Ohne schlüssige Belege verdächtigte die Süddeutsche Zeitung ein Rammstein-Bandmitglied eines sexuellen Übergriffs, urteilte das OLG Hamburg. Es beanstandet Fehler, die auch in einem von Till Lindemann geführten Verfahren relevant werden.
Der Rammstein-Musiker Christoph Schneider ist auch in zweiter Instanz erfolgreich gegen einen SZ-Artikel vorgegangen, der ihn eines sexuellen Übergriffs vor über 25 Jahren verdächtigte. Das Hanseatische Oberlandesgericht (OLG) wies die Berufung der SZ gegen ein Urteil des Landgerichts Hamburg zurück (Urt. v. 09.07.2024, Az. 7 U 53/23). Die Zeitung habe die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung missachtet, so das OLG im Eilverfahren.
Die SZ hatte Mitte Juli 2023 über die Übernachtung einer Frau in einem Hotel mit Bandmitgliedern von Rammstein im Jahre 1996 berichtet. Die im Artikel Sybille Herder genannte Frau erzählte, dass sie nach einem Konzert in Gera mit dem Rammstein-Keyboarder "Flake" (Christian Lorenz) ins Gespräch gekommen sei und später an einer Party im Hotel-Schwimmbad teilgenommen habe. Mehrere Frauen und die Rammsteinmitglieder Christian Lorenz, Till Lindemann und Christoph Schneider seien später auf ein Hotelzimmer gegangen. Dann habe ihre Erinnerung ausgesetzt – ein Filmriss. Als Nächstes erinnere sie sich daran, morgens nackt auf dem Boden gelegen zu haben, wobei sich ihr Unterleib angefühlt habe, "als wäre er zerfetzt", so die Frau in dem Bericht.
Die SZ zitiert die Frau weiter mit der Aussage, sie mache Unsinn, wenn sie getrunken habe, aber sie erinnere sich an allen Unsinn. Ihre Schlussfolgerung laut des Artikels: "Da muss etwas passiert sein." Einen solchen Blackout habe sie niemals sonst gehabt.
Neben Till Lindemann erwirkte auch Rammstein-Schlagzeuger Christoph Schneider, vertreten durch Lichte Rechtsanwälte (Sebastian Ott) vor dem LG Hamburg eine einstweilige Verfügung gegen den Bericht. LTO berichtete. Nach erfolglosem Widerspruch zog die SZ gegen das Urteil des LG in Berufung vor das OLG, doch ohne Erfolg:
"Nicht der Schlagzeuger von Reinhard May"
Die SZ argumentierte vor Gericht, die Voraussetzungen der Verdachtsberichterstattung müssten gar nicht eingehalten werden, da Christoph Schneider im Bericht selbst gar nicht verdächtigt werde. Es sei nur darum gegangen, darzustellen, dass auch Schneider auf der Party dabei war. "Er ist ja nicht der Schlagzeuger von Reinhard May (…). Wenn es eine solche Party gibt und er daran teilnimmt, muss er identifizierende Berichterstattung hinnehmen", argumentierte SZ-Rechtsanwalt Dr. Martin Schippan (Lausen Rechtsanwälte) in der mündlichen Verhandlung am 9. Juli.
Zudem sei die SZ in der Zwickmühle gewesen: Hätte man offengelassen, wer das weitere Rammstein-Mitglied vor Ort war, wären Mitglieder der Band mit dem Vorfall in Verbindung gebracht worden, die damit nichts zu tun hatten. "Dann hätten wir sechs Abmahnungen bekommen", so Schippan. Dem pflichtete die anwesende SZ-Journalistin Lena Kampf bei. "Wenn Schneider nicht genannt würde, fällt doch der Verdacht auf alle anderen", schilderte sie das Dilemma aus Sicht der SZ.
Zitierung der Stellungnahme geht nach hinten los
Doch den Pressesenat des OLG Hamburg überzeugte dies nicht. Vor allem wurde der SZ die Stellungnahme von Christoph Schneider zum Verhängnis, die im Beitrag veröffentlicht wurde. In dieser stritt Schneider den Vorfall ab. Schon in der mündlichen Verhandlung hatte die Senatsvorsitzende Simone Käfer deutlich gemacht, dass es widersprüchlich sei, im Bericht eine Stellungnahme zu Vorwürfen zu veröffentlichen und andererseits zu meinen, die Person würde im Bericht gar nicht verdächtigt.
