Es war ein Herzensanliegen der Gewerkschaften, die seit Jahren mit der Parole "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" gegen die Ungleichbehandlung von Zeitarbeitnehmern auf die Barrikaden gehen – die Anpassung der Gehälter an die der Stammbelegschaft. Seit dem 1. November gelten die ersten Branchentarifverträge. Zeit sich schleunigst mit dem neuen System auseinanderzusetzen, meint Sandra Urban-Crell.
Viele Zeitarbeitskräfte erhalten nun nicht nur einen erhöhten Tariflohn, sondern bei Einsätzen in der Metall- und Elektroindustrie oder der Chemischen Industrie auch Branchenzuschläge. Bereits im Frühjahr dieses Jahres hatten die Gewerkschaften IG Metall und IG Bergbau, Chemie, Industrie die bestehenden Zeitarbeitstarifverträgen mit den führenden Arbeitgeberverbänden der Branche ergänzt. Entsprechende Anpassungen für die Kunststoff verarbeitende Industrie und die Kautschukindustrie werden zum 1. Januar 2013, für Betriebe des Schienenbereichsverkehrs zum 1. April 2013 folgen. Für weitere Branchen wie Textil und Holz laufen die Verhandlungen noch.
Überraschend war das Inkrafttreten der ersten Branchentarifverträge in der Zeitarbeit also nicht. Viele Zeitarbeitsunternehmen und ihre Kunden ächzen gleichwohl unter den Folgen der tariflichen Änderungen. Ganz zu schweigen von den häufig schwierigen Verhandlungen der Personaldienstleister mit ihren Kunden über die Erhöhung der Stundenverrechnungssätze und die Weitergabe der Tarifzuschläge, müssen die Zeitarbeitsunternehmen nun reihenweise ihre Arbeitnehmerüberlassungs- und Leiharbeitsverträge anpassen.
In der Zeitarbeit kommt ohne einen wirksamen Tarifvertrag das gesetzliche Prinzip des so genannten Equal Pay und Equal Treatment zum Zuge. Damit Zeitarbeitnehmer überhaupt Anspruch auf einen Branchenzuschlag haben können, muss für sie einer der maßgeblichen Tarifverträge gelten. Angesichts des verschwindend geringen Grads an gewerkschaftlicher Organisation verweist in der Praxis der Arbeitsvertrag auf einen Zeitarbeitstarifvertrag (so genannte Bezugnahmeklauseln).
Ungeahnte Offenlegungspflichten
Viele bestehende Leiharbeits- und Arbeitnehmerüberlassungsverträge müssen nun ergänzt und Musterverträge überarbeitet werden: Bezugnahmeklauseln sind neu zu formulieren. Zeitarbeitnehmer müssen offenlegen, wenn sie im selben Betrieb bereits einmal über ein anderes Zeitarbeitsunternehmen beschäftigt waren. Nach dem Willen der Tarifvertragsparteien sollen Beschäftigungszeiten in demselben Betrieb vor November 2012 angerechnet werden, wenn sie mindestens sechs Wochen betragen. Zeitarbeitskräfte erhalten bereits für November 2012 den tariflich geregelten Zuschlag der ersten Stufe; in der Metall- und Elektroindustrie sind das 15 Prozent des Tariflohns. Alle weiteren Stufen werden entsprechend früher gezahlt. Dabei soll es maximal 50 Prozent des Tariflohns geben, nach einer Einsatzzeit von neun Monaten.
Weitaus schwieriger als die Änderung der Leiharbeitsverträge ist in vielen Fällen die Anpassung der Verträge mit den Kunden. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Betrieb selbst keinen Branchentariflohn zahlt oder einen günstigeren Haustarifvertrag ausgehandelt hat. In diesen Fällen könnte es sogar zu der verqueren Situation kommen, dass Zeitarbeitskräfte mit Branchenzuschlag mehr verdienen als ihre stammbeschäftigten Kollegen. Um dies zu vermeiden, können die Betriebe den Branchenzuschlag deckeln. Dazu müssen sie allerdings ihr Vergütungssystem und das Vergleichsentgelt der Stammbeschäftigten offenlegen. Sowohl für die Zeitarbeitsunternehmen als auch für ihre Kunden wird sich der administrative Aufwand also merklich erhöhen.
Unwissenheit schützt vor Strafe nicht
Unternehmen, die sich Mitarbeiter leihen, treffen ab sofort auch weitere Offenbarungspflichten. Neben ihrer Branche und einer etwaigen Vorbeschäftigung des Zeitarbeitnehmers müssen sie sämtliche internen Vereinbarungen über besondere Leistungen für Zeitarbeitskräfte offenlegen.
Viele Personaldienstleister haben bis zuletzt gezögert, ihre Kunden über die tariflichen Änderungen zu informieren, häufig aus Angst vor Wettbewerbsnachteilen. Keine weise Entscheidung. Denn es bleibt bei der Zuschlagpflicht, auch wenn die entleihenden Betriebe unzureichende Angaben machen. Wer die höheren Tarife nicht zahlt, dem drohen drakonische Strafen, vom Bußgeld bis hin zum Entzug der Überlassungserlaubnis.
Aber auch die entleihenden Unternehmen dürfen sich nicht in Sicherheit wiegen. Sie werden für nicht abgeführte Sozialversicherungsbeiträge subsidiär in die Haftung genommen. Das kann teuer werden – es gilt also "Wer günstig kauft, zahlt am Ende zweimal". Zeitarbeitsunternehmen und ihre Kunden sind deshalb gut beraten, sich schnellstens mit dem neuen System der Branchenzuschläge auseinanderzusetzen.
Die Autorin Dr. Sandra Urban-Crell ist Partnerin und Fachanwältin für Arbeitsrecht bei McDermott Will & Emery Rechtsanwälte Steuerberater LLP am Standort Düsseldorf. Sie ist Lehrbeauftragte für Arbeitsrecht an der FH Köln und Verfasserin mehrerer arbeitsrechtlicher Fachbücher zur Zeitarbeit.
Sandra Urban-Crell, Neue Tarifverträge mit Branchenzuschlägen: . In: Legal Tribune Online, 12.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7515 (abgerufen am: 21.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag