Der Masterplan Migration unter der Lupe: Ord­nung muss sein

Gastbeitrag von Dr. Constantin Hruschka

11.07.2018

Migration ist viel mehr als bloß Asylpolitik. Doch im Masterplan des BMI geht es vor allem um Abschreckung von Flüchtlingen und Abwehr von Zuständigkeiten. Dabei stammen die meisten Zuwanderer aus der EU, erklärt Constantin Hruschka.

Der am Dienstag vorgestellte Masterplan Migration des Bundesinnenministerium (BMI) enthält 63 Maßnahmen "zur Ordnung, Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung". Wer allerdings ein umfassendes Zuwanderungskonzept erwartet hatte, wird enttäuscht: Der Plan befasst sich nämlich gar nicht mit der zahlenmäßig größten Zuwanderergruppe, den Unionsbürgern. Zu den Drittstaatsangehörigen, die nicht über die "Asylschiene" nach Deutschland kommen, finden sich lediglich zwei Punkte in dem Plan (Nr. 43: Förderung legaler Zuwanderung und Nr. 52: Integrationsförderung).

Der Rest des Masterplans beschäftigt sich im Wesentlichen mit der Asylpolitik. Dabei geht es einerseits um Migrationsverhinderung, Abschreckung und die Verhinderung der Dublin-Zuständigkeit Deutschlands und andererseits um die Beschleunigung von Asylverfahren, die Integration mittels Sanktionen sowie eine effizientere Rückführungspolitik.

Das BMI identifiziert vier sich teilweise überlappende Handlungsfelder, auf denen die Ziele der Ordnung, Steuerung und Begrenzung erreicht werden sollen. Diese sind: die Herkunftsländer, die Transitländer, die Europäische Union und die nationale Ebene.

Mehr Geld und Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern

Mit den Maßnahmen Nr. 1 bis 10 sollen unter anderem Rechtstaatlichkeit, Zugang zu Bildung und Ausbildung sowie nachhaltige Entwicklung in den Herkunftsländern ermöglicht und die ODA (Official Development Assitance)-Quote nachhaltig erhöht werden. Die ODA-Quote weist aus, wieviel Gelder für Entwicklungszusammenarbeit ein Land bezogen auf sein Bruttonationaleinkommen aufwendet.

Allerdings können nach den Regeln der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) auf die ODA-Quote auch Maßnahmen angerechnet werden, die im ersten Jahr des Aufenthalts für Asylsuchende und Flüchtlinge im Inland aufgewendet werden. Es könnten also je nach Berechnung auch die Kosten der Anker-Zentren und der Rückkehrpolitik Berücksichtigung finden, was die Frage aufwirft, ob tatsächlich deutlich mehr Geld für die Entwicklungszusammenarbeit selbst aufgewendet wird.

Eine nachhaltige Zusammenarbeit mit insbesondere afrikanischen Ländern und Ländern im Nahen Osten ist aber sicherlich geeignet, zum Abbau des weltweiten Armutsgefälles beizutragen, insbesondere wenn – wie vorgeschlagen - "ein wesentlich stärkeres finanzielles Engagement der Europäischen Union und eine Neugestaltung fairer Handelsbeziehungen" ernsthaft vorangetrieben würde.

Im Handlungsfeld Herkunftsländer sollen auch der Ausbau der polizeilichen Zusammenarbeit, die Rückkehrberatung und Beratung in den Herkunftsländern sowie die Rückübernahmebereitschaft von Herkunftsländern in den Blick genommen werden.

Kaum Neues bei den Transitländern

Auch in der Zusammenarbeit mit den Transitländern werden keine wesentlich neuen Maßnahmen vorgeschlagen. Die Maßnahmen Nr. 11-17 sollen vor allem die Schlussfolgerungen des Rates vom 28. Juni 2018 umsetzen helfen. Dabei wird der Schwerpunkt auf polizeiliche Schulung, Beratung in den Transitländern und den Aufbau von Strukturen zur Durchführung von Asylverfahren gelegt. Es sollen zudem mehr Transitzentren und "sichere Orte" (explizit erwähnt werden die "Ausschiffungsplattformen") geschaffen werden. Die praktische Wirksamkeit und rechtliche Zulässigkeit dieser Maßnahmen ist zumindest fraglich.

