Justizreform in Polen: PiS will EuGH ins Leere laufen lassen

Gastbeitrag von Dr. Oscar Szerkus

08.05.2019

Kein Rechtsweg, wenn ein Richter zum Obersten Gericht abgelehnt wird. Oscar Szerkus zeigt, was die polnische PiS-Regierung mit ihrer Gesetzesänderung im Eiltempo bezweckt.

Seit 2018 sind beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) zwei Vorabentscheidungsverfahren anhängig, die in Polen für Aufsehen sorgen; in den kommenden Wochen wird eine Entscheidung erwartet. Zwei polnische Gerichte haben die Frage vorgelegt, ob die Vorschriften über die Wahlen zum Nationalen Richterrat (KRS) mit dem Unionsrecht vereinbar sind – in der Sache geht es darum, ob das KRS-Gesetz dem europäischen Standard für Rechtsstaatlichkeit entspricht.

Die polnische PiS-Regierung sieht darin eine Einmischung der EU in polnisches Recht. Um einer – auch in den PiS-Reihen erwarteten – wenig wohlwollenden Entscheidung der obersten EU-Richter zuvorzukommen, verabschiedete der Sejm mit den Stimmen der regierenden PiS-Partei in der Nacht auf den 26. April 2019 eine weitere Justizreform. Dabei geht es um die Funktionsweise des KRS und das Richterwahlverfahren. Das Gesetz wartet noch auf die Ausfertigung durch Präsident Andrzej Duda.

Bisher galt: Wer sich für eine Richterposition am Obersten Gericht (Sąd Najwyższy) beworben hatte und vom KRS abgelehnt wurde, konnte sich an das Oberste Verwaltungsgericht (Naczelny Sąd Administracyjny) wenden. Künftig sollen die Entscheidungen des KRS jedoch endgültig sein. Eine Überprüfung ist nicht mehr vorgesehen, zudem sollen alle laufenden Verfahren von abgelehnten Kandidaten kraft Gesetzes und unanfechtbar eingestellt werden. Hingegen bleibt das sogenannte Gegenvorstellungsverfahren für Richter unterer Gerichte erhalten.

Kein Verfahren für "enttäuschte Richter"

Die Gesetzesänderung kommt nicht aus heiterem Himmel. Bereits im März dieses Jahres hatte der Verfassungsgerichtshof die Vorschriften des KRS-Gesetzes, welche die Zuständigkeit des Obersten Verwaltungsgerichts vorsahen, für verfassungswidrig erklärt. Das polnische Verfassungsgericht befasste sich mit der Sache auf Antrag des KRS, der auf diese Weise seine eigene Rechtsgrundlage überprüft wissen wollte.

Diese unübliche Vorgehensweise wurde von der PiS-Partei und Justizminister Zbigniew Ziobro medienwirksam unterstützt, obwohl sie sich ursprünglich für das KRS-Gesetz in der angefochtenen Fassung eingesetzt hatten. Aufgrund der heftigen Kritik gegen das Richterwahlverfahren sollte der Verfassungsgerichtshof nun „Klarheit über die Verfassungsgemäßheit“ des KRS herstellen, so KRS-Mitglied Jarosław Dudzicz über den Antrag.

Bei der KRS-Novelle beruft sich PiS darauf, die Effizienz der Justiz wiederherzustellen. Mit der Gesetzesänderung werde die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs umgesetzt. Dabei sei es keineswegs notwendig, ein Verfahren für "enttäuschte" Richter vorzusehen. Der Richterrat solle endgültig entscheiden, Gegenvorstellungsverfahren würden sonst unerträglich in die Länge gezogen und zur Rechtsunsicherheit beitragen.

Außerdem sei die neue Rechtslage auch im internationalen Vergleich nicht unüblich: Anerkannte Demokratien wie Norwegen, Dänemark oder die Schweiz sähen ähnliche Richterwahlverfahren zu den obersten Gerichten vor.

Opposition kritisiert Verfassungsbruch

In der hochemotionalen Debatte im Sejm warfen Oppositionsabgeordnete der PiS dagegen gleich mehrfach Verfassungsbruch sowie "Rechtsbarbarei" vor. Sie sehen Grundsätze der polnischen Verfassung verletzt, insbesondere den Gleichheitsgrundsatz, das Recht auf den gesetzlichen Richter, die Rechtsweggarantie und den gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern.

