Warum wurde die Webseite der "Letzten Generation" im Zuge der Razzia komplett abgeschaltet – und war das verhältnismäßig? Darf die Polizei eine Webseite für ihre eigene Warnung nutzen? Ein Gerichtsbeschluss wirft neue Fragen auf.
Die Generalstaatsanwaltschaft München ließ Ende Mai nicht nur bundesweit Wohnungen von Klimaaktivisten durchsuchen, sie kaperte auch die Webseite der "Letzten Generation". Dort prangte im Netz plötzlich ein Warnhinweis: "Die Letzte Generation stellt eine kriminelle Vereinigung gemäß § 129 StGB dar!" Und: Wer immer an die Organisation spende, mache sich wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung strafbar.
Die Beschlagnahme einer Webseite ist in Deutschland ein außergewöhnlicher Vorgang. Dass die Staatsanwaltschaft eine öffentliche Webseite abschalten und stattdessen eine eigene Warnung verbreiten lässt – die zudem in ihrer ersten Fassung vorverurteilend über das Ziel hinausschoss – ist bemerkenswert.
Die Beschlagnahme segnete ein zuständiger Richter am Amtsgericht München am Vortag der Razzia ab. Die Begründung des Beschlusses, der LTO vorliegt, wirft weitere Fragen auf.* Gestützt wird die Beschlagnahme auf die Vorschriften zu Beweismitteln, eine Kette von Paragraphen der Strafprozessordnung (94 Abs. 2, 98 Abs. 1 StPO). Beschlagnahmt werden sollten Daten der Domain "letztegeneration.de", die von dem privaten Domaindienstleister Strato AG in Berlin verwaltet wird. Der Beