Heute gilt der Nürnberger Prozess als die Referenz für das Völkerstrafrecht schlechthin. Das war aber nicht immer so, weiß Christoph Safferling und zeigt 75 Jahre später auf, wie sich das schon während der Verhandlungen geäußert hat.
Vor 75 Jahren, am 1. Oktober 1946, verhängt der Internationale Militärgerichtshof zwölf Mal die Todesstrafe durch Erhängen gegen 22 angeklagte Hauptkriegsverbrecher Nazideutschlands. Weitere sieben Angeklagte erhielten langjährige Haftstrafen.
Damit wurde nicht nur strafrechtliche Schuld festgestellt, sondern das sogenannte Dritte Reich mit seiner Politik des Hasses und der kriegerischen Expansion delegitimiert. Es saßen keine Mitglieder einer ausländischen Regierung auf Augenhöhe an einem Verhandlungstisch, sondern Verbrecher, die unsägliches Leid über ganz Europa gebracht hatten, saßen auf der Anklagebank im umgebauten Nürnberger Schwurgerichtssaal. Der Prozess und sein Urteil haben der Welt ihren Stempel aufgedrückt. Verbrechen gegen die Menschlichkeit verdienen keine Immunität. Ein Völkermörder kann sich nicht auf eine staatliche Funktion berufen.
Überall auf der Welt kennt man den Nürnberger Prozess und verbindet ihn mit dem Streben nach Bestrafung staatlicher Massenverbrecher und nach Gerechtigkeit für unschuldige Opfer von Krieg und Unterdrückung. Die Stadt der Reichsparteitage ist damit auch ein Ort der Hoffnung, der Nürnberger Justizpalast ein Symbol für die Macht des Rechts gegen das Recht der Mächtigen.
Nürnberg zu anfangs nicht nur positiv aufgenommen
Erst im 21. Jahrhundert zeigt sich die wahre Bedeutung Nürnbergs. War Nürnberg jahrzehntelang vor allem für die Sieger und die Befreiten ein Symbol für das Ende der Nazi-Herrschaft, tat sich Deutschland schwer, das Urteil von Nürnberg als Akt der Gerechtigkeit und des Rechts anzuerkennen.
Überwog zunächst auch die Genugtuung darüber, dass die Zerstörer Deutschlands verurteilt wurden, so wurde bald Skepsis laut, ob der Nürnberger Prozess selbst das hielt, was er versprach. Die deutsche Juristenelite, darunter auch die Verteidiger im Nürnberger Prozess, war offenbar bereit, das unerträgliche Unrecht des Volksgerichtshofs, der SS-Standgerichte oder der NS-Militärgerichte als "Recht" anzuerkennen – erinnert sei hier nur an die Urteile im Prozess Huppenkothen/Thorbeck oder Rehse. Dem Nürnberger Prozess wurde die Legitimität hingegen abgesprochen.
Während im Grundgesetz 1949 das strenge Rückwirkungsverbot in Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz (GG) auch ein Signal an die Alliierten sein sollte, um den Nürnberger Prozess zu diskreditieren, erkannte im Jahr 1950 Art. 7 Abs. 2 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) die allgemeinen Rechtsgrundsätze der zivilisierten Völker als Grundlage einer Strafbarkeit auch ohne entsprechende nationale Gesetze an. Bei der Ratifizierung opponierte die Adenauerregierung gegen die menschenrechtliche Regelung des Europarates. Das Auswärtige Amt (Zentrale Rechtsschutzstelle) setzte sich ein für die verurteilten und sogar die noch flüchtigen Kriegsverbrecher in Landsberg und andernorts. Das Bundesjustizministerium sammelte Beweise für angebliche Unmenschlichkeiten der Alliierten gegenüber Deutschen "als Kriegsverbrechern". Erst 1995, zum 50. Jahrestag des Beginns des Nürnberger Prozesses und nach Errichtung der Strafgerichtshöfe für Jugoslawien und Ruanda durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, lobte eine deutsche Justizministerin die völkerrechtlichen Errungenschaften des Nürnberger Prozesses.
Für den Straftatbestand Genozid war es noch zu früh
In beeindruckender Akribie und Professionalität wurden durch die United Nations War Crimes Commission schon während des Krieges und dann vor allem im Sommer 1945 Beweise gesammelt, Dokumente gesichtet, Tausende von Personen befragt, übersetzt, zusammengefasst, geordnet. Dabei wurde in aller Schnelle in London erst noch eine Charta für den Internationalen Militärgerichtshof gezimmert. Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden zum normativen Maßstab, auf einen Tatbestand Völkermord konnte man sich hingegen nicht verständigen.
Der vom polnischen Juristen Raphael Lemkin vorgeschlagene Straftatbestand Genozid wurde als zu neuartig und daher vor einem rechtsstaatlichen Strafrecht nicht legitimierbar von den alliierten Juristen mehrheitlich verworfen. Für die US-amerikanische Delegation unter Leitung des US Supreme Court Justice Robert H. Jackson stand der Massenmord auch nicht im Vordergrund. Auf der Kriminalisierung des Angriffskriegs lag das Hauptaugenmerk. Das war das "schlimmste aller Verbrechen", wie er befand.
