Nach StVO-Novelle: Mobi­li­täts­wende hängt vom Mut der Behörden ab

von Dr. Max Kolter

11.10.2024

Nun ist sie in Kraft: die neue StVO. Mehr Nachhaltigkeit in der Verkehrsplanung soll sie bringen, mehr Radwege, Zebrastreifen und Tempo 30. Wegen rechtlicher Unklarheiten kommt es aber weiter auch auf die Risikofreude der Behörden an.

Mehr Nachhaltigkeit in der Verkehrsplanung. Mit diesem Ziel einigte sich die Ampel im vergangenen Jahr auf eine Reform des Straßenverkehrsrechts: Neue Verkehrsschilder und bauliche Maßnahmen sollten künftig auch dann möglich sein, wenn sie nicht der Leichtigkeit und Sicherheit des Straßenverkehrs dienen, sondern dem Umweltschutz, der Gesundheit oder der städtebaulichen Entwicklung. Die Befugnisse der Straßenverkehrsbehörden sollten entsprechend erweitert werden. Bundesregierung und Länder hatten im Vorfeld eigentlich alles geklärt, doch dann düpierten sieben unionsgeführte Landesregierungen und Hamburgs SPD die Ampel. Umwelt-, Klima- und Gesundheitsschutz dürfe nicht zulasten der Leichtigkeit und Sicherheit des Verkehrs gehen.

Nach einer entsprechenden Einigung im Vermittlungsausschuss passierte die Reform im Juli dann doch den Bundesrat. Seitdem gilt bereits der neue § 6 Straßenverkehrsgesetz (StVG), der die Ermächtigung des Bundesverkehrsministeriums (BMDV) zum Erlass und zur Anpassung der Straßenverkehrsordnung (StVO) enthält und die Ziele des Straßenverkehrsrechts benennt. Am Freitag traten die StVO-Änderungen in Kraft, mit denen die Befugnisse der Straßenverkehrsbehörden an diese Ziele angepasst werden.

Unter welchen Voraussetzungen Tempo 30, Radwege und Zebrastreifen angeordnet werden dürfen, regelt nun der vor allem § 45 StVO n.F. Verkehrswende-Aktivisten, die die Reform im vergangenen Jahr noch skeptisch beäugt haben, sehen die Novelle als Chance. Weil die Neuregelungen aber zum Teil Fragen unbeantwortet lassen, hängen die Auswirkungen der Reform davon ab, inwiefern Behörden gewillt sind zu riskieren, dass ein Verwaltungsgericht den Radweg oder das Tempo-30-Schild später kassiert.

Freie Fahrt für Fahrrad und Bus

Erleichtert wird zunächst die Einrichtung von Sonderfahrstreifen für Linienbusse oder von neuen oder breiteren Geh- und Radwegen. Deren Anordnung privilegiert nun § 45 Abs. 7, 10 StVO n.F. gegenüber sonstigen Verkehrszeichen und -einrichtungen: Sie dürfen aus allen in § 6 Abs. 4a StVG neu eingefügten Nachhaltigkeitszielen angeordnet werden, also "zur Verbesserung des Schutzes der Umwelt, darunter des Klimaschutzes, zum Schutz der Gesundheit oder zur Unterstützung der geordneten städtebaulichen Entwicklung". Es ist lediglich die im Vermittlungsausschuss beschlossene Einschränkung zu beachten, wonach die Leichtigkeit des Verkehrs berücksichtigt sein muss und die Sicherheit nicht beeinträchtigt sein darf.

Nach vorheriger Rechtslage war die Einrichtung von Busspuren und Radwegen nur "aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs" (§ 45 Abs. 1 S. 1 StVO) zulässig. Außerdem unterlagen sie den strengen Voraussetzungen für Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen nach Abs. 9. Demnach waren sie nur bei Nachweis einer erhöhten Gefahrenlage zulässig.

Dass Busse und Radfahrende künftig freie Fahrt haben, ist damit kein Automatismus – natürlich kommt es für "grüne" Maßnahmen im Verkehr stets und weiterhin auf einen entsprechenden Gestaltungswillen der Kommunen an. Ein kleines Restrisiko einer gerichtlichen Niederlage besteht, wenn der Straßenraum zwischen Fußgänger:innen sowie Rad- und Autofahrenden anders aufgeteilt werden soll. Denn die neue StVO privilegiert nur die Anordnung "angemessener Flächen". Wie Gerichte diese Einschränkung auslegen, bleibt abzuwarten. 