SZ-Vertreter Schippan zeigte sich davon irritiert: "In der Konsequenz bedeutet dies doch, dass man das Dementi von Schneider besser herausgelassen hätte", so Schippan. "In der Tat. Das war der Knaller", so Käfers Antwort. Damit machte sie deutlich, dass sich jedwede Zweifel des Gerichts, ob die SZ Schneider im Bericht verdächtigt, mit der Zitierung seiner Stellungnahme erübrigten. "Das wird in der Journalistenschule anders gelernt", entgegnete Schippan erstaunt.
Ausweg: Fehlenden Verdacht klarstellen
Widerspricht die OLG-Entscheidung also der journalistischen Pflicht, Stellungnahmen einzuholen und zu verarbeiten? Wohl kaum: Dem OLG ging es hier nur um die Vorfrage, ob die SZ überhaupt einen Verdacht erweckt hat. In den Augen der Leser ist evident, dass eine zum Vorwurf zu Wort kommende Person auch verdächtigt wird. Warum sollte sie sonst befragt werden?
Entscheidet sich ein Medium, einen Verdacht zu verbreiten, muss selbstverständlich auch nach Auffassung des OLG Hamburg eine Stellungnahme eingeholt werden. Medien können sich aber nicht damit herausreden, es werde gar kein Verdacht aufgestellt, wenn gleichzeitig eine Person zum Verdachtsvorwurf im Bericht befragt wird.
Die Senatsvorsitzende Käfer zeigte der SZ dann einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma: im Bericht selbst klarstellen, dass der Verdacht sich gerade nicht gegen Christoph Schneider richtet, wobei sie gleichzeitig klarmachte, dass das Gericht nicht dafür da sei, Formulierungsvorschläge zu liefern.
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Schneider "ausgesprochene Nebenfigur"
Das OLG kommt also zu dem Ergebnis, dass die SZ durch mehrere Passagen den Verdacht aufstellte, dass Schneider an einem sexuellen Übergriff beteiligt gewesen sei.
Eine solche Verdachtserweckung ist nur zulässig, wenn die strengen Voraussetzungen für eine Verdachtsberichterstattung eingehalten werden. Hierzu gehört ein Mindestbestand an Beweistatsachen, der es rechtfertigt, trotz fehlender Sicherheit über den Verdacht zu berichten. Außerdem muss die Berichterstattung ausgewogen sein, Entlastendes muss berücksichtigt werden und die Stellungnahme muss zutreffend wiedergegeben werden. Eine identifizierende Verdachtsberichterstattung kommt darüber hinaus nur in Betracht, wenn das öffentliche Interesse gegenüber dem Persönlichkeitsrecht in Form der Unschuldsvermutung überwiegt.
Nach Auffassung des OLG Hamburg fehlte es bereits eindeutig am Mindestbestand an Beweistatsachen. In den Schilderungen von Sybille Herder in ihrer eidesstattlichen Versicherung sei Schneider eine "ausgesprochene Nebenfigur" gewesen. Tatsächlich habe diese "eher Lindemann selbst im Verdacht", heißt es im Urteil des OLG. Nicht einmal ihre eidesstattliche Versicherung stütze daher einen Verdacht gegen Schneider.
OLG: SZ gibt Rechercheergebnisse nicht richtig wieder
Hinzu kommt laut dem Urteil, dass der SZ-Artikel Entlastendes für Schneider nicht berücksichtige. So enthalte die Berichterstattung den Lesern vor, dass Herder selbst damals Zweifel an einem sexuellen Übergriff hatte. Herder wird mit der Aussage zitiert, "Da muss etwas passiert sein", und dass sie "seinerzeit überzeugt gewesen sei, dass man ihr etwas angetan habe". Die Leser würden hingegen nicht erfahren, dass Herder damals Zweifel an einem sexuellen Übergriff hatte. So schildere sie in ihrer eidesstattlichen Versicherung, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass "eine Band, die es nicht nötig hat, jemanden zum Sex zu zwingen, auf derlei Mittel zurückgreift".
