Das schleswig-holsteinische Verfassungsgericht hat das Wahlgesetz des Landes für verfassungswigrig erklärt und vorgezogene Neuwahlen angeordnet. Sebastian Roßner über die Hintergründe des Urteils, die jetzt notwendigen Änderungen im Wahlrecht und mögliche Auswirkungen auf Bundesebene.
Das Wohl der Demokratien hängt vom Wahlrecht ab. Alles andere ist zweitrangig.
So schrieb 1929 der spanische Philosoph Ortega y Gasset in seinem "Aufstand der Massen". An Schleswig-Holstein hat er dabei wohl nicht gedacht. Jedoch scheinen die Vorgänge im nördlichsten deutschen Bundesland seine These zu bestätigen.
Dort hat das Landesverfassungsgericht einen Teil des Wahlgesetzes und damit die Mehrheitsverhältnisse im Landtag für verfassungswidrig erklärt. Es ordnete Neuwahlen spätestens zum 30. September 2012 und eine Anpassung des Wahlrechts bis zum 31. Mai 2011 an. Bis zu den Neuwahlen bleibt der Landtag in seiner bisherigen Zusammensetzung bestehen.
In seiner zweiten Entscheidung gab das erst 2008 eingerichtete Landesverfassungsgericht Anträgen statt, die im Wahlprüfungs- und im Normenkontrollverfahren von einer Gruppe von Bürgern und von den Landtagsfraktionen der Linken bzw. der Grünen und des Südschleswigschen Wählerverbandes gestellt wurden.
Nicht ausgeglichene Überhangmandate sorgen für Mehrheit
Kern der Auseinandersetzung ist dabei die Frage nach dem Umgang mit den bei der letzten Landtagswahl entstandenen Überhangmandaten. Dieses Problem ergibt sich aus dem schleswig-holsteinischen Wahlrecht: Art. 10 Abs. 2 S. 2 der Landesverfassung sieht ein Wahlverfahren vor, das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet.
Das Landeswahlgesetz gestaltet diese Verfassungsbestimmung so aus, dass 40 von den mindestens 69 Sitzen des Landtags in den Wahlkreisen vergeben werden. Der Bewerber mit den meisten Erststimmen gewinnt dabei das Mandat (Persönlichkeitswahl). Mit der Zweitstimme wird die Landesliste einer Partei gewählt. Die Mehrheitsverhältnisse im Landtag bestimmen sich grundsätzlich nach den auf die Landeslisten entfallenden Zweitstimmen (Grundsätze der Verhältniswahl).
So stehen einer Partei, die – wie die CDU bei den Wahlen 2009 – 31,5% der Zweitstimmen gewonnen hat, grundsätzlich auch nur entsprechend viele Sitze im Landtag zu. Dabei werden die gewonnenen Sitze einer Partei zunächst mit ihren erfolgreichen Wahlkreisbewerbern besetzt. Die übrigen Sitze fallen an die Kandidaten der Landesliste in der Reihenfolge der Listenplätze.
Gewinnt eine Partei mehr Wahlkreise, als ihr nach dem Anteil der Zweitstimmen Sitze im Landtag zustehen, kommt es zu Überhangmandaten: Während die 31,5% Zweitstimmenanteil der CDU 23 Sitzen im Landtag entsprechen, waren 34 Wahlkreiskandidaten der Christdemokraten erfolgreich und zogen in den Landtag ein. Gemessen an ihrem Zweitstimmenanteil und bezogen auf einen Landtag von 69 Mitgliedern ist die CDU daher mit 11 Abgeordneten zu viel im Kieler Landtag vertreten.
Wahlgesetz mit politischer Sprengkraft
Allerdings berücksichtigt die schleswig-holsteinische Landesverfassung diese Konstellation: Art. 10 Abs. 2 S. 4 schreibt nämlich vor, das Landeswahlgesetz müsse "für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten Ausgleichsmandate vorsehen". § 3 Abs. 5 Landeswahlgesetz Schleswig-Holstein enthält daher ein entsprechendes Verfahren zum Ausgleich der Überhangmandate, begrenzt aber die Zahl der maximal zu verteilenden Ausgleichsmandate. Es kann dadurch zu Überhangmandaten kommen, denen keine entsprechende Anzahl an Ausgleichsmandaten gegenübersteht. Dieser Fall ist bei den Landtagswahlen 2009 eingetreten. Drei Überhangmandate der CDU blieben ohne Ausgleich.
Die politische Sprengkraft dieser nicht ausgeglichenen Überhangmandate beruht darin, dass die gegenwärtige schwarz-gelbe Landtagsmehrheit nur mit ihrer Hilfe besteht. Denn an dem Anteil der Zweitstimmen gemessen, müssten die Oppositionsparteien die Mehrheit der Abgeordneten stellen. Ein vollständiger Ausgleich der Überhangmandate durch Hinzufügung von Ausgleichsmandaten würde diesen Zweitstimmenproporz im Landtag wiederherstellen.