Gleiches gilt für die Frage, wann eine Behörde die Leichtigkeit des Verkehrs hinreichend "berücksichtigt" hat. Die Leichtigkeit ist in der Vergangenheit vorrangig auf den motorisierten Verkehr bezogen worden – alles, was Kraftfahrzeuge bremst, war ein rechtfertigungsbedürftiger Störfaktor. Hierzu stellt die Verordnungsbegründung nun klar, dass es um den "ungehinderten Verkehrsfluss aller Verkehrsteilnehmer" geht. Auch die "Inkaufnahme von Nachteilen bestimmter Verkehrsteilnehmer" könne gerechtfertigt sein.

Mehr Tempo 30 an Zebrastreifen und Schulwegen

Auch Geschwindigkeitsbeschränkungen sind künftig etwas leichter möglich, indem die Ausnahmen von der strengen Regel des § 45 Abs. 9 S. 3 StVO erweitert werden. Demnach sind Verkehrszeichen und -einrichtungen nur zulässig, "wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko […] erheblich übersteigt". Ist gemessen daran auf einem Straßenabschnitt Tempo 30 nicht erforderlich, bleibt es innerorts bei 50 Stundenkilometern.

Das führt dazu, dass auf längeren Straßen mit einzelnen Gefahrenpunkten abwechselnd 30 oder 50 gefahren wird. Um ein allzu häufiges Beschleunigen und Bremsen zu verhindern, durften die Behörde solche "Lücken" zwischen zwei Tempo-30-Stellen zwar auch bislang schon schließen – aber nur, wenn der Abschnitt nicht länger als 300 Meter war. Diese Befugnis wird nun erweitert: Die Behörden dürfen gemäß § 45 Abs. 9 S. 4 Nr. 4 StVO auch Lücken mit einer Länge bis zu 500 Metern schließen.

Zudem werden die in Abs. 9 S. 4 Nr. 6 geregelten Ausnahmen von dem Erfordernis einer besonderen Gefahrenlage für Tempo 30 neben besonders schutzwürdigen Einrichtungen erweitert: Behörden dürfen das Tempo künftig nicht nur neben Kitas, Schulen, Alten- und Pflegeheimen sowie Krankenhäusern drücken. Auch neben Zebrastreifen, Spielplätzen, an hochfrequentierten Schulwegen und Einrichtungen für Behinderte ist das möglich. Auch Zebrastreifen selbst können unter erleichterten Voraussetzungen angeordnet werden: Sie sind nun ebenfalls vom Ausnahmenkatalog des Abs. 9 S. 4 erfasst (Nr. 10).

Allerdings gelten für alle diese verkehrsregelnden Maßnahmen die allgemeinen Voraussetzungen: Sie sind nur "zur Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs" zulässig (§ 45 Abs. 1 StVO) und "nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist" (Abs. 9 S. 1). Wie die Gerichte damit umgehen, dass zwar keine erhöhte, aber immer noch eine einfache Gefahrenlage vorliegen muss, bleibt abzuwarten. Hier braucht es ein wenig behördlichen Mut.

Sonderspuren für E-Autos, aber keine digitale Parkraumbewirtschaftung

Weiterhin können Behörden künftig leichter Zonen einrichten, in denen nur Anwohner:innen parken dürfen oder das Parken kostenpflichtig ist. Hierfür genügt nun schon ein "drohender erheblicher Parkraummangel" (§ 45 Abs. 1b Nr. 2a). Bislang musste ein solcher Parkdruck bereits nachgewiesen sein. Größere Auswirkungen wird ein neu angefügter Satz 2 haben, der den Behörden die Einführung von Parkraumbewirtschaftung auf Grundlage eines "städtebaulich-verkehrsplanerischen Konzepts" erlaubt und damit auch auf den Nachweis eines drohenden Parkdrucks verzichtet. Auch hier muss allerdings die Leichtigkeit des Verkehrs berücksichtigt werden. 

Die Einführung einer digitalen Parkraumbewirtschaftung, wie sie in anderen europäischen Ländern längst Praxis ist, bleibt vorerst Zukunftsmusik. Hierzu enthält die neue StVO keine Regelungen.

Um besondere, klimafreundliche Mobilitätsformen zu erproben, werden die Behörden ermutigt, Sonderfahrstreifen einzurichten. Laut Begründung hatte der Verordnungsgeber für solche Blue Lanes E-Autos, Wasserstoff-Fahrzeuge oder Fahrzeugen mit mehreren Insassen im Sinn. Solche Spuren sind ebenfalls in den Katalog von § 45 Abs. 9 S. 4 aufgenommen worden und damit – nur – vom Erfordernis einer erhöhten Gefahrenlage ausgenommen.

