Nudging heißt der Ansatz der Verhaltensökonomie, der nach Cameron und Obama nun auch Angela Merkel interessiert. Bürger sollen nicht mehr durch Normen gegängelt und zu einem bestimmten Verhalten gezwungen werden – lieber möchte man sie sanft beeinflussen, so dass sie das Richtige von ganz allein tun. Nico Kuhlmann sieht in dieser Regierungsmethode sowohl Gefahren als auch Gestaltungspotenzial.
Ein "Nudge" könnte man mit Schubs oder Anstoß übersetzen. So etwas meint man vielleicht bereits aus sozialen Netzwerken wie Facebook zu kennen: mit "Anstupsen" kann man andere dezent darauf aufmerksam machen, dass es mal wieder an der Zeit wäre, sich zu melden. Natürlich ganz ohne Zwang oder Verpflichtung – aber nett wäre es ja schon.
Ein ähnliches Anliegen verfolgt auch der "Nudging" genannte Ansatz aus der Verhaltensökonomie. Geprägt wurde der Begriff von den US-amerikanischen Professoren Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein in ihrem Bestseller "Nudge. Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness" aus dem Jahr 2008. Der Verfassungsrechtler Sunstein und der Ökonom Thaler plädieren darin für einen "libertären Paternalismus" – sie wollen die autoritäre staatliche Handlungsform der Ver- und Gebote, aber auch die Methode des wirtschaftlichen Anreizes in vielen Bereichen ersetzen und einen dritten Weg zwischen Eingriffs- und "Laissez-faire"-Staat gehen.
Den Bürgern sollen stattdessen die möglichen Entscheidungsoptionen so präsentiert werden, dass sich ihnen von alleine erschließt, was das "Richtige" ist. So fühlen sie sich weniger bevormundet, sondern immer noch in der Position, eine Entscheidung zu treffen. Anstoßen statt Anordnen lautet die Devise. Gänzlich neu ist das Konzept nicht. Der Verdienst der Wissenschaftler liegt jedoch nicht nur in der Einführung eines Sammelbegriffs für bekannte, aber unterschiedliche Maßnahmen, sondern darin, ihre Wirksamkeit wissenschaftlich nachgewiesen zu haben.
Nach Barack Obama und David Cameron arbeitet inzwischen auch Angela Merkel aktiv daran, die effektive Verhaltenssteuerung in ihre politische Praxis einzubauen. Doch ist sie auch verfassungsrechtlich unbedenklich oder sind an den Einwänden, dass die Bürger intransparent manipuliert werden könnten, etwas dran?
Schnelles und langsames Denken
Nudging stützt sich auf die Forschung zu der Frage, wie Menschen Entscheidungen treffen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass im Gehirn zwei kognitive Systeme arbeiten, das automatische und das reflektive. Diese Differenzierung geht auf das mit einem Nobelpreis ausgezeichnete Werk Daniel Kahnemans zurück, das er in seinem viel beachteten Buch "Thinking, Fast and Slow" populärwissenschaftlich aufbereitet hat.
Die meisten Entscheidungen treffen wir mit dem automatischen System und handeln dabei reflexhaft und instinktiv, ohne eine Kosten-Nutzen-Analyse anzustellen. Wir entscheiden gerade meistens nicht nach dem Konzept des "Homo Oeconomicus", der alle Vor- und Nachteile sachlich abwägt. Vielmehr ist das automatische System unter anderem recht träge, was dazu führt, dass wir den Status Quo zu lange beibehalten. Außerdem neigen wir dazu, Wahrscheinlichkeiten falsch einzuschätzen. Zusätzlich führt der "Above-Average"-Effekt dazu, dass wir uns als überdurchschnittlich gut wahrnehmen.
Hier setzt das Nudging an – es will erreichen, dass dieses System durch einen kleinen Schubs in die richtige Richtung ganz automatisch die gewünschte Entscheidung trifft. Dabei sollen einfach die Rahmenbedingungen, in denen die Entscheidung getroffen wird, so verändert werden, dass der Mensch zwar immer noch die freie Wahl hat, aber unterbewusst zum "richtigen" Verhalten gelenkt wird.
Nudging auf der Autobahn
Wie Nudges bereits jetzt eingesetzt werden, zeigt sich am Beispiel einer Autobahn. Anstelle von Geschwindigkeitsbegrenzungen oder beispielsweise wirtschaftlichen Anreizen für Autos mit regulierter Höchstgeschwindigkeit, installiert das Verkehrsministerium am Straßenrand mahnende Schilder. Auf diesen steht in Kinderschrift "Papi, fahr vorsichtig" oder ein mit Kussmund verziertes "Lass dir Zeit". Die Schilder sollen verhindern, dass wir uns überschätzen und uns bewusst machen, wie wahrscheinlich ein Unfall ist, wenn wir den Druck aufs Gaspedal nicht verringern.
Auch die Widerspruchslösung bei Organspenden, die Länder wie Österreich oder Spanien bereits nutzen, ist aus der Perspektive der Verhaltensökonomie ein Nudge. Jeder Bürger wird gesetzlich zum Spender bestimmt – es sei denn, er wird aktiv und ändert dies zu Lebzeiten. Eine Vielzahl behält diesen neuen Status Quo jedoch bei.
Die Entscheidungen der Menschen ließen sich jedoch auch dezenter beeinflussen: Zum Beispiel, indem man den Zugang zur präferierten Verhaltensalternative einfach bequemer ausgestaltet oder offenlegt, wie sich andere Mitglieder der "Bezugsgruppe" verhalten. Ein Hinweis in der Rechnung, dass der eigene Stromverbrauch höher ist als im Durchschnitt der Nachbarschaft, wirkt dem "Above-Average"-Effekt entgegen und kann eher dazu führen, dass Menschen Strom sparen als wenn man ihnen verbieten würde, energieintensive Staubsauger oder Glühbirnen zu verwenden.
Nico Kuhlmann, "Nudging": . In: Legal Tribune Online, 20.01.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14423 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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