Monatelang überwachte die Polizei den Presseanschluss der "Letzten Generation". Dagegen haben betroffene Journalisten Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie kritisieren eine Schwachstelle der Justiz – und könnten eine große Frage nach Karlsruhe tragen.
"Presse der Letzten Generation hier" – "Hallo, Jörg Poppendieck hier, von der ARD" …. – "Ich sehe auf jeden Fall, dass Menschen zum Beispiel am Ernst-Reuter-Platz gerade noch sind, die noch nicht in Gewahrsam genommen wurden…" So beginnt das Telefonat eines Reporters aus dem Frühjahr 2023. Er berichtete über Protestaktionen der Aktivistengruppe in Berlin. Nachlesen kann man das wortwörtlich, weil die bayerische Polizei es aufgezeichnet hat. Sie überwachte über Monate hinweg von November 2022 bis April 2023 heimlich den Berliner Festnetzanschluss des Pressetelefons der "Letzten Generation".
Angeordnet hatte die Überwachung die Generalstaatsanwaltschaft München, sie ermittelte gegen mehrere Personen der Gruppierung wegen der Bildung einer "kriminellen Vereinigung" im Sinne des § 129 StGB. Es handelt sich um eine seit langem umstrittene Vorschrift, die bei einem Anfangsverdacht weitreichende und tiefe Grundrechtseingriffe durch Ermittlungsmaßnahmen bis hin zur Telekommunikationsüberwachung (§ 100a Strafprozessordnung(StPO)) erlaubt.
Solche Maßnahmen müssen gerichtlich überprüft und gebilligt werden. Ein Ermittlungsrichter beim Amtsgericht München hatte die Maßnahme am 13. Oktober 2022 abgesegnet und am 3. November nachgebessert – allerdings ohne große Ausführungen zur Grundrechtsabwägung zu machen. In dem einen Beschluss, der mittlerweile im Netz veröffentlicht wurde, heißt es nur, die Überwachung sei erforderlich und unentbehrlich. Außerdem verhalte sich die Gruppe sehr konspirativ, man wolle mit der Maßnahme ihre Strukturen weiter aufklären.
Der ganze Vorgang, der zur Überwachung führte und der eine ganze Reihe spannender und neuer verfassungsrechtlicher Fragen aufwirft, hat nun das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erreicht. Bereits am Freitag hatte die NGO Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) gemeinsam mit Reporter ohne Grenzen (RSF) und zwei Journalisten Verfassungsbeschwerde erhoben, wie am Mittwoch nun bekannt wurde. Die 150-seitigen Beschwerden liegen LTO vor.
Richterliche Begründung zur Verhältnismäßigkeit nachgeschoben
Abgehört worden sein sollen mehr als 170 Journalistinnen und Journalisten. Beschwerdeführer in Karlsruhe sind die zwei von der Abhörmaßnahme betroffenen Journalisten Jörg Poppendieck (rbb) und Jan Heidtmann (SZ). Ihre Beschwerden gegen den Beschluss des Amtsgerichts München hatte das Landgericht (LG) München I im Juli 2024 verworfen und die mehrmonatige Abhörmaßnahme für verhältnismäßig erklärt.
Mit der Verfassungsbeschwerde wollen sie die grundrechtlichen Grenzen für das Abhören von Pressetelefonen durch das BVerfG klären lassen. Es geht außerdem um die Frage, ob Ermittlungsrichterinnen und – richter grundrechtliche Abwägungen bereits bei der Anordnung von Ermittlungsmaßnahmen ausdrücklich in den Beschluss aufnehmen müssen oder ob auch noch ein Nachschieben der Gründe genügt. Der Münchner Ermittlungsrichter hatte einige Monate später noch einmal Erwägungen nachgelegt.
Das LG München I hatte die Überwachung für rechtmäßig gehalten, denn das Gesetz erlaubt auch Überwachungsmaßnahmen gegen Journalisten. Als Berufsgeheimnisträger sind sie aber besonders geschützt. Dieser Status ist nach § 160a Abs 2 StPO "im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit besonders zu berücksichtigen" – ein Aspekt, den das LG München I entsprechend gewürdigt haben will. Es argumentiert, zum einen sei die strafrechtliche Relevanz der Tätigkeit der "Letzten Generation" für Medienvertreter kein Geheimnis gewesen. Eine Abschreckungswirkung sei deshalb nicht entstanden, denn Pressevertreter hätten gewusst, dass sie es nicht "mit gänzlich unverdächtigen Informanten" zu tun gehabt hätten. Zum anderen seien die Grundrechtseingriffe durch die effektive Verfolgung einer schwerwiegenden Straftat gerechtfertigt.
Die nur knappe Erwähnung von Verhältnismäßigkeitserwägungen durch den Ermittlungsrichter des AG beanstandete das LG dabei nicht bzw. sieht "einzelne Defizite" als geheilt an. Ob die heilende Wirkung durch einen späteren Beschluss des Ermittlungsrichters zu den Überwachungsmaßnahmen im November 2023 oder sogar erst durch das LG selbst im Juli 2024 eingetreten ist, das lässt das LG offen. So oder so: In jedem Fall liefen die heimlichen Überwachungsmaßnahmen fast ein Jahr lang, bis eine ausreichende Begründung der Verhältnismäßigkeit durch ein Gericht erfolgte.
