Impfzwang und Verfassung: Mit Macht gegen Masern?

von Prof. Ulrich M. Gassner

10.07.2013

Masern sind keine Bagatellerkrankung, sondern gefährlich. Einer von 1000 Infizierten stirbt. Aktuell sind die Masern in Deutschland erneut so massiv ausgebrochen, dass  Bundesgesundheitsminister Bahr (FDP) mitgeteilt hat, es müsse über einen Impfzwang nachgedacht werden. Ob ein solcher rechtlich überhaupt zulässig wäre, untersucht Prof. Ulrich M. Gassner.

Impfzwang hat Tradition in Deutschland. Schon 1807 wurde in Bayern die obligatorische Pockenschutzimpfung eingeführt. Am 1. April 1875 trat das Reichsimpfgesetz in Kraft. Danach musste jedes Kleinkind gegen Pocken geimpft werden. Eine zweite Impfung war ab Vollendung des 12. Lebensjahres vorgesehen. Um in eine Schule aufgenommen zu werden, musste ein Impfschein vorgelegt werden.

Ebenso wie heute war der Impfzwang auch damals wegen der möglichen Impfschäden überaus umstritten. Glühende Impfgegner fanden sich nicht nur unter Ärzten, sondern auch unter Juristen, die sich auf Freiheitsrechte beriefen. Gerichtsentscheidungen zum Impfzwang widersprachen sich häufig, doch hielten die Reichstagsmehrheit wie auch die nachfolgenden Gesetzgeber am Impfzwang fest. Der Erfolg gab ihnen Recht: Der letzte natürliche Pockenfall in Deutschland trat 1972 auf. Weltweit sind Pocken seit 1980 ausgerottet.
Bei Masern gibt es keine Impfpflicht – und auch keine solche Erfolgsgeschichte.

Etwa 10 Prozent der deutschen Bevölkerung steht Impfungen kritisch gegenüber, knappe 3 Prozent sind erklärte Impfgegner. Die Impfquote bewegt sich zwar auf hohem Niveau, reicht aber nicht aus, um Krankheitsausbrüche zu verhindern. Im ersten Halbjahr 2013 waren knapp 1100 Masernfälle zu verzeichnen. Um die Krankheit zu eliminieren, wäre eine Höchstzahl von 80 Fällen erforderlich. Die entsprechenden Impfraten für die erste und zweite Dosis der Kombinationsimpfung gegen Masern, Mumps und Rötel müssten auf jeweils über 95 Prozent der Gesamtbevölkerung ansteigen.

Mit dem "Interventionsprogramm Masern, Mumps, Röteln" hat sich Deutschland dem  Ziel der Weltgesundheitsorganisation in der Region Europa angeschlossen, Masern und Röteln bis 2015 zu eliminieren. Die Einführung einer Impfpflicht scheint hierfür ein probates Mittel zu sein.

Das Mittel der Wahl

Das rechtliche Instrumentarium für die Einführung einer Impfpflicht für Masern liegt bereit. § 20 Abs. 6 S. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG)  ermächtigt das Bundesministerium für Gesundheit (BMG), "durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates anzuordnen, dass bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen oder anderen Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe teilzunehmen haben, wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist".

Wird auf dieser Grundlage ein Impfzwang bei Minderjährigen eingeführt, entsteht ein Vollzugsproblem, wenn sich impfkritische Erziehungsberechtigte weigern, die Impfung in die Wege zu leiten. Jugendämter und Familiengerichte müssten eingeschaltet werden, um die Einwilligung zu erzwingen, wenn ein Bußgeld auf Grundlage von § 72 Abs. 1 Nr. 24, Abs. 2 IfSG nicht zum Erfolg führt.

Außerdem enthält § 20 Abs. 6 S. 1 IfSG Tatbestandselemente, die schon deshalb  eng auszulegen sind, weil sie einen Eingriff in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz (GG) erlauben. Das bedeutet etwa, dass wirklich nur "bedrohte Teile der Bevölkerung" einer Zwangsimpfung unterzogen werden dürfen. Zunächst muss eine echte, also konkrete Bedrohungslage für die betroffenen Bevölkerungsgruppen bestehen. Das Ziel, die Masern auszurotten, reicht hierfür genauso wenig aus wie das Bestreben, die Impfquote zu erhöhen.

