Im Zweifel muss von einem Zivilisten ausgegangen werden. Die Zivilbevölkerung bleibt auch dann geschützt, wenn sich unter ihr einzelne Personen befinden, die nicht Zivilpersonen sind. Wenn ein Zivilist hingegen selbst an Kämpfen teilnimmt, dann ist das rein völkerstrafrechtlich betrachtet nicht relevant. Aber der Zivilist verliert seinen Schutzstatus und wird zum legitimen Angriffsziel, ohne aber selbst entsprechend als Kombattant geschützt zu sein (etwa als Kriegsgefangener). Der Zivilist, der an Kriegshandlungen teilnimmt, darf aber seinerseits keine Kriegsverbrechen begehen also etwa Zivilisten des Gegners töten oder geschützte Objekte angreifen.

Dürfen Zivilisten im Krieg töten?

Ein Zivilist kann auch, das haben die Nürnberger Prozesse unmissverständlich klar gemacht, Täter eines Kriegsverbrechens sein. Wenn er indes allein militärische Ziele bekämpft, macht er sich nach Völkerstrafrecht nicht strafbar. Allerdings macht er sich möglicherweise nach nationalem Strafrecht strafbar, denn anders als der Soldat hat der Zivilist ja keine Erlaubnis zu töten. Hier könnte aber der Staatsnotstand als Rechtfertigung helfen.

Wenn sich nun aber massenhaft und spontan Zivilisten dem vordringenden Feind in den Weg stellen, dann kann man von einem "levée en masse", von einer Massenmobilmachung, sprechen. In einem solchen Ausnahmefall käme diesen Zivilisten dann doch Kombattantenstatus zu, jedenfalls dann, wenn eine Eingliederung in die Streitkräfte nicht möglich war und die zu den Waffen Greifenden ihrerseits zum Ausdruck bringen, die Grundregeln des humanitären Völkerrechts zu akzeptieren (Art. 4A Nr. 6 Genfer Konvention III). Diese sich erhebende Bevölkerung wäre dann zwar ein legitimes Ziel, Gefangene müssten aber als Kriegsgefangene privilegiert behandelt werden.

Zivilisten als menschliche Schutzschilde?

Neben gezielten Angriffen auf die Zivilbevölkerung und zivile Objekte ist aber auch der Einsatz bestimmter Waffen verboten und strafbewehrt. Das sind solche Waffen, die geeignet sind, überflüssige Verletzungen oder unnötige Leiden zu verursachen (Art. 8 Abs. 2 b (xx) IStGHSt).  

Verboten ist darüber hinaus bereits die Androhung oder Anwendung von Gewalt mit dem hauptsächlichen Ziel, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten. Es ist verboten, Zivilpersonen als Schutzschild für militärische Ziele zu missbrauchen oder die Bewegungen der Zivilbevölkerung so zu lenken, dass sie militärische Ziele vor Angriffen abschirmen oder Kriegshandlungen decken (Art. 8 Abs. 2 b (xxiii) IStGHSt). Umgekehrt ist Heimtücke als Kriegstaktik verboten (Art. 37 ZP I), d.h. die weiße Flagge, militärische Abzeichen oder Uniformen des Gegners sowie Schutzzeichen der Genfer Abkommen dürfen nicht missbraucht werden (Art. 8 Abs. 2 b (vii) IStGHSt).

Einen sauberen Krieg gibt es nicht. Immer leiden Zivilisten, die unschuldig in die Frontlinie geraten. Wenn aber Angriffe auf Zivilisten zur Kriegstaktik erhoben werden, dann muss mit lauter Stimme an das Völkerstrafrecht erinnert werden. Dann handelt es sich auch nicht mehr nur um einzelne Verfehlungen gegen die Regeln des humanitären Völkerrechts, sondern um Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Seit Nürnberg sind die Normen bekannt, nun gibt es auch die Institutionen für die Strafverfolgung national wie international. Wir müssen sie nutzen.

Der Autor Prof. Dr. Christoph Safferling ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht und leitet die International Criminal Law Research Unit (ICLU) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er ist einer der Vizepräsidenten der Internationalen Akademie Nürnberger Prinzipien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Bereich des Völkerstrafrechts und der juristischen Zeitgeschichte.

Zitiervorschlag

Völkerstrafrecht im Ukraine-Krieg: . In: Legal Tribune Online, 05.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47733 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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