Die Richterkontrolle als Schwachstelle im System?
Die richterliche Kontrolle solcher heimlichen Maßnahmen ist in einem demokratischen Rechtsstaat ein ganz wesentlicher Schritt. Die Verfassungsbeschwerde wirft die Frage auf, wie griffig diese Rolle durch Ermittlungsrichter ausgefüllt wird und ob sie per Gesetz dazu stärker verpflichtet werden sollten.
"Schon vor über zwanzig Jahren kamen Studien zum Ergebnis, dass bei der Begründung dieser ermittlungsrechtlichen Beschlüsse rechtsstaatlicher Anspruch und die gelebte Praxis häufig auseinanderklaffen", sagt Benjamin Lück, Jurist und Verfahrenskoordinator bei der GFF gegenüber LTO am Mittwoch.
Er verweist auf die auch in der Verfassungsbeschwerde zitierten Untersuchungen von Strafrechtswissenschaftlern am Max-Planck-Institut Freiburg. Sie stellten fest, die Begründungen der Ermittlungsrichter seien danach "mehrheitlich unvollständig" gewesen, stünden "auffällig häufig in Abhängigkeit vom staatsanwaltschaftlichen Antrag oder gar der polizeilichen Anregung", gingen nur "in der Minderheit [...] auf den Einzelfall ein" oder ordneten die Überwachung "fast formelhaft" an.
Für die Beschwerden gegen die Münchner Überwachungsanordnung war das LG die letzte Instanz. Es ließ sich nun nur noch das BVerfG einschalten, das spezifisch über Grundrechtsverletzungen entscheidet. Gleichzeitig mit RSF, GFF und den beiden Beschwerdeführern erhebt auch der Bayerische Journalisten-Verband (BJV) mit einem seiner Mitglieder, vertreten von der Kanzlei Jun, Verfassungsbeschwerde gegen die Abhörmaßnahmen.
Warum das BVerfG auch zur Einstufung "kriminelle Vereinigung" entscheiden könnte
Im Frühjahr 2023 kam es zu einer ganzen Reihe von Maßnahmen der Polizei und Staatsanwaltschaft in Bayern. So durchsuchten Beamtinnen und Beamte bundesweit Wohnungen und Objekte von Mitgliedern, schalteten die Website der "Letzten Generation" ab, inklusive vorverurteilendem Warnhinweis: alles Maßnahmen, für die es einen richterlichen Beschluss brauchte. Allen diesen Gerichtsentscheidungen, die die Maßnahmen gebilligt haben, ist der Verdacht vorangestellt, dass es sich bei der Letzten Generation um eine kriminelle Vereinigung im Sinne des § 129 Strafgesetzbuch (StGB) handelt.
Es ist eine Rechtsfrage, die bisher noch nicht von einem Gericht final geklärt ist. Staatsanwaltschaften, Gerichte, Rechtswissenschaftler ringen um eine Einschätzung. Zuletzt haben zwei Staatsanwaltschaften mit dieser Begründung Anklage gegen Aktivisten der "Letzten Generation" erhoben, so im Mai 2024 in Neuruppin und Juni 2024 in Flensburg. Dort könnten Gerichte zum ersten Mal Urteile zur Frage nach der "Letzten Generation" als "kriminelle Vereinigung" treffen. Die Generalstaatsanwaltschaft München ermittelt noch.
Die Verfassungsbeschwerde trägt diese Rechtsfrage auch zum Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe. Denn für die Verhältnismäßigkeitsprüfung spiele es eine Rolle, ob der Verdacht einer "kriminellen Vereinigung" begründet sei oder nicht, so GFF-Jurist Lück. Denn das entscheidet auch darüber, welches gewichtige öffentliche Interesse an der Strafverfolgung auf der einen Seite der Pressefreiheit auf der anderen Seite gegenübersteht. Für die Abwägung könnte es also auf diese Frage ankommen. Dazu müsste das BVerfG die Verfassungsbeschwerden aber erst einmal annehmen.
Die Verfassungsbeschwerde erwähnt den § 129 StGB gleich auf den ersten Seiten und warnt vor einem "einschüchternden Potential" für zivilgesellschaftliches Engagement und journalistische Arbeit."Wenn der Staat systematisch Gespräche der Presse mit politischen Gruppen abhört, greift das empfindlich in die Pressefreiheit ein. Steht die Gruppe mit ihren Aktionen so stark in der Öffentlichkeit wie die 'Letzte Generation', ist dieser Eingriff unnötig und unverhältnismäßig: Es gibt nichts, was nicht sowieso bekannt wäre", sagt Lück.
Am 9. Januar 2023 fasste das Bayerisches Landeskriminalamt einen Zwischenstand der laufenden Pressetelefonüberwachung zusammen: Eingegangen seien fast ausschließlich Anfragen von Medienvertreter, Studierenden und Schülerinnen, die um eine Presseauskunft oder ein Interview gebeten hätten. Erkenntnisse über nicht bereits öffentlich bekannte Strukturen der Letzten Generation oder deren Reisebewegungen im Zusammenhang mit dem Strafvorwurf des § 129 StGB habe man nicht erlangen können.
Verfassungsbeschwerde wegen abgehörten Pressetelefons: . In: Legal Tribune Online, 11.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55386 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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