Was ist dran an der "Jobrevolution"?: Mehr Urlaub nur für Gewerk­schafter?

"Sonderurlaub für Gewerkschafter in der Chemieindustrie" – so liefen die Agenturmeldungen vergangene Woche über den Newsticker. Worum geht es dabei genau und wäre eine solche Ungleichbehandlung überhaupt erlaubt?

"Job-Revolution!" und "Extra-Urlaub für Gewerkschafter", titelte vor einigen Tagen die Bild-Zeitung. Die dpa war detaillierter: "Bei den Tarifverhandlungen für die deutsche Chemie-Industrie haben IG BCE und Arbeitgeber einen zusätzlichen freien Tag nur für Gewerkschaftsmitglieder vereinbart. Erstmals wurden damit neben den allgemeinen Gehaltssteigerungen um 6,85 Prozent am Donnerstag in Bad Breisig am Rhein exklusive Vorteile in einem großen Flächentarifvertrag festgeschrieben."

Schaut man sich den Tarifabschluss indes genauer an, so ist damit aber kein jährlicher Sonderurlaub für Gewerkschaftsmitglieder gemeint. Vielmehr erhalten nach dem Tarifabschluss 2024 der Chemieindustrie die Beschäftigten zwei Prozent mehr Geld ab 1. September 2024, eine weitere Erhöhung folgt sodann zum 1. April 2025 um weitere 4,85 Prozent.

Aktive Gewerkschaftsmitglieder erhalten auf Antrag und gegen Nachweis einen Zeitausgleich im Umfang von einem Arbeitstag pro Jahr. Auch Mitgliedsjubiläen führen zu einem Tag Freizeitausgleich. Ein jährlicher Tag Sonderurlaub allein für die Gewerkschaftszugehörigkeit ist damit nicht verbunden.

Für wen gilt ein Tarifvertrag?

Die tarifvertragliche Frage, die im Raume steht, bleibt aber spannend: Dürften Gewerkschaft und Arbeitgeberverband eine Regelung in einem Tarifvertrag aufnehmen, die Gewerkschaftern besondere Vorteile gewährt? Auf den ersten Blick erscheint dies gar nicht notwendig zu sein, denn nach dem Tarifvertragsgesetz (TVG) gelten Tarifverträge gem. § 3 Abs. 1 TVG unmittelbar und zwingend nur für diejenigen Arbeitnehmer, die selbst Mitglied der Gewerkschaft sind.

Außenseiter, also Mitarbeiter in Betrieben, die einer arbeitgeberseitigen Tarifbindung unterliegen, haben qua Gesetz somit keinen Anspruch auf die Leistungen aus dem Tarifvertrag. Daher bedürfte es auch keiner weitergehenden Regelung, um Gewerkschaftern besondere Leistungen zu gewähren. Allerdings wenden tarifgebundene Arbeitgeber regelmäßig den Tarifvertrag und dessen Regelungen auf die gesamte Belegschaft an. Sie differenzieren nicht dazwischen, welcher Arbeitnehmer in der Gewerkschaft ist und wer nicht.

Sinn und Zweck von Bezugnahmeklauseln

Rechtlich geschieht dies über arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln. Danach finden auf das jeweilige Arbeitsverhältnis diejenigen Tarifverträge Anwendung, auf die im Arbeitsvertrag konkret Bezug genommen ist. Das vordergründige Argument auf Arbeitgeberseite dafür ist der Wunsch nach Lohngleichheit für alle Beschäftigten und Vereinheitlichung der Abrechnung.

Die Bezugnahmeklauseln haben allerdings noch eine weitere Wirkung, die jedenfalls reflexartige Folge ist, auch wenn sie arbeitgeberseitig nicht zwangsläufig intendiert ist. Besondere Leistungen nur für Gewerkschafter setzen einen hohen Anreiz, in eine Gewerkschaft einzutreten. Das stärkt die Gewerkschaft in verschiedener Hinsicht: Der Organisationsgrad, also die Anzahl derjenigen Mitarbeiter der Belegschaft, die Gewerkschafter sind, steigt. Die Gewerkschaft wird also im jeweiligen Unternehmen mächtiger. Zudem zahlen Gewerkschaftsmitglieder Beiträge, die in der Regel bei einem Prozent des monatlichen Bruttogehalts liegen und damit nicht unerheblich sind. Vom klassischen Verständnis kollektivrechtlicher Arbeitsbeziehungen her haben Arbeitgeber hieran natürlich kein großes Interesse. Denn eine schlagkräftige Gewerkschaft wäre bei der nächsten Tarifrunde ein Gegenspieler, der womöglich höhere Forderungen stellen und durchsetzen kann. Dies ist naturgemäß nicht das Interesse der Arbeitgeberseite.

Anreize im Tarifvertrag

Aus Gewerkschaftssicht sind Bezugnahmeklauseln damit nicht ureigenes Interesse, stellen sie doch nicht organisierte Außenseiter mit den eigenen Mitgliedern gleich. Um die Anreize des Tarifvertrags exklusiv zu gestalten, müssten die tarifvertraglichen Vorteile also nur tatsächlich organisierten Arbeitnehmern zukommen. Dies lässt sich rechtlich mittels sogenannter Differenzierungsklauseln umsetzen. Das ist eine Regelung im Tarifvertrag selbst, die den Arbeitgeber verpflichtet, den Gewerkschaftern die ausgehandelten Vorteile exklusiv zukommen zu lassen bzw. Unternehmen dazu zu verpflichten, Gewerkschaftsmitgliedern immer etwas mehr als Außenseitern zu zahlen.