Die generelle Durchimpfung der Bevölkerung ist nach dem klaren Wortlaut ebenfalls ausgeschlossen. Darüber hinaus folgt aus der Bestimmung ein Differenzierungsgebot: Lassen sich, wie das offenbar bei Masern der Fall ist, unterschiedliche Gefährdungslagen bzw. Impfquoten bei verschiedenen Alterskohorten feststellen, ist der Verordnungsgeber verpflichtet, entsprechend zu unterscheiden.

Zwang zum Selbstschutz und Recht auf Impfung

Die Verpflichtung zum Schutz gegen sich selbst kann in einer freiheitlichen Verfassungsordnung nur unter zwei besonderen Umständen gerechtfertigt werden. Die eine Ausnahme betrifft den Fall, dass sich der Betroffene in einem die Willensfreiheit ausschließenden Zustand befindet. Die zweite Ausnahme ist der Schutz Dritter. Dass es beim Impfzwang mittelbar um den Schutz nicht geimpfter Personen vor Ansteckung geht, liegt auf der Hand. Zwar sind die durch eine zu geringe Impfquote gefährdeten Personen gerade auch diejenigen, die sich bewusst gegen eine Impfung entschieden haben. Ginge es nur um den Schutz dieser Personengruppe, ließe sich ein Impfzwang nicht rechtfertigen. Doch ist die individuelle Entscheidung gegen die Impfung notwendig drittbezogen. Denn sie wirkt gefahrerhöhend für alle diejenigen, die keine solche bewusste Entscheidung getroffen haben oder an deren Stelle die Erziehungsberechtigten entschieden haben. Deshalb kann Impfzwang grundsätzlich verfassungsgemäß sein.

Aus diesem Grund ist das noch zur Pockenschutzimpfung ergangene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 14. Juli 1959  (Az. I C 170.56) keineswegs überholt.

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat seinerzeit nicht nur den Impfzwang für verfassungsgemäß erklärt, sondern  auch entschieden, dass der Impfpflicht "ein Recht des Bürgers auf Impfung" entspricht. Ein solches Recht haben grundsätzlich auch Kinder gegenüber ihren impfkritischen Eltern, wenn man der herrschenden Schutzpflichtenlehre folgt. Zwar gewährt Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ein Abwehrrecht der Eltern gegenüber staatlichen Eingriffen in Kinderpflege und -erziehung. Doch weist Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG dem Staat eine Ausfallbürgschaft zu, wenn Eltern das Kindeswohl nachhaltig gefährden.

Aus Sicht von Impfgegnern gefährdet allerdings gerade die Vornahme von, nicht der Verzicht auf Impfungen, das Kindeswohl. Will der Verordnungsgeber sein Wächteramt ausüben, ist er deshalb verpflichtet, seine Entscheidungen auf gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse zu gründen.

Parlamentsvorbehalt und liberaler Paternalismus

Verfassungsrechtlich prekär ist freilich die Frage der Regelungsebene. Achtung und Schutz der körperlichen Integrität können, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) z.B. in seiner Kammer-Entscheidung vom 14. Dezember 2004 (Az. 2 BvR 1249/04) im Fall Daschner verdeutlicht hat, auch von der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG erfasst werden. Zwar wird man kaum annehmen können, die bewussten Impfgegner würden durch einen Impfzwang unter Verlust ihres sozialen Wert- und Achtungsanspruchs zum bloßen Objekt der Masernbekämpfung herabgewürdigt. Aber auch unabhängig hiervon stehen hier gewichtige Freiheitsgewährleistungen, wie das Recht auf Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), auf dem Spiel. Angesichts dessen erfordert die Einführung eines Impfzwangs eine besonders starke demokratische Legitimation, die nur durch einen Parlamentsbeschluss vermittelt werden kann. Solche "wesentlichen" Entscheidungen dürfen also nicht durch den Verordnungsgeber getroffen werden.

Dieses verfassungsrechtliche Risiko ließe sich durch alternative weiche Steuerungsmaßnahmen, wie etwa Boni für die Inanspruchnahme oder eine verbesserte Aufklärung über die Risiken der Nicht-Impfung, vermeiden.  Zumindest aber hätte man solche Überlegungen von einem liberalen Gesundheitsminister eher erwartet, als einen vorschnellen Rückgriff auf das problematische Instrument des Impfzwangs.

Der Autor Prof. Dr. Ulrich M. Gassner ist Direktor des Instituts für Bio-, Gesundheit- und Medizinrecht an der Universität Augsburg und Dozent am Munich Intellectual Property Law Center.

Zitiervorschlag

Impfzwang und Verfassung: . In: Legal Tribune Online, 10.07.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9108 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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