Die Widerspruchslösung soll die Spendenbereitschaft bei Organspenden deutlich erhöhen. Ihre Einführung wäre zwar verfassungsgemäß – für mehr Organspenden würde sie aber nicht sorgen, meint Malte Mennemann.
"Mein Körper ist kein Ersatzteillager" – so lautete die Überschrift eines Kommentars von Rainer Hank in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Hank widerspricht der Idee, die bisher geltende Zustimmungslösung durch eine Widerspruchslösung zu ersetzen: Demnach soll jedermann Organspender werden können, der nicht ausdrücklich widerspricht.
Tatsächlich würde es in die Weltanschauung des Grundgesetzes nicht passen, wenn der Mensch zum Ersatzteillager erklärt würde. Die deutsche Verfassung beginnt mit den Grundrechten der Bürger. "Die Würde des Menschen ist unantastbar", heißt es direkt nach der Präambel. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten durch diese Stellung ein Zeichen setzen, auch als Antwort auf die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur. Der Mensch steht im Mittelpunkt des Staates und der Verfassung. Der Bürger ist nicht bloßer Untertan, sondern Wesenselement des Staates.
Diese grundlegende Wertentscheidung hat der Staat zu beachten, immer und jederzeit. Das täte er, auch wenn er die Widerspruchslösung einführen würde. Das Problem des Organmangels allerdings würde auch sie nicht lösen.
Höhere Spendenbereitschaft – weniger Organspenden
Eine repräsentative Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) kommt zu dem Ergebnis, dass die Besitzquote von Organspendeausweisen von 2012 bis 2018 von 22 auf 36 Prozent anstieg. Zudem stehen aktuell 84 statt damals nur 78 Prozent der Befragten der Organspende positiv gegenüber. Trotzdem nahm in den vergangenen Jahren die Anzahl der in Deutschland postmortal gespendeten Organe ab – laut der Deutschen Stiftung Organtransplantation von 3.511 im Jahr 2012 auf 2.594 im Jahr 2017. Wie passt das zusammen?
Die derzeit in Deutschland geltende Regelung wurde Ende 1997 als "erweiterte Zustimmungslösung" eingeführt. Demnach dürfen die Organe eines Toten nur entnommen werden, wenn dieser entweder zu Lebzeiten zugestimmt hat oder die nächsten Angehörigen glauben, dass die Organspende seinem mutmaßlichen Willen entspricht.
Dabei dürfen die Angehörigen grundsätzlich nicht nach eigenen Moralvorstellungen handeln, sondern müssen sich fragen, was der Verstorbene tatsächlich gewollt hätte. Nur wenn dies nicht bekannt ist, dürfen sie eine eigenständige Entscheidung nach eigenen Wertvorstellungen treffen.
Die Widerspruchslösung würde keine Grundrechte verletzen
Kann der Staat nun von seinen Bürgern erwarten, dass diese sich informieren und sich aktiv gegen die Organspende entscheiden, wenn sie dies nicht wollen? Kritiker wenden ein, dass Schweigen im Rechtssinne grundsätzlich keine Erklärung darstellt. Das stimmt zwar – aber der Gesetzgeber hat durchaus das Recht, Ausnahmen festzulegen. Dies gilt auch in grundrechtsrelevanten Bereichen, wie zum Beispiel beim Verstreichenlassen einer Widerspruchsfrist gegen einen belastenden Verwaltungsakt.
Die Anwendung der Widerspruchsregelung würde auch nicht in die Menschenwürde – oder, wenn man den Hirntod als Tod des Betroffenen ansähe, in dessen postmortales Persönlichkeitsrecht – eingreifen. Deren Entscheidung, keine Organe spenden zu wollen, würde schließlich weiterhin respektiert. Ein Eingriff in die Menschenwürde läge selbstverständlich vor, wenn Menschen tatsächlich als Ersatzteillager angesehen würden und ihr entgegenstehender Wille missachtet würde. Der Mensch würde dann zum Objekt herabgewürdigt (sog. Objektformel), ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in die Menschenwürde. So verhält es sich aber gerade nicht: Der Mensch bliebe frei in seiner Entscheidung, kein Organe spenden zu wollen. Er muss diese Entscheidung nur kundtun.
