Auch im zweiten Verfahren zum Einsturz der Eissporthalle in Bad Reichenhall kommt das LG Traunstein zu einem Freispruch des Gutachters, der dem Dach des Gebäudes 2003 einen guten Zustand attestiert hatte. Damit verweigert das Gericht dem BGH die Gefolgschaft. Stephan Stübinger über ein Urteil,das den Eindruck nur verstärkt, dass die wahren Schuldigen nie vor Gericht gestellt wurden.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte das erste Urteil der Traunsteiner Richter von 2008 aufgehoben und zur Neuentscheidung zurückverwiesen, da der 1. Strafsenat vermutete, die Studie des angeklagten Bauingenieurs sei eine Ursache für den Tod der 15 Menschen, die bei dem Zusammenbruch der Halle am 2. Januar 2006 ums Leben kamen (Urt. v. 12.01.2010, Az. 1 StR 272/09). Dieser Verdacht hat sich nun nicht bestätigt.
Die Katastrophe von Bad Reichenhall beschäftigt die Justiz nun schon mehr als ein halbes Jahrzehnt. Schon bald nach dem Halleneinsturz im Jahr 2006 begann die Suche nach möglichen Schuldigen. Rasch stellte sich heraus, dass die Konstruktion und die Bauweise des Gebäudekomplexes von Anfang an mangelhaft gewesen sind.
Zudem wurden während der über dreißigjährigen Betriebszeit fast keine Sanierungsmaßnahmen vorgenommen. Der für die Konstruktion der Halle zuständige Bauleiter ist inzwischen rechtskräftig zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Verschont blieben hingegen die für den Betrieb zuständigen Amtsträger.
Die Stadtverwaltung wusch ihre Hände in Unschuld
Schnell kam im Zuge der Ermittlungen die Frage auf, weshalb die Halle nicht schon früher geschlossen worden ist oder zumindest das Dach eher von den Schneemassen hätte befreit werden können, die am Tag des Zusammenbruchs darauf lasteten.
Doch auf Seiten der Stadtverwaltung, die für die Halle zuständig war, wollte niemand etwas von dem maroden Zustand gewusst haben. Die Gemeindevertreter beriefen sich dabei auf eine Studie über den Sanierungsbedarf, die in ihrem Auftrag knapp drei Jahre vor dem Einsturz erstellt worden war und in der neben dem Hinweis auf kapitale Mängel an einigen Gebäudeteilen beiläufig festgestellt wurde, dass die Tragkonstruktion "in einem als gut zu bezeichnenden Zustand" gewesen sei. Mit diesem positiv klingenden Votum begründete die Stadtverwaltung ihre Untätigkeit.
Auch die Staatsanwaltschaft sah die Amtsträger damit als entlastet an, niemand von ihnen musste sich vor Gericht verantworten. Stattdessen wurde dem Gutachter der Prozess gemacht. Nicht wenige sehen in ihm nur einen Sündenbock, den man seit nunmehr fünf Jahren durch die Wüste der Justiz treibt.
LG Traunstein, die erste: Untersuchung fehlerhaft, aber Fehler nicht kausal für Unfall
Die Richter am Landgericht (LG) Traunstein rügten in ihrer ersten Entscheidung zwar die Untersuchungsmethode des Angeklagten, der die Dachkonstruktion nicht durchweg aus nächster Nähe ("handnah"), sondern zum größten Teil nur mit Hilfe eines Teleobjektivs begutachtet hatte.
Diese pflichtwidrige Vorgehensweise war nach Ansicht der 1. Instanz aber nicht todesursächlich. Die "Verantwortlichen der Stadt", wie sie in den ergangenen Urteilen vielsagend genannt werden, hatten nämlich auch sonst nicht auf Warnhinweise geachtet. Weitere Spezialuntersuchungen hatten sie ebenfalls nicht in Auftrag gegeben, obwohl bekannt war, dass daran durchaus Bedarf bestanden hätte. Aus Sicht der bayerischen Richter war es also nicht zum Nachteil des Sachverständigen nachweisbar, dass ein anderes Untersuchungsergebnis an dem tragischen Verlauf des Unglücks etwas geändert hätte.