Solche Regelungen sind aber vor der verfassungsrechtlich geschützten negativen Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG) nicht unproblematisch. Denn genauso wie die Tätigkeit der Gewerkschaft und Betätigung als Gewerkschafter geschützt ist, ist auch deren Kehrseite in Form der negativen Koalitionsfreiheit geschützt. Kein Arbeitnehmer darf demnach unzulässigen Druck erfahren, in eine Gewerkschaft einzutreten, denn auch der Wunsch, einer Gewerkschaft fernzubleiben, ist verfassungsrechtlich anerkannt.

Im Grundsatz erlaubt das Arbeitsrecht derartige Regelungen nur, sofern kein unzulässiger Druck zum Eintritt in die Gewerkschaft gesetzt wird. Die Rechtsprechung macht dies daran fest, ob es dem Arbeitgeber durch vertragliche Gestaltungen und Bezugnahmeregelungen möglich bleibt, den Nachteil für Nicht-Gewerkschafter auszugleichen. Wird dies tarifvertraglich untersagt, ist die negative Koalitionsfreiheit unangemessen beeinträchtigt.

Differenzierungsklausel in der Rechtsprechung

Wäre also Zusatzurlaubstage für Gewerkschaftsmitglieder zulässig? Nach einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Urt. v. 22.9.2010, 4 AZR 117/09) ist dies im Kern nicht zu beanstanden. Der seinerzeitigen Entscheidung lag eine Konstellation zugrunde, bei der sich in einem regional geltenden Tarifvertrag einer Kurverwaltung eine Regelung befand, wonach Arbeitnehmer, "die nachweislich Mitglied der tarifvertragsschließenden Gewerkschaft sind", ein "Festbetrag i. H. v. 250 Euro brutto und ein zusätzlicher Urlaubstag" gewährt wurde. Eine nicht-organisierte Arbeitnehmerin hielt diese tarifvertragliche Differenzierungsklausel für unwirksam und klagte auf Zusatzurlaub und Sonderzahlung.

Vor dem BAG war sie damit nicht erfolgreich. Zwar wog das Erfurter Gericht die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln vor dem Hintergrund der negativen Koalitionsfreiheit ab. Diese werde durch eine einfache Differenzierungsklausel aber nicht beeinträchtigt. Eine solche Klausel, die als zusätzliches Tatbestandsmerkmal für das Entstehen eines einzelnen Anspruchs die Mitgliedschaft in der tarifschließenden Gewerkschaft verlange, sei eine zulässige Gestaltung. Denn Arbeitgeberverband und Gewerkschaft seien bei der Bestimmung der tatbestandlichen Voraussetzungen für tariflich geregelte Ansprüche weitgehend frei. Die geschützte negative Koalitionsfreiheit werde durch eine solche einfache Differenzierungsklausel nicht beeinträchtigt. Die Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien beschränke sich ausschließlich auf ihre Mitglieder. Eine gesetzlich zwingende Wirkung einer Tarifregelung auf Außenseiter sei damit ausgeschlossen. Auch beschränke eine einfache Differenzierungsklausel nicht die Handlungs- und insbesondere Vertragsfreiheit des Arbeitgebers. Diesem bleibe es weiterhin möglich, seine vertraglichen Beziehungen zu nicht oder anders organisierten Arbeitnehmern frei zu gestalten.

Diese Sichtweise der Arbeitsgerichtsbarkeit findet auch seine verfassungsrechtliche Bestätigung. Erst 2018 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Beschl. v. 14.11.2018, 1 BvR 1278/16) ausdrücklich bestätigt, dass die in einem Tarifvertrag vorgesehene Differenzierung zwischen Gewerkschaftern einerseits und nicht organisierten Arbeitnehmer andererseits kein Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit darstellt. Voraussetzung ist allerdings, dass sich daraus nur ein faktischer Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt ergibt, aber weder Zwang noch Druck entsteht.

Sonderurlaub für Gewerkschaftler wäre erlaubt

Auch wenn der aktuelle Tarifabschluss der Chemieindustrie dies nicht vorsieht, sondern nur einen Freizeitausgleich für engagierte Gewerkschaftsarbeit bereithält: Eine tarifvertragliche Regelung mit der Gewährung von Zusatzurlaub allein für die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft wäre zulässig. Allerdings dürfte damit im Ergebnis nichts gewonnen sein, da Arbeitgeber durch entsprechende Anpassung der arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklauseln diese Leistung auch an nicht-organisierte Arbeitnehmer weitergeben dürften und dies vermutlich auch würden.

Der Autor Prof. Dr. Michael Fuhlrott ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei Fuhlrott Arbeitsrecht in Hamburg.

Zitiervorschlag

Was ist dran an der "Jobrevolution"?: . In: Legal Tribune Online, 01.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54894 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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