Das FDP-Parteivolk hat sich als pragmatisch erwiesen: Philipp Rösler und die schwarz-gelbe Koalition haben den Mitgliederentscheid zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) überstanden. Über die Chancen, Risiken und Nebenwirkungen direkter Demokratie muss trotzdem weiter nachgedacht werden, kommentiert Sebastian Roßner.
Es ist gerade noch einmal gut gegangen. Die eigene Parteibasis hatte die Führung der angeschlagenen FDP ziemlich nervös gemacht, denn der bislang einer breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler versuchte unter Mithilfe von Burkhard Hirsch, das selten gespielte Instrument des Mitgliederentscheids zum Klingen zu bringen.
Es hätte sich als wahre Trompete von Jericho erweisen können, geeignet, die baufälligen Mauern der Regierungskoalition im Bund einstürzen zu lassen. Zur Freude der Parteiführung wurde das erforderliche Quorum knapp verpasst und – noch wichtiger – der Antrag der "Eurorebellen", den ESM abzulehnen, fand keine Mehrheit.
Der Mitgliederentscheid ist ein reguläres und erprobtes Entscheidungsverfahren. Das Grundgesetz wie das Parteiengesetz schreiben innerparteiliche Demokratie vor, lassen den Parteien aber Freiraum bei der Ausgestaltung, die auch direkt-demokratische Mechanismen vorsehen kann. Die FDP hat in § 21 Bundessatzung den Mitgliederentscheid verankert und dafür eine detaillierte Verfahrensordnung geschaffen. Ein Mitgliederentscheid kann danach von mindestens fünf Landesverbänden der Partei, von einem Drittel der Kreisverbände oder von fünf Prozent der Parteimitglieder initiiert werden. Allen Parteimitgliedern wird dann ein Beschlussantrag zur Abstimmung per Brief vorgelegt. Der Bundesvorstand kann seinerseits einen Alternativantrag zur Abstimmung stellen. In Sachen ESM haben Rösler und seine Mannen von diesem Recht Gebrauch gemacht.
Versicherungsversäumnisse ohne Folgen
Ein wichtiges Hindernis auf dem Weg zu einem gültigen Mitgliederentscheid stellt das erforderliche Quorum dar, denn mindestens ein Drittel der Mitglieder muss eine gültige Stimme abgeben haben. Um gültige und ungültige Stimmen rankten sich im Vorfeld Gerüchte und Diskussionen. Das Verfahren bei Mitgliederentscheiden sieht vor, dass die Mitglieder ihrem Stimmzettel auch eine Versicherung beilegen, diesen persönlich ausgefüllt zu haben. Offenbar hat dies eine gewisse Zahl von Mitgliedern versäumt, so dass die Erfüllung des Quorums an dieser Verfahrensvorschrift hätte scheitern können. Darauf kommt es politisch nun nicht mehr an, da der Antrag des Vorstands die Mehrheit gewonnen hat.
Die Sorge der Führungsmannschaft um Philipp Rösler im Vorfeld war jedoch begründet. Rechtlich wirkt ein Mitgliederentscheid wie ein Parteitagsbeschluss. Er legt also die Linie der FDP in einer bestimmten grundsätzlichen, politischen oder organisatorischen Frage fest. Dementsprechend ist seine Bindungswirkung, abgesehen von organisatorischen Fragen, weniger rechtlicher als vielmehr politischer Natur. Denn eine Parteiführung kann normalerweise nicht lange im offenen Dissens mit der Parteitagsmehrheit leben, sondern muss sich zumindest öffentlich zu der offiziellen Beschlusslage bekennen.
Mit Europapolitik werden keine Wahlen entschieden
In die Situation, vom Parteitag durch Beschlüsse gegen die eigene Linie bloßgestellt zu werden, gelangt eine Führungsriege aber selten. Denn obwohl der Parteitag wegen der vom Grundgesetz geforderten innerparteilichen Demokratie das zentrale Beschlussorgan deutscher Parteien ist, hat die Parteiführung über die Parteitagsregie sowie die Sondierung und Beeinflussung der Meinungslage im Vorfeld von Abstimmungen verschiedene Möglichkeiten, den offenen Bruch mit den Delegierten zu vermeiden und die eigene Linie durchzusetzen.
Diese Steuerungsmöglichkeiten sind bei einem Mitgliederentscheid, zu dem alle Parteimitglieder aufgerufen sind, naturgemäß viel geringer. Die potentielle Brisanz eines Mitgliederentscheids liegt also darin, dass einen Moment lang die sorgfältig gestalteten Kulissen der Parteitags-Einigkeit zur Seite fahren und den Blick freigeben auf die Meinung der Parteibasis. Dabei können auch tiefe Gräben zwischen Führung und Basis sichtbar werden.