Auf der Ebene der Europäischen Union sind die Maßnahmen Nr. 18-25 angesiedelt. Sie sehen einerseits eine Stärkung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex und der polizeilichen Zusammenarbeit vor, sowie eine Fokussierung auf Maßnahmen außerhalb der Europäischen Union (EU), wie etwa dem EU-Türkei-Deal. Andererseits soll das Gemeinsame Europäische Asylsystem effizient, krisenfest und solidarisch umgestaltet werden.

Allerdings ist der Anspruch, dass das Verfahren fair sein soll, lediglich auf die Verteilung und nicht auf das Asylverfahren selbst bezogen. Dieses soll vielmehr "effizient", "schnell“"und "einheitlich" werden. Das BMI bekennt sich klar zu der Konzeption kontrollierter Einrichtungen, was effektiv bedeutet, dass geschlossene "Hotspots", die faktisch Haftstrukturen gleichkommen, in Griechenland und Italien unterstützt und zudem als Standardmodell für Erstaufnahmeeinrichtungen in der EU festgelegt werden sollen. Daneben möchte sich das BMI für eine umfassende Dublin-Reform einsetzen. Positiv ist dabei das Bekenntnis zu einer solidarischen und fairen Verteilung in Europa zu erwähnen.

Nationales Zuwanderungsgesetz für Fachkräfte

Im Handlungsfeld "Inland/national" sind Maßnahmen auf vier Ebenen vorgesehen, diese betreffen Binnengrenzen/Schengen, Asyl- und ausländerrechtliche Verfahren, Integration und Rückkehr und sind teilweise schon ausführlich diskutiert worden, wie etwa die Pläne zu Schengen (Nr. 26-31).

Von den Punkten zu asyl-und ausländerrechtlichen Verfahren (Nr. 32-43) betrifft nur der letzte (Nr. 43) nicht den Umgang mit Personen aus Asylverfahren. In diesem letzten Punkt wird die Erarbeitung eines Fachkräftezuwanderungsgesetzes mit weiteren flankierenden Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität des Arbeitsortes Deutschland angekündigt.

Die effizienteren Asylverfahren stehen im Mittelpunkt der nationalen Maßnahmen und sollen insgesamt unter Einbeziehung und Koordination vieler staatlicher Stellen erfolgen, wohingegen andere Akteure, die beispielsweise laut Koalitionsvertrag, die unabhängige Rechtsberatung in den Ankerzentren gewährleisten sollen im Plan nicht erwähnt sind.

Die Maßnahmen zur Integration (Nr. 44-52) fokussieren auf die Sanktionierung von Personen, die trotz der Verpflichtung zu Teilnahme an einem Integrationskurs dort nicht teilnehmen und auf die schon lange notwendige Qualitätsverbesserung der Integrationsangebote durch eine Evaluation und stärkere Begleitung der Kurse.

Im Bereich der Rückkehr (Nr. 53-63) sollen vor allem die bundespolizeilichen Befugnisse und der Datenaustausch verbessert bzw. ermöglicht werden und durch eine Zentralisierung von Befugnissen beim Bund effizienter gestaltet werden. Daneben stehen Sanktionierungsmöglichkeiten und die Mitwirkung von ausreisepflichtigen Personen (unter anderem bei der Passbeschaffung) im Mittelpunkt der vorgeschlagenen Maßnahmen. Zudem sollen auch Personen ("Dritte") sanktioniert werden können, die die "Durchsetzung der Ausreisepflicht" behindern. Dies könnte in einer weiten Auslegung alle Personen oder Organisationen betreffen, die Personen ungeachtet ihres rechtlichen Status beraten, ähnlich wie dies in Frankreich mit dem sog. Solidaritätsdelikt der Fall war, das das französischen Verfassungsgericht letzte Woche für verfassungswidrig erklärt hat. Das BMI plant darüber hinaus, Haft und Rückführungen leichter zu ermöglichen und kündigt an, zu diesem Zweck die EU-Rückführungsrichtlinie reformieren zu wollen.

Gefährdung rechtsstaatlicher Grundgarantien

Der Plan bietet wenig neue Impulse, da viele der Maßnahmen bereits in der Diskussion waren oder sind beziehungsweise schon (oft erfolglos) "getestet" wurden. Er ist aber von seinem einseitigen Fokus auf den Asylbereich und vom generellen Bild von schutzsuchenden und migrierenden Personen  als potentielle Gefährder, unkooperative, obstruktive und generell dem Missbrauch zuneigende Personengruppe geprägt. Von einem "Masterplan" zur Asylpolitik wäre auch ein Fokus auf faire Asylverfahren, auf effektive Integrationsförderung und nicht nur auf Sanktionierungen und Ausschluss zu erwarten gewesen.