Die Kammer berücksichtigte bei ihrem ersten Freispruch vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung auch, dass der heute 58-jährige Bauingenieur laut seinem Prüfungsauftrag gar keine Untersuchung der Standsicherheit vornehmen sollte. Er hatte auch keinen Einblick in die statischen Unterlagen des Gebäudes erhalten, wobei aus ungeklärten Gründen gar keine geprüfte Statik auffindbar war.
Es darf bezweifelt werden, ob sich die Stadtoberen unter diesen Voraussetzungen zur eigenen Entlastung überhaupt auf eine solch lapidare Aussage wie die des nun Angeklagten in seinem Gutachten hätten berufen dürfen. Immerhin wussten sie, dass die Studie nichts über die Standfestigkeit der Halle und schon gar nichts über die Belastbarkeit des Daches hatte sagen können.
BGH: Gutachten eventuell doch kausal für das Unglück
Den Freispruch hat der 1. Strafsenat des BGH im letzten Jahr kassiert. Die Bundesrichter sahen es als nicht zweifelsfrei widerlegt an, dass sich die städtischen Beamten vielleicht doch zu einer früheren Schließung der Halle oder rechtzeitigen Räumung des Daches entschlossen hätten, wenn das Tragwerk in der Studie nicht als gut bezeichnet worden wäre. Wären in dem Gutachten ernsthafte Alarmsignale geäußert worden, so die Vermutung aus Karlsruhe, hätte die Stadtverwaltung diese nicht ignorieren können.
Allerdings bestand zum Zeitpunkt der Begutachtung noch keine akute Einsturzgefahr. Der Gutachter hätte lediglich weiteren Untersuchungsbedarf anzeigen können. Nach Ansicht der Revisionsinstanz war das Urteil der ersten Instanz jedoch zumindest lückenhaft.
Außerdem rügte der 1. Strafsenat die angenommene Handlungsform, von der die 1. Instanz ausgegangen war. Während Traunstein den Schwerpunkt des pflichtwidrigen Verhaltens im Unterlassen der „handnahen“ Untersuchung sah, wollte der BGH genauer prüfen lassen, ob in der Abgabe der falschen Erklärung nicht doch eher ein positives Tun zu sehen ist. Dabei äußerten die Karlsruher Richter sogar den Verdacht eines gleichsam konspirativen Zusammenwirkens zwischen dem angeklagten Gutachter und den Stadtverantwortlichen.
LG Traunstein, die zweite: Schlamperei ja – aber nicht beim Gutachter
Diese Mutmaßungen über ein vermeintliches "Gefälligkeitsgutachten" des angeklagten Ingenieurs konnte das LG Traunstein offenbar nicht teilen. In der Neuauflage des Verfahrens sind vielmehr die Zweifel noch vermehrt worden, ob die Bad Reichenhaller Amtsträger tatsächlich bereit waren, den bedenklichen Zustand der Eishalle ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen und angemessene Untersuchungen in die Wege zu leiten.
Es kamen nämlich noch weitere Versäumnisse der Stadtverwalter ans Licht, die es noch unwahrscheinlicher erscheinen lassen, dass die Beamten anders gehandelt hätten, wenn das Gutachten des Sachverständigen anders ausgefallen wäre. Die zuständigen Amtsträger haben nämlich auf zahlreiche andere Warnhinweise zum schlechten Zustand des Gebäudes nicht reagiert.
Außerdem hat sich im neuen Prozess herausgestellt, dass der Umfang des Prüfauftrags des angeklagten Bauingenieurs sogar noch bescheidener war als zunächst angenommen. Nun geht das Gericht offenbar davon aus, dass der nun freigesprochene Ingenieur überhaupt nicht verpflichtet war, die Dachkonstruktion "handnah" zu begutachten. Unter Anwendung des Zweifelssatzes haben die Richter ihn nun erneut freigesprochen.
Wer schuld war am Tod der 15 Menschen, die unter den Trümmern der Eislaufhalle ihr Leben ließen, hat damit auch die 3. Runde vor Gericht noch nicht zutage gebracht. Möglicherweise aber ist das juristische Ende des Falles noch immer nicht erreicht.
Der Autor Prof. Dr. Stephan Stübinger lehrt Strafrecht an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms Universität Bonn.
Mit Materialien von dpa
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Neuer Freispruch im Fall Bad Reichenhall: . In: Legal Tribune Online, 27.10.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4675 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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