Insbesondere die Europapolitik ist in Deutschland seit langem weitgehend ein Thema der Eliten, die sich in einer zugleich positiven wie technokratisch geprägten Haltung gegenüber dem Projekt Europa einig sind. Mit dem Thema werden keine Wahlen entschieden, nicht einmal die zum Europäischen Parlament, und zwar gerade wegen des breiten Konsenses in der Politik über die grundlegenden Fragen. Befragt man aber die Basis einer Partei zu einem Thema wie der „Eurorettung“ – so technisch (wer versteht schon genau, was passiert?) und zugleich so emotionalisierend (unsere Steuermittel sollen ins Ausland fließen!) – dann kann dieser Konsens durch das Parteivolk durchbrochen werden.
Der Mitgliederentscheid der FDP weist damit zunächst auf zwei Stärken basisdemokratischer Verfahren hin: Direkte Demokratie kann eine bislang hinter verschlossenen Türen verhandelte Frage auf die hell erleuchtete Bühne der Politik zerren und so zu einem öffentlichen Thema machen. Die FDP-Basis hat dies gerade erlebt: Von der Bundesgeschäftsstelle der Partei vermittelte Redner schwärmten in die Kreisverbände aus, um für oder gegen den Schäffler-Antrag im Mitgliederentscheid zu kämpfen. Es wurde plötzlich um die europapolitische Überzeugung der Mitglieder geworben, innerparteiliche Demokratie wurde erlebbar.
Ein Problem mit mehr als zwei Handlungsalternativen
Zugleich ist mit dem Entscheid auch eine politisch von allen Seiten zu akzeptierende Entscheidung in einer schwierigen Frage gefallen. Diese befriedende und stabilisierende Wirkung direkter Demokratie konnte auch gut am leidigen Thema "Stuttgart 21" beobachtet werden: Nach dem Volksentscheid sank die Temperatur des Konflikts stark, denn auch die Gegner des Bahnbaus akzeptierten mehrheitlich die Entscheidung des Volkes. Ob der heute verfügte Baustopp daran etwas ändert, bleibt abzuwarten.
Diese positiven Wirkungen direkter Demokratie haben aber den Preis einer Zuspitzung des Sachproblems auf wenige – meist nur zwei – abstimmungsfähige Entscheidungsvarianten. Eine solche Vereinfachung blendet viele Problemaspekte und Handlungsalternativen aus. Vor allem aber isoliert diese Zuspitzung das Problem von seinem sachlichen Zusammenhang: Die Frage nach einer Zustimmung zum ESM etwa kann in sinnvoller Weise nicht losgelöst von den Reaktionen der europäischen Partner, anderer relevanter Staaten, des Finanzmarktes oder der Sozialpartner beantwortet werden. Dafür braucht es intensive Kommunikation unter den Beteiligten, denn es müssen Handlungsoptionen ausgelotet und schwierige Kompromisse geschlossen werden. Der Mitgliederentscheid oder die Volksbefragung wird diesen Anforderungen kaum gerecht.
Eine Entscheidung durch das Volk oder die Basis eignet sich deshalb vor allem für Fragen, die eine solche Zuspitzung vertragen, innerhalb von Parteien etwa die Wahl eines Spitzenkandidaten. Für komplexe Probleme mit hohem Abstimmungsbedarf, die sich – wie die Eurokrise – zudem noch im Fluss befinden, sind Verfahren der repräsentativen Demokratie geeigneter. Politische Fragen sollten aber im Raum der Politik belassen, also zur öffentlichen Diskussion gestellt werden: Demokratie fordert, dass Repräsentanten ihre Entscheidungen nicht als alternativlos maskieren, indem sie sich einerseits gegenüber der Öffentlichkeit hinter technokratischem Stacheldrahtverhau verschanzen und andererseits gegenüber „Sachzwängen“ oder Finanzmärkten die weiße Fahne hissen. Dann erfüllt die repräsentative Demokratie ihre Aufgabe schlecht und Verfahren der direkten Demokratie werden zu einem Mittel, die öffentliche Diskussion wieder zu erzwingen.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinreich-Heine-Universität Düsseldorf.
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Sebastian Roßner, Mitgliederentscheid der FDP: . In: Legal Tribune Online, 16.12.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5126 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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