Der Masterplan zeichnet darüber hinaus ein Bild des Umgangs in Deutschland mit Migration, das von Chaos und Unfähigkeit geprägt ist, was sich in der vielfachen Betonung der Notwendigkeit zu grundlegenden Reformen (unter anderem bei den Asylbehörden) und zur Effizienzsteigerung insbesondere im Hinblick auf Grenzschutz, Rückführungen und Integrationsmaßnahmen zeigt. Damit werden unter anderem auch die Behörden und deren Mitarbeitende diskreditiert, die in zum Teil weit überobligatorischem Engagement dazu beigetragen haben, die gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen im Zusammenhang mit Fluchtmigration zu bewältigen.

Der Masterplan des BMI geht aber noch einen Schritt weiter. Im Namen der Effizienz gefährdet er (bewusst oder unbewusst) rechtsstaatliche Grundgarantien. Datenschutz, die Fairness der Asylverfahren, die Bewegungsfreiheit, die allgemeine Handlungsfreiheit und der Rechtschutz werden unter den Vorbehalt der Effizienz gestellt und damit rechtlich entwertet. Durch den Fokus auf Leistungskürzungen, Sanktionierungsmöglichkeiten und Sachleistungen wird zudem der Zugang zu Leistungen in einer Weise eingeschränkt, die der grundgesetzlichen Menschenwürdegarantie zu widersprechen scheint. Die Pläne zur Reform der Dublin-Verordnung und der Rückführungsrichtlinie müssen in diesem Kontext wohl so verstanden werden, dass die grund- und verfahrensrechtlichen Garantien für Asylsuchende in Frage gestellt werden und zum Ziel haben, die entsprechende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu unterlaufen.

Orientierung an grund- und menschenrechtlichen Minimum

Hierin zeigt sich das insgesamt vorherrschende Dilemma der als "Asylwende" angekündigten Maßnahmen: Die Rechtsetzung und der Umgang mit Flüchtlingen sind bereits jetzt zumindest am grund- und menschenrechtlichen Minimum orientiert. Weitere Verschärfungen sind nur unter Hinnahme der (teilweise massiven) Grundrechtseingriffe denkbar, die der Masterplan vorschlägt. Die Wahrung der Rechte von migrierenden Personen generell und speziell von Flüchtlingen kommt an keiner Stelle des Masterplans zur Sprache.

Zur Durchsetzung dieser rechtstaatlich fragwürdigen Entwicklungen setzt das BMI auf eine – angesichts der deutlich zurückgegangenen Zahlen – kontrafaktische Perpetuierung der Krisenrhetorik und nutzt sprachliche Bilder, die – realitätswidrig – suggerieren, alle migrierenden Personen hätten Deutschland als Zielland ausgewählt (oder würden es auswählen, wenn sie könnten) und kämen, um in die Sozialsysteme zuzuziehen. Ein Masterplan Migration, der arbeitsmarktbezogene Maßnahmen nicht einmal andeutet und keine Bildungs- und Ausbildungsoffensive ankündigt, verschenkt die sich bietenden Chancen.

Um dies zu ändern, wären jedenfalls eine abgestimmte, nachhaltige und kohärente Zusammenarbeit aller beteiligten Ministerien und Verwaltungseinheiten auf Bundes-, Länder- und Kommunalebene sowie eine nachhaltige und umfassende Einbeziehung internationaler und nationaler nicht-staatlicher Akteure notwendig. Auch die Einbeziehung einschlägiger wissenschaftlicher Forschungsergebnisse wäre wünschenswert. Der innenministerielle "Masterplan" erweist sich als Kontroll- und Sanktionsplan, der angesichts der Komplexität der Migrationsphänomene und der vielfältigen Handlungsfelder wesentlich zu kurz greift.

Der Autor Dr. Constantin Hruschka ist Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. Zuvor arbeitete er als Leiter der Abteilung Protection der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH sowie als Jurist für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Er unterrichtet Europäisches Recht und Internationales, Europäisches und nationales Asyl- und Flüchtlingsrecht an den Universitäten Bielefeld, Erlangen-Nürnberg und Fribourg (Schweiz) und ist Mitglied der Eidgenössischen Migrationskommission EKM.

Zitiervorschlag

Der Masterplan Migration unter der Lupe: . In: Legal Tribune Online, 11.07.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29691 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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