Zudem sei die Gesetzesänderung nicht notwendig, um die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs umzusetzen. Dieser habe lediglich das Oberste Verwaltungsgericht für unzuständig erklärt, es sei jedoch nicht um die Abschaffung des Rechtsmittels an sich gegangen.

Die Rechtslage in anderen europäischen Staaten könne dabei nicht als Legitimation für verfassungswidrige Reformen in Polen gelten "Ihr habt mit Europa und europäischen Werten nichts zu tun – das, was Ihr veranstaltet, das sind Standards sogenannter Demokratien des Ostens. Putin, Erdoğan und Łukaszenko könnten stolz auf Euch sein", so der Sejm-Abgeordnete und Vize-Vorsitzende der größten Oppositionspartei PO Borys Budka unter regem Beifall seiner Parteikollegen.

Die PO kritisiert, die Einstellung der laufenden Verfahren sei eine unzulässige Einmischung des Gesetzgebers in die Rechtsprechung. Schließlich stelle die nächtliche Abstimmung im Expresstempo – vom Eingang des Gesetzentwurf im Sejm bis zur Verabschiedung vergingen weniger als zwölf Stunden – nach der Einschätzung des Sejm-Abgeordneten Robert Kropiwnicki (PO) nichts anderes als den "Zusammenbruch legislativen Anstands" dar.

Der EuGH kann dennoch entscheiden

Die Gesetzesänderung dürfte das Vorlageverfahren indessen wenig berühren. Der EuGH entscheidet über die ihm vorgelegten Fragen auf Grundlage des zum Vorlagenzeitpunkt geltenden Rechts. Die Verfahrensordnung des EuGH sieht aber auch eine andere Möglichkeit vor – die Rücknahme des Vorabentscheidungsersuchens.

Das gilt allerdings nur, wenn das Interesse der Gerichte an einer EuGH-Entscheidung fortgefallen sein sollte. Vor dem Hintergrund, dass die ursprünglichen Ersuchen zugleich Kritik am KRS-Gesetz ausdrücken sollten, dürfte davon nicht auszugehen sein.

Die PiS hofft aber offenbar darauf, mit der Gesetzesänderung die EuGH-Entscheidung ins Leere laufen zu lassen. Sie würde sich dann auf nicht mehr geltendes Recht beziehen und somit als irrelevant erscheinen.

"Geeigneter" Nachfolger für Vorsitzende des Obersten Gerichts gesucht

Die Gesetzesänderung ist Teil eines größeren Reformprojekts, das noch am Abend vor den Lesungen im Sejm auf der Tagesordnung stand und erst unmittelbar vor dem Aufruf im Plenum auf die Änderung des KRS-Gesetzes zurechtgestutzt wurde.

Ursprünglich hatte die PiS darüber hinaus vor, auch die Wahl des Ersten Vorsitzenden des Obersten Gerichts neu zu regeln: Demnach soll der Präsident alleine über den Nachfolger der derzeitigen Ersten Vorsitzenden Małgorzata Gersdorf entscheiden können, falls bei der zuständigen Generalversammlung der Richterschaft nicht das erforderliche Quorum erreicht wird. Gersdorf steht der PiS-Regierung kritisch gegenüber, ihre sechsjährige Amtsperiode endet Anfang 2020.

Diese Änderung hätte für die PiS besonders vorteilhafte Folgen, vor allem wenn PiS-Chef Jarosław Kaczyński nach den Parlamentswahlen im Herbst dieses Jahres die Mehrheit im Sejm verlieren sollte. Voraussichtlich bis zum Sommer 2020 bleibt nämlich der regierungstreue Präsident Andrzej Duda im Amt. Er könnte dann einen "geeigneten" Ersten Vorsitzenden bestimmen, wenn regierungsnahe Richter von der Generalversammlung fernbleiben und das Gremium beschlussunfähig machen.

Diese weitergehenden Änderungen wurden vorerst auf Eis gelegt; es ist zu erwarten, dass sie häppchenweise verabschiedet werden – je nach Erfolg der Regierungspartei in den anstehenden Europawahlen Ende Mai, die als Stimmungsbarometer für die Parlamentswahlen im Herbst gelten.

Zitiervorschlag

Justizreform in Polen: . In: Legal Tribune Online, 08.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35261 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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