Außerdem lasse die SZ außen vor, dass Herder damals nicht zur Polizei ging. Weiter kritisiert das Gericht, dass die Reaktion eines Strafrechtlers, den Herder damals konsultierte, von der SZ ungenau wiedergegeben werde. Laut Herders eidesstattlicher Versicherung fragte er sie damals nach "dokumentierten Beweisen". Doch diese Passage lasse die SZ im Bericht weg und beschränke die Wiedergabe der Aussage des Anwalts darauf, dass Herder lieber abwarten solle, bis es "woanders an die Öffentlichkeit" kommt. Durch die Weglassung der Frage nach den "dokumentierten Beweisen" werde im Artikel nicht hinreichend deutlich, dass es solche "dokumentierten Beweise" tatsächlich gar nicht gebe.
Schließlich werde die Stellungnahme von Schneiders Anwälten auch von der SZ nicht hinreichend präzise wiedergegeben. Schneider habe sich darin eindeutig und konkret zu Herders Fall geäußert. Er habe den Vorwurf, sexuelle Handlungen an ihr begangen zu haben, obwohl sie nicht bei Bewusstsein war, konkret abgestritten. Im SZ-Artikel werde Schneiders Stellungnahme darauf reduziert, dass er in Bezug auf Frauen ("an Frauen") allgemein den Vorwurf eines sexuellen Übergriffs abstreitet. Dadurch könne der Leser den Eindruck gewinnen, Schneider würde ausweichend antworten, so das OLG.
Insgesamt gebe die SZ die Ergebnisse ihrer Recherchen nicht exakt wieder, so das Urteil. Auch in der mündlichen Verhandlung fand die Senatsvorsitzende Käfer deutliche Worte: Es handle sich um "offensichtlich rechtswidrige Verdachtsberichterstattung". Die SZ hat die dem Urteil zugrunde liegende einstweilige Verfügung inzwischen nach LTO-Informationen in einer Abschlusserklärung anerkannt, so dass das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.
Was gilt für Till Lindemann?
Schneiders Erfolg vor Gericht stellt die Medien vor ein grundsätzliches Problem. Das OLG erkennt zwar an, dass trotz des langen Zeitablaufs auch an den geschilderten Vorwürfen von Herder aus dem Jahr 1996 in Gera ein “ganz erhebliches öffentliches Interesse” bestehe. Dies begründet es mit den "Praktiken des Sängers", also mit Till Lindemann. Insofern sei es von großem öffentlichem Interesse, ob es in der Band Rammstein und/oder deren Umfeld schon früher zum Einsatz von K.O.-Tropfen o.Ä. im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch gekommen sein könnte.
Das OLG selbst hat jedoch bereits die Verbreitung des aktuellen Verdachts, Lindemann könnte K.O.-Tropfen oder Drogen eingesetzt haben, um Frauen sexuell gefügig zu machen, erst jüngst ebenfalls wegen eines fehlenden Mindestbestands an Beweistatsachen untersagt.
Von daher stellt sich die Frage, wie und ob überhaupt Medien über die Vorwürfe von Sybille Herder aus dem Jahr 1996 in zulässiger Weise berichtet können.
Aufschluss hierüber könnte das von Lindemann gegen die SZ wegen desselben Artikels geführte Verfahren geben. Auch hier ist die SZ in Berufung gegangen, nachdem Lindemann vor dem LG Hamburg erfolgreich war. Insofern wird interessant, ob das OLG auch im Hinblick auf Lindemann einen Mindestbestand an Beweistatsachen ablehnt, obwohl Herder diesen laut Gericht “eher” im Verdacht hatte. Aber kann das reichen? Verneint das OLG hingegen auch in Bezug auf Lindemann hinreichende Beweistatsachen für eine Verdachtsberichterstattung, dürfte Medien Sybille Herders konkrete Geschichte so gar nicht aufgreifen. Dies stünde dann jedenfalls in einem Spannungsverhältnis zur Feststellung des OLG, wonach ein "ganz erhebliches öffentliche Interesse" an den Vorwürfen aus dem Jahre 1996 bestehe.
So oder so dürfte aber auch im Fall Lindemann die Berufung der SZ im Ergebnis wenig Chancen haben. Denn dass entlastende Elemente nicht in die Berichterstattung eingeflossen sind und jedenfalls deswegen die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung nicht eingehalten wurden, gilt nicht nur für Christoph Schneider, sondern auch für Till Lindemann. Laut der Pressestelle des Gerichts steht ein Verhandlungstermin für dieses Verfahren bislang noch nicht fest.
Süddeutsche Zeitung verliert gegen Rammstein-Schlagzeuger: . In: Legal Tribune Online, 27.08.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55278 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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