Dem Landesverfassungsgericht stellte sich nun im Kern die Frage, ob die Begrenzung der Zahl von Ausgleichsmandaten in § 3 Abs. 5 Landeswahlgesetz Schleswig-Holstein verfassungsgemäß sei. Zwei verfassungsrechtliche Maßstäbe kamen zur Beantwortung der Frage in Betracht:
- Art. 3 Abs. 1 der Landesverfassung garantiert die Gleichheit der Wahl. Danach muss grundsätzlich jede abgegebene gültige Stimme den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Landtages haben. Diese sogenannte Erfolgswertgleichheit wird durch nicht ausgeglichene Überhangmandate durchbrochen, da der nach den Zweitstimmen gegebene Proporz verändert wird.
- Art. 10 Abs. 2 S. 4 der Landesverfassung sieht, anders als das Grundgesetz, einen Ausgleich der Überhangmandate ausdrücklich vor und spricht dabei auch nicht von einer Begrenzung dieses Ausgleichs.
Verfassungsauftrag nicht vollständig ausgeführt
Das Landesverfassungsgericht hat die Begrenzung des Ausgleichs von Überhangmandaten im wesentlichen an Art. 10 Abs. 2 Landesverfassung scheitern lassen. Dies ist konsequent: Wenn die Verfassung einen Ausgleich der Überhangmandate ausdrücklich vorsieht, bedarf es guter Gründe für den Gesetzgeber, um diesen Verfassungsauftrag nicht vollständig auszuführen.
Einen solchen Grund hätte man in dem Ziel sehen können, eine Aufblähung des Landtages durch eine allzu große Zahl von Ausgleichsmandaten zu vermeiden. Immerhin umfasst der Landtag bereits nach dem jetzt verworfenen teilweisen Ausgleich der Überhangmandate 95 statt der eigentlich in der Verfassung vorgesehenen 69 Mitglieder.
Diese Argumentation setzt jedoch, wie das Gericht ausführt, zu spät an. Ursächlich für die Vergrößerung der Abgeordnetenzahl sind die Überhangmandate, die erst den Ausgleich nötig machen. Die Entstehung von Überhangmandaten aber wird durch die Entscheidung des Gesetzgebers wahrscheinlich gemacht, knapp 60% der Landtagssitze als Direktmandate über die Wahlkreise zu vergeben. Eine Begrenzung der Landtagsgröße kann der Gesetzgeber also auch bei vollem Ausgleich der Überhangmandate durch eine Verminderung des Anteils der Direktmandate herbeiführen. Eine Überarbeitung der entsprechenden Normen gehört daher auch zum Auftrag des Gerichts an den Landtag.
Trendwende auch auf Bundesebene?
Ein interessanter Aspekt der Entscheidung ist die Betonung der Wahlrechtsgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 Landesverfassung als weiteres Argument für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen wahlrechtlichen Regelungen. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht bislang keinen Verstoß gegen die gleichartigen Bestimmungen des Grundgesetzes festgestellt, obwohl das Bundeswahlgesetz keinerlei Ausgleich von Überhangmandaten im Bundestag vorsieht.
Hier bahnt sich aber eventuell eine Trendwende an, da auch das Bundeswahlgesetz aufgrund einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung bis 2011 überarbeitet werden muss. Ursache war der mit den Überhangmandaten zusammenhängende, verfassungswidrige Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts, durch den für eine Partei abgegebene Stimmen zu einer geringeren Sitzzahl dieser Partei im Bundestag führen können. Möglicherweise wird es so auch auf Bundesebene zum Ende nicht ausgeglichener Überhangmandate kommen.
Was kann aber der schleswig-holsteinische Gesetzgeber tun, um den Vorgaben des Gerichts zu genügen? Die Verfassung schreibt Elemente der Persönlichkeitswahl – also Direktmandate – vor, bezeichnet eine Landtagsgröße von 69 Abgeordneten als Richtwert und ordnet zugleich einen vollständigen Ausgleich der Überhangmandate an. Damit bleibt dem Gesetzgeber, bei Variationsmöglichkeiten im Detail, nur übrig, für weniger Überhangmandate und deren vollständigen Ausgleich zu sorgen.
Mögliche Lösung: Weniger Wahlkreise
Dies wird auf eine Verringerung der Wahlkreise und damit der Wahrscheinlichkeit von Überhangmandaten hinauslaufen, was wiederum wenige Ausgleichsmandate nötig werden lässt. So kann die Größe des Landtages in der Nähe von 69 Abgeordneten gehalten werden. Für die theoretisch denkbare Alternative einer Verfassungsänderung, die auch die Vorgaben des Landesverfassungsgerichts hinfällig werden ließe, wird der politische Wille fehlen.
Da das Problem komplex und politisch sensibel ist und zu seiner Lösung wesentliche Teile des Landeswahlgesetzes geändert werden müssen, ist die vom Gericht gesetzte Frist von neun Monaten eher knapp bemessen und setzt den Landtag unter erheblichen, aber für eine Einigung förderlichen Zeitdruck. Die Festsetzung vorgezogener Neuwahlen durch das Gericht drängte sich auf. Vier weitere Jahre einer verfassungswidrigen Mehrheitslage im Landtag bis zum Ende der Legislaturperiode 2014 wären für die Demokratie kaum hinnehmbar gewesen.
Der Autor Sebastian Roßner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsches und europäisches Parteienrecht an der Heinreich-Heine-Universität Düsseldorf
Sebastian Roßner, Neuwahlen in Schleswig-Holstein: . In: Legal Tribune Online, 30.08.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1318 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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