Selbst wenn er das nicht getan hat, würden auch in Zukunft die nächsten Angehörigen nach dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen befragt. Erst wenn auch sie ihn nicht kennen, könnten dann Organe entnommen werden. Eine Änderung ergäbe sich also nur in den Fällen, in denen weder ein ausdrücklicher Wille des Patienten vorliegt noch die Angehörigen seinen mutmaßlichen Willen kennen. Abhängig von der genauen Gesetzesfassung könnte den Angehörigen auch in diesen Fällen wie bisher ein Entscheidungsrecht nach eigenen Moralvorstellungen gegeben werden.
Es bliebe dagegen auch bei der Widerspruchslösung bei dem Versuch, den wahren Willen des Betroffenen zu erkunden. Das macht deutlich, dass der Mensch gerade nicht als bloßes Objekt angesehen oder gar zum Ersatzteillager würde. Jedem, der Organspenden ablehnend gegenübersteht, bleibt weiterhin die Möglichkeit, eine Organentnahme durch ausdrückliche Erklärung auszuschließen. Auch Eingriffe in andere Grundrechte wie das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die körperliche Unversehrtheit könnte der Einzelne dadurch leicht verhindern.
Alternative Entscheidungszwang
Unklar ist, wie sichergestellt werden soll, dass ein ausdrücklicher Wille in jedem Fall beachtet wird. Würde die Entscheidung, nicht spenden zu wollen, wie bisher im Organspendeausweis vermerkt, so bestünde die Gefahr, dass dieser nicht gefunden würde. Dann würden, während bisher im Zweifelsfall keine Organe entnommen und damit auch keine Grundrechte verletzt werden, nach der Widerspruchslösung – sofern den Angehörigen kein Wille des Betroffenen bekannt ist – trotzdem Organe entnommen werden.
Alternativ oder zusätzlich wäre eine zentrale Datenbank denkbar. Problematisch dabei wären aber neben datenschutzrechtlichen Fragen auch die Manipulationsanfälligkeit durch Hackerangriffe sowie die Zugriffsmöglichkeit auf die Daten im Falle von Systemstörungen.
Neben aktiver Zustimmung oder aktivem Widerspruch zur Organspende ist aber eine dritte Option denkbar: der Entscheidungszwang. Bürger könnten z.B. beim Ausstellen eines Personalausweises gefragt werden, ob sie einer Organentnahme zustimmen würden oder diese ablehnen. Diese Entscheidung könnte im Ausweis dokumentiert werden, den die meisten Bürger fast immer bei sich tragen.
Auch diese Idee weist zwei Probleme auf: Zum einen könnte der Zwang zur Entscheidung wieder einen Grundrechtseingriff darstellen. Zum anderen müsste eine mögliche Änderung im Willen dann wohl jedes Mal amtlich eingetragen werden.
Was wirklich helfen würde
Welche rechtliche Lösung man auch wählen würde, sie dürfte die Organspendezahlen auch nicht deutlich steigern. Zentrale Probleme liegen außerhalb der juristischen Sphäre: Die Organspende führt zu einem finanziellen Verlust für Krankenhäuser, weil teure Betten auf der Intensivstation lange belegt und von den Krankenkassen nur schlecht bezahlt werden. Auch müssen Ärzte ausreichend Zeit haben, um die streng formalisierte und langwierige Hirntodfeststellung vorzunehmen, die Voraussetzung für eine Organspende ist. Auch die Befragung der Angehörigen nach dem mutmaßlichen Willen des Toten braucht ihre Zeit. Daran mangelt es jedoch in unterbesetzten Krankenhäusern häufig.
Zudem dürfen die Ärzte, die an der Hirntodfeststellung eines Menschen beteiligt sind, ebenso wenig wie ihre weisungsbefugten Vorgesetzten in die spätere Entnahme oder Übertragung der Organe involviert sein. Das soll Interessenkonflikte auf Seiten der Mediziner verhindern. Es führt aber auch dazu, dass Ärzte die positiven Effekte der Organspende nicht sehen, weil die Organe oft in andere Krankenhäuser geschickt werden, ihre eigenen Patienten also gar nicht direkt profitieren.
Solange sich die Situation im Klinikalltag nicht ändert, wird auch eine erhöhte Spendenbereitschaft nicht unbedingt zu höheren Spendenzahlen führen – egal, welche gesetzlichen Vorschriften es gibt.
Der Autor Malte Mennemann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel an der Universität Augsburg. Er forscht dort zu den Bereichen des Medizin- und Strafrechts.
Mehr Spendenbereitschaft bei Organspenden: . In: Legal Tribune Online, 31.08.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30681 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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