Ein Stuttgarter Gericht verhandelt über einen mutmaßlich brutalen Machtmissbrauch eines Polizisten. Dass es überhaupt zur Anklage kam, ist eine Seltenheit, meint Tobias Singelnstein im Interview mit der Deutschen Presseagentur
Frage: Wann spricht man von Polizeigewalt?
Singelnstein: Wir sprechen von rechtswidriger Polizeigewalt, um deutlich zu machen, dass es einen Unterschied gibt im polizeilichen Gewalthandeln. Die Polizei ist in bestimmten Situationen befugt, Gewalt anzuwenden. Das ist dann der sog. unmittelbare Zwang - das ist, um es ganz knapp zu sagen, immer dann der Fall, wenn polizeiliche Maßnahmen auf anderem Wege nicht durchgesetzt werden können. Diesen unmittelbaren Zwang setzt die Polizei in ihrer alltäglichen Arbeit permanent ein, jeden Tag, hundertfach, tausendfach. Und es wäre ja sehr verwunderlich, wenn es dabei nicht auch zu Grenzüberschreitungen und Missbräuchen kommen würde. Aus meiner Sicht sind sie Bestandteil des polizeilichen Alltags.
Frage: Wie geht man innerhalb der Polizei mit derartigen Fällen um?
Lange hat sich die Polizei, aber auch die Politik, sehr zurückgehalten und das nicht als Problem der Institutionen anerkannt, sondern eher versucht, die Fälle, die dann bekannt geworden sind, nur als Einzelfälle zu verstehen und darzustellen. Wir haben seit 10, 20 Jahren eine verstärkte öffentliche Debatte über das Thema. So langsam merkt man, dass es auch in der Polizei, gerade in der Führungsebene, schon ein bisschen ein Umdenken gibt. Und zumindest teilweise erkannt wird, dass das ein strukturelles Problem der Polizei ist, mit dem man sich irgendwie auseinandersetzen muss.
Frage: Welche Maßnahmen halten Sie für sinnvoll gegen rechtswidrige Polizeigewalt?
Eine ganz konkrete Maßnahme ist die Kennzeichnungspflicht. Es gibt aus meiner Sicht überhaupt keinen Grund, der gegen die Kennzeichnungspflicht spricht. Ich halte das eher für eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit. Das würde es zumindest ermöglichen, Beamte im Nachhinein zu identifizieren, denen Fehlverhalten vorgeworfen wird. Außerdem verspricht man sich davon auch eine gewisse präventive Wirkung.
Frage: Wo sehen Sie weitere Ansatzpunkte?
Nur zwischen zwei und drei Prozent aller Fälle, die angezeigt werden, landen überhaupt vor Gericht. In den allermeisten Fällen stellen die Staatsanwaltschaften die Verfahren ein. Und das liegt insbesondere daran, dass wir in den Fällen oft schwierige Beweissituationen haben. Da steht häufig nur Aussage gegen Aussage. Und man muss leider auch sagen, dass es seitens der Polizei diese Mauer des Schweigens gibt. In der Praxis kommt es nur sehr selten vor, dass Polizeibeamte mal gegen ihre Kollegen aussagen. Hinzu kommt, dass Polizeibeamte in der Glaubwürdigkeitshierarchie der Justiz sehr weit oben rangieren und das auch nicht immer hinreichend reflektiert wird.
Prof. Dr. Tobias Singelnstein ist Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Einer seiner Schwerpunkte ist die Forschung zu illegaler Polizeigewalt. Im November 2018 startete eine anonyme Online-Befragung von Betroffenen und Zeugen; erste Ergebnisse sollen im Sommer erscheinen.
Interview: dpa
Tobias Singelnstein über Polizeigewalt: . In: Legal Tribune Online, 28.03.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34623 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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