2/2: Die Praxis beim BGH
Wenn das Berufungsgericht die Revision nicht zulässt, muss der BGH die Zulassung auf die Beschwerde der unterlegenen Partei selbst prüfen (§ 544 ZPO). Nach den Zugangsbeschränkungen des § 543 Abs. 2 ZPO muss die Sache von grundsätzlicher Bedeutung oder eine Entscheidung des BGH nötig sein, um das Recht fortzubilden oder eine einheitliche Rechtsprechung zu sichern.
Die Bundesrichter - und die Rechtsanwälte beim höchsten deutschen Zivilgericht – wenden einen großen Teil ihrer Arbeitskraft für diese formale Prüfung von Nichtzulassungsbeschwerden auf, die letztlich nicht der Rechtsvereinheitlichung und Rechtsfortbildung zugutekommen.
Die Quote der Zulassung von Revisionen durch den BGH ist – auch wenn sie in letzter Zeit etwas gestiegen ist – erschreckend gering. Die weitaus meisten Nichtzulassungsbeschwerden enden mit einem formelhaften Beschluss: "Die Nichtzulassungsbeschwerde wird zurückgewiesen. Von der Begründung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist (§ 544 Abs. 4 Satz 2 ZPO)".
Die ZPO gestattet dieses Verfahren, auch wenn es nach der Vorstellung des Gesetzgebers sicher nicht der Regelfall werden sollte.
Aufwändige Verfahrensrügen im Vorverfahren
Die Mehrbelastung der Bundesrichter wie auch der Rechtsanwälte beim BGH resultiert nicht nur daraus, dass gegenüber der früheren Rechtslage (Streitwertrevision) mit dem Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren ein Verfahrensschritt hinzugekommen ist. Es geht vielmehr zudem fast immer mindestens auch um Verfahrensrügen, zum großen Teil mit verfassungsrechtlichem Bezug.
Angesichts der unscharfen Abgrenzungskriterien der Zulassungsvoraussetzungen und der engen Zulassungspraxis des höchsten deutschen Zivilgerichts- nur diejenigen Zulassungsvoraussetzungen, welche die BGH-Anwälte in den Beschwerdeschriftsätzen begründet darlegen, werden einer Prüfung unterzogen - sichern sich die Rechtsanwälte beim BGH häufig zusätzlich ab durch Verfahrensrügen, insbesondere die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs durch das Berufungsgericht (Art. 103 GG).
Sie wollen damit über einfach-rechtliche, nicht revisible Rechtsfehler des Berufungsgerichts hinaus verfassungsrechtlich relevante Verstöße aufdecken. Solche führen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nämlich zwingend zur Zulassung der Revision.
Ihre Prüfung erfordert aber vom Bundesrichter eine penible Durcharbeitung der Gerichtsakte auch unter dem Gesichtspunkt verfassungsrechtlicher Erwägungen, um anhand des Vortrags in der Nichtzulassungsbeschwerde mögliche Verletzungen rechtlichen Gehörs aufzuspüren und im Anschluss daran deren Relevanz für das Endergebnis der Entscheidung zu untersuchen. Das führt zu einer spürbaren Mehrarbeit im Zusammenhang mit der eigentlich als Vorfrage gedachten Prüfung der Zulassungsgründe.
Mehr Revision zulassen, in allen Instanzen
Dieser erhebliche Aufwand sollte besser für die Prüfung rechtsgrundsätzlicher Fragen des materiellen Zivilrechts und des Prozessrechts aufgewendet werden. Es ist zu befürchten, dass überlastete Richter bei dieser Situation im Zweifel immer häufiger davon Gebrauch machen, die Nichtzulassungsbeschwerde ohne Begründung zu verwerfen (zulässig nach § 544 Abs. 4 ZPO). Eine solche Handhabung des Gesetzes ist aber sicherlich nicht im Sinne einer Sicherung und Vereinheitlichung der Rechtsprechung.
Bei den Prozessparteien stoßen die lapidaren, begründungslosen Entscheidungen auf Unverständnis und fördern die Justizverdrossenheit. Die Prozessbeteiligten haben dann häufig den Eindruck, ihre Sache sei nicht wirklich ernsthaft geprüft worden. Von den intern oft aufwändigen Voten der Berichterstatter erfahren sie nichts. Die Beratung der Richter ist bekanntlich – anders als in der Schweiz – geheim.
Verbreitete Unzufriedenheit mit den begründungslosen Zurückweisungen hat zur Folge, dass immer mehr Prozessparteien auf außergerichtliche Streitlösungsmodelle ausweichen.
Wenn der BGH im Wettstreit mit außergerichtlichen Streitlösungen nicht unterliegen und weiterhin seiner wichtigen Aufgabe zur Rechtsvereinheitlichung und Rechtsfortbildung im gebotenen Umfang nachkommen soll, müssen auf allen Ebenen Konsequenzen gezogen werden: Die Berufungsgerichte sollten häufiger kritisch prüfen, ob und wann - entgegen der gegenwärtig überwiegenden, pauschalen Ablehnung - eine Zulassung der Revision sinnvoll und geboten ist. Der BGH muss seine überaus strenge und restriktive Zulassungspraxis - im Rahmen seiner durch die Personalausstattung gezogenen Belastungsgrenzen – überdenken und sich wichtigen Sachfragen widmen. Nur dann kann er seinen zentralen Aufgaben nachkommen: Gerechte Entscheidung des Einzelfalls, Stiftung von Rechtsfrieden anstelle von Justizverdrossenheit und Vereinheitlichung und Fortbildung des Rechts.
Der Autor Prof. Dr. Ekkehart Reinelt ist Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof.
Revision im Zivilprozess: . In: Legal Tribune Online, 20.10.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17269 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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