Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden ermittelt gegen mehrere MEK-Beamte. Sie sollen einen Neuling durch Schüsse mit Farbmunition verletzt haben. Alexandra Windsberger zur strafrechtlichen Relevanz dieses "Aufnahmerituals".
Nach dem "sächsischen Munitionsskandal", bei dem systematisch Farbmunition aus den Waffenkammern des Landeskriminalamtes (LKA) gestohlen worden sein soll (mindestens 7.000 Schuss), gab es im April erneut Hausdurchsuchungen bei Beamten des Mobilen Einsatzkommandos (MEK) im Raum Leipzig. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden ermittelt gegen 25 Beamte des MEK Leipzig sowie eine Polizeiärztin.
Den Polizeibeamten wird vorgeworfen, auf Geheiß zweier Kommandeure Übungsmunition (sog. Simunition) aus den Dienstbeständen des LKA entwendet zu haben, um sie anschließend für eine "polizeiliche Abschlussprozedur" zu verwenden.
Im Dezember 2020 soll im Rahmen einer Feierlichkeit auf zwei neue Kommando-Angehörige mit Farbmunition geschossen worden sein. Eine Person habe Hämatome erlitten, sei aber unmittelbar im Anschluss von der Polizeiärztin auf der Dienststelle versorgt worden.
Straftat oder fragwürdige Aktion?
In der Regel sind sich die Betroffenen über die Verletzungsgefahr solcher Prozeduren im Klaren und mit der Aktion einverstanden. Allein deshalb könnte das Vorliegen einer strafbaren gefährlichen Körperverletzung ausscheiden. Das strafrechtliche Zurechnungssystem vollzieht sich nämlich über mehrere Stufen. Das (kausale und vorsätzliche) Verursachen eines Hämatoms durch Beschießen ist eine tatbestandliche Körperverletzung.
Unter bestimmten Umständen kann die Tat aber gerechtfertigt sein. Eine solche Ausnahme enthält das Rechtsinstitut der rechtfertigenden Einwilligung: Dieses Prinzip erfasst den ausdrücklichen Verzicht auf Rechtsschutz insoweit, als dass es die Zurechnung zum Täter ausschließt.
Ist der Rechtsgutsträger mit der Verletzung einverstanden und hat er die alleinige Dispositionsbefugnis über das Rechtsgut, scheint es unbillig, den Täter zu bestrafen. Voraussetzung ist daneben, dass dessen Verhalten dem Willen des Opfers entspricht. In einer freiheitlichen Rechtsordnung ist es bis zu einem gewissen Grad jedem selbst überlassen, wie er mit sich selbst verfährt und ob er sich selbst schädigt.
Keine rechtfertigende Einwilligung bei Sittenwidrigkeit
Eine wichtige Rückausnahme regelt aber § 228 StGB: Wer eine Körperverletzung mit Einwilligung der verletzten Person vornimmt, handelt rechtswidrig, wenn die Tat gegen die guten Sitten verstößt. Die "Sittenwidrigkeit der Tat" eliminiert also die strafausschließende Kraft der Einwilligung. Auf den Willen der Opfer kommt es dann nicht mehr entscheidend an.
Was aber sind schlechte Sitten? Dasselbe wie "Manieren" und "Gepflogenheiten"? Reicht es aus, dass es dem ein oder anderen missfällt, wenn die Polizei Aufnahmerituale etabliert? Der Bundesgerichtshof identifiziert einen Sittenverstoß mit dem "Anstandsgefühl aller billig und gerecht denkenden Menschen".
Fälle lassen sich mit dieser tautologischen Formel nur bedingt lösen. Mit dem Verweis auf die guten Sitten ist vielmehr die Kategorie der Sozialmoral gefragt, deren ethische Gesetze man vernünftigerweise nicht in Frage stellen könne, die aber zugleich nirgendwo geschrieben stehen und stark subjektiv sind. Es ist daher eine Frage der (richterlichen) Auslegung, ob polizeiliche Aufnahmeriten im Ergebnis strafbar sein sollen, oder als geschmacklos, aber insgesamt tolerierbar bewertet werden können.
Außer Spesen nichts gewesen…
In Belgien und Frankreich, aber auch den USA sind brutale Aufnahmerituale im Hochschulmilieu seit Jahren ein ernstzunehmendes Problem. Ein belgischer Student kam 2018 während der "Aufnahme" in eine Studentenverbindung ums Leben. Er musste zwei Tage in einem Wasserloch ausharren, während auf ihn uriniert wurde. Seine Körpertemperatur sank auf unter 28 Grad und seine Organe versagten. Bei einer anderen tödlichen "Studententaufe" sollten die Probanden Mäuse essen, Blut und Urin trinken und einem lebendigen Aal den Kopf abbeißen.
In Frankreich wurde die sog. "bizutage" (übersetzt "schikanieren") mittlerweile gesetzlich erfasst. Wer sich daran beteiligt, wird mit sechs Monaten Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bestraft.
Verglichen damit sind die Programmpunkte polizeilicher Aufnahmerituale in Deutschland harmlos: In Nordrhein-Westfalen mussten Polizeianwärter aneinander gefesselt schlafen und selbst hergestelltes Ekel-Eis bis zum Erbrechen essen (VG Düsseldorf (2. Landesdiziplinarkammer), Urt. v. 22.03.2018, Az. 35 K 10700/16.0). Das Eis war dabei von dem jeweiligen "Tutor" sitzend zwischen den Oberschenkeln oder weiter oben eingeklemmt.