Die Anklage der Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung oblag dagegen vor allem der russischen und der französischen Behörde. Die jüdischen Opfer hatten keinen Ankläger. An den 218 Verhandlungstagen kam der Holocaust, das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte, nur selten zur Sprache. Unter den 240 Zeugen rief der französische Ankläger Dubost am Vormittag des 28. Januars 1946 Marie-Claude Vaillant-Couturier in den Zeugenstand. Als Mitglied der Résistance war sie von der kollaborierenden französischen Polizei verhaftet und von der deutschen Besatzungsmacht mit 230 anderen französischen Frauen zunächst nach Auschwitz und dann ins Konzentrationslager Ravensbrück verbracht worden.
Nur ein halber Verhandlungstag für die Zustände in den Konzentrationslagern
Die Zeugin berichtete in freier Rede und wenig angeleitet vom im Verhör ungeübten Franzosen genau über die katastrophalen Zustände, den Tagesablauf, die Brutalität der SS, die Gaskammern in Auschwitz und die Hinrichtungen in Ravensbrück. Nur 49 Frauen aus der Gruppe überlebten den Terror. Ein Kreuzverhör fand so gut wie nicht statt. Für die Verteidigung stellt Dr. Hanns Marx nur ein paar wenige Nachfragen, woher die Zeugin die genauen Zahlen kenne und ob sie privilegiert behandelt worden sei. Eine Re-Examination fand auch nicht statt. Am Ende der Aussage stellt das Gericht fest, das die Aussage von der Verteidigung nicht in Zweifel gezogen wurde und: "Der Gerichtshof glaubt, daß man die Frage der Behandlung in Konzentrationslagern jetzt allgemeiner behandeln könnte, nachdem wir die Einzelheiten von den bereits vorgeladenen Zeugen gehört haben." Ein halber Tag für die Zustände in Konzentrationslagern.
Ein weiteres Mal kam das KZ Auschwitz in einer Zeugenaussage zur Sprache. Aufgerufen wird der ehemalige Kommandant des Lagers Rudolf Höß am 108. Verhandlungstag aber nicht von der Anklagebehörde, sondern vom Verteidiger des Angeklagten Ernst Kaltenbrunner, Kurt Kaufmann. Höß sollte aussagen, dass die Befehle zur Judenvernichtung nicht über Kaltenbrunner liefen, sondern als "geheime Reichssache" von Himmler direkt an Höß übermittelt wurden. Am späten Vormittag des 15. April 1946 trat Oberst Amen von der US-amerikanischen Anklagebehörde an das Rednerpult und begann mit dem Kreuzverhör des Kommandanten von Auschwitz.
Der bestätigte auf Vorhalt des Anklägers, dass er für die Ermordung von ca. 3.000.000 Häftlingen verantwortlich sei und dass er stets darum bemüht war, die Vergasungsanlagen und Krematorien in Auschwitz zu verbessern, um die Kapazitäten zu erhöhen. Er tat dies nüchtern, bürokratisch, ohne Gefühlsregung. Die US-Ankläger hatten wenige Tage vorher Höß im Gefängnis befragt und die Chance genutzt, im Gerichtssaal den Vernichtungsapparat Auschwitz zu präsentieren. Dem russischen und französischen Ankläger wurde ein weiteres Kreuzverhör vom Gericht untersagt, da zur Verfahrensbeschleunigung nur ein Kreuzverhör pro Zeuge erlaubt war. Höß wurde später nach Polen ausgeliefert und dort zum Tode verurteilt.
Der industrielle Massenmord in den Vernichtungslagern in Ost-Europa wurde im Nürnberger Prozess kaum thematisiert. Das zeigt auch die Relativität einer Gerichtsverhandlung auf. In der Suche nach der Wahrheit ist das Gericht auf die Beweismittel angewiesen, die zu einem gewissen Zeitpunkt verfügbar sind. 1946 war die "Endlösung der Judenfrage" noch nicht belegt, vielleicht wollte man sie auch nicht wahrhaben. Das haben weitere Prozesse bis heute und die spätere Geschichtsschreibung nachgeholt.
Gleichwohl bleibt trotz der Defizite Nürnberg die Referenz für das Völkerstrafrecht schlechthin. Wer (Straf-)Gerechtigkeit für Syrien fordert, tut das in Erinnerung an Nürnberg. Und für Deutschland bedeutete der Nürnberger Prozess – trotz aller politischer Skepsis – auch den Beginn der Demokratisierung. Die Welt braucht mehr Nürnberg.
Der Autor Prof. Dr. Christoph Safferling ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht und leitet die International Criminal Law Research Unit (ICLU) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er ist einer der Vizepräsidenten der Internationalen Akademie Nürnberger Prinzipien. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Bereich des Völkerstrafrechts und der juristischen Zeitgeschichte.
Urteil im Nürnberger Prozess vor 75 Jahren: . In: Legal Tribune Online, 30.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46165 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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