"Nicht mehr warten, bis Blut fließt"

Inwiefern die Reform die Verkehrswende auf die Straße bringt, ist aufgrund einiger Auslegungsspielräume im Detail unklar. Da Tempo 30 und die Einrichtung von Blue Lanes und Zebrastreifen unter bestimmten Voraussetzungen nur vom Erfordernis der erhöhten Gefahrenlage in § 45 Abs. 9 S. 3 StVO ausgenommen sind, stellt sich die Frage, wann sie mit einer einfachen Gefahrenlage begründet werden können. Für alle Maßnahmen gilt, dass sich in der Rechtspraxis noch herausentwickeln muss, wann die Leichtigkeit des Verkehrs "berücksichtigt" ist. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hatte sich im vergangenen Jahr entsprechend kritisch geäußert und angemahnt, den komplexen § 45 StVO grundlegend neu zu fassen.

Nun kommen von der DUH optimistischere Töne: "Kommunen können ab sofort Maßnahmen für die Mobilitätswende aus Gründen des Klimaschutzes umsetzen", titelte eine Pressemitteilung vom Donnerstag. Diese Auffassung stützt die Organisation auf ein Gutachten des Rechtsanwalts Prof. Dr. Remo Klinger. Dieses stellte er gemeinsam mit der DUH am Donnerstag vor. "Die StVO kommt endlich in der Neuzeit an. Viele Kommunen warten darauf, mehr Spielräume bei der Gestaltung ihres Verkehrs zu erhalten. Mit unserem Rechtsgutachten haben wir diese Möglichkeiten aufgezeigt und gehen davon aus, dass die Gerichte dem folgen werden", wird der für seine Umwelt- und Klimaklagen bekannte und renommierte Anwalt zitiert. 

Auch DUH-Geschäftsführer Jürgen Resch ist erfreut, dass einige Maßnahmen nun vom Erfordernis der erhöhten Gefahrenlage ausgenommen werden: "Die deutsche Straßenverkehrsordnung bleibt weltweit die restriktivste – dennoch müssen Kommunen in manchen Fällen nicht mehr warten, bis Blut fließt, um Maßnahmen zum Schutz der Menschen und des Klimas einzuführen". Zugleich betont auch Resch: "Es sind jetzt ambitionierte Städte und Gemeinden gefragt, die die neuen Möglichkeiten nutzen und mit gutem Beispiel vorangehen."

Was bringen die Verwaltungsvorschriften?

Die frühere Berliner Bezirksstadträtin Dr. Almut Neumann (Grüne) sieht das genauso, ist aber guter Dinge, dass die Behörden die Novelle als Aufruf verstehen, nachhaltigere Verkehrskonzepte umzusetzen. "Vor allem in der Regelung zu Busspuren und angemessenen Flächen für den Fuß- und Radverkehr steckt viel Potenzial", sagt die Verwaltungsrichterin gegenüber LTO. In einem Aufsatz mit ihrem Kollegen Dr. Birger Döllinger argumentiert sie: Indem die StVO die Anordnung solcher Flächen vom Erfordernis einer konkreten Gefahrenlage löst, gibt sie zugleich die Ortsbezogenheit auf und ermöglicht den Behörden, ortsübergreifende Mobilitätskonzepte für ganze Gemeinden oder Kieze zu entwickeln und umzusetzen. Sie hofft, dass das auch Behörden zu Maßnahmen der Verkehrsberuhigung in Wohnvierteln ermutigt. Das betrifft etwa die umstrittenen Kiezblöcke.

"Die weniger ambitionierten Behörden werden erstmal abwarten", so Neumann, mindestens, bis die Verwaltungsvorschriften (VwV) zur StVO erneuert sind. Darin macht das BMDV den Straßenverkehrsbehörden Vorgaben zur Auslegung der StVO. Wann genau die veröffentlicht werden, ist derzeit noch unklar. Experten gehen davon aus, dass das BMDV zeitnah einen Entwurf vorlegt. 

Allerdings ist zweifelhaft, ob die Landesbehörden überhaupt an die VwV des BMDV gebunden sind. Darauf weisen auch Neumann und der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) hin: "Viele Behörden warten auf diesen Praxis-Leitfaden, bevor sie sich an die Umsetzung neuer Pläne machen. Das ist rechtlich aber nicht nötig, und Vorbereitungen für konkrete Maßnahmen können jetzt schon getroffen werden", so der ADFC in einer Mitteilung vom Donnerstag. Auch Neumann hofft, dass Behörden schon jetzt direkt loslegen.

Zitiervorschlag

Nach StVO-Novelle: . In: Legal Tribune Online, 11.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55615 (abgerufen am: 13.10.2024 )

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