Auch bundeswehrinterne Riten zum Zweck der Bestrafung, etwa auf einem Bambusstab niederknien oder "Unterwerfungsbehandlungen mit Stockschlägen" (BVerwG, Urt. v. 27.11.1990, Az. 2 WD 20/90), sind Gegenstand umfangreicher Rechtsprechung der vergangenen Jahrzehnte (vgl. auch BVerwG, Urt. v. 01.02.2012, Az. 2 WD 1.11; BVerwG, Urt. v. 17.10.2000, Az. 2 WD 12.00, 2 WD 13.00; BVerwG, Urt. v. 22.10.1998, Az. 2 WD 11.98). Schwerwiegende Verletzungen gab es jedoch nie. Jedenfalls bezogen auf das "Schießritual mit Farbe" in Sachsen, stellt sich die Frage: Viel Lärm um nichts?
Verstoß gegen die Menschenwürde?
Bei dem Beschießen mit Farbe durch Polizeibeamte geht es rein rechtlich betrachtet weniger um eine schwere Gefährdung oder Verletzung der körperlichen Integrität, sondern mehr um die Erosion der Menschenwürde durch beschämende, unwürdige Behandlungen. Ein Verweis auf das Prinzip der Menschenwürde darf hierbei aber die Begründung nicht ersetzen. Dahinter verbirgt sich unter anderem die berühmte Instrumentalisierungsformel des Philosophen Immanuel Kant. Nach ihm darf man einen Menschen zwar als Mittel, aber niemals "bloß" als Mittel benutzen. Diese findet sich heute in der verfassungsrechtlichen Objektformel des Art 1 GG wieder.
Wenn Neuankömmlinge in Gemeinschaftsveranstaltungen vorgeführt, beschämt oder mit Farbe beschossen werden, geht damit eine Vergegenständlichung des Subjekts einher. Das Opfer degradiert zum Objekt, weil es nur noch Mittel zum Zweck ist, der darin liegen soll, den "Korpsgeist" und das Wir-Gefühl zu stärken.
Dass solche Riten außerdem erhebliche Steigerungs- und Eskalationstendenzen aufweisen, ist empirisch belegt. Einige – ethisch fragwürdige – Experimente haben gezeigt, dass die Mehrheit der Menschen unter bestimmten Bedingungen bereit ist, nicht ihrem Gewissen zu folgen, sondern einer Autorität. Der Mensch kann deshalb dazu gebracht werden, einen ihn unbekannten Menschen zu misshandeln. Dinge dieser Art verselbstständigen sich und können außer Kontrolle geraten. Außerdem wurde erforscht, dass die Zugehörigkeit zur Gruppe stärker wird, je schadenfroher oder beschämender das Ritual ist. Dass die Polizei auf solche Methoden angewiesen sein soll, um eine Einheit aufzubauen, darf bezweifelt werden.
"Aufnahmerituale" bedrohen Dignität der Polizei
Hinzu kommt eine weitere Dimension von Art 1 GG, dessen Gehalt sich nicht nur in einem subjektiven Abwehrrecht des Betroffen erschöpft. Neben der Würde der "Neuen" ist die Dignität der Polizei bedroht, wenn diese systematisch und wiederholt eigene Kolleginnen und Kollegen entwürdigend behandeln kann.
Einem Staat, der solche Arbeitsweisen in Ausbildungshierarchien rechtlich zulässt, könnte vorgehalten werden, den Anspruch auf Achtung der Würde im Ganzen preiszugeben. Auch das Interesse der Allgemeinheit an einer Pönalisierung und rechtlichen Missbilligung polizeilicher Aufnahmerituale dürfte unter generalpräventiven Gesichtspunkten groß sein. Andernfalls könnten solche Prozeduren unter Polizeibeamten "Normalität" werden, da eine Bestrafung wegen einer zuvor ausgesprochenen Einwilligung nicht möglich wäre – jedenfalls dann, wenn man Fälle wie diese als nicht sittenwidrig einstuft.
Strafrechtliche und dienstrechtliche Konsequenzen
Polizeiliche Aufnahmerituale sind von hoher strafrechtlicher Relevanz. Für den Fall, dass sich der Tatnachweis wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt und Diebstahl mit Waffen in Sachsen führen lässt, steht eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten bis zu zehn Jahren im Raum.
Hinzu kommen unter Umständen erhebliche außerstrafrechtliche Sanktionen in Bezug auf den Beamtenstatus sowie die Versorgungsbezüge. Polizeibeamtinnen und -beamte, die sich zu solchen Ritualen verabreden, nehmen hohe persönliche und dienstliche Risiken in Kauf.
Unabhängig von dem konkreten Fall in Sachsen spricht Vieles dafür, dass polizeiliche Aufnahmerituale, sofern sie Betroffene entwürdigen, geeignet sind, die Dignität der Polizei im Ganzen zu erodieren. Auch mit Blick auf Eskalationsgefahren sollten derartige Methoden generell nicht geduldet werden, und zwar unabhängig vom Grad der entstandenen Verletzungen.
Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Habilitandin an der Universität des Saarlandes am Lehrstuhl für deutsches und europäisches Strafrecht einschließlich Wirtschaftsstrafrecht und Strafprozessrecht von Prof. Dr. Marco Mansdörfer.
Fragwürdiges Aufnahmeritual in Eliteeinheit: . In: Legal Tribune Online, 24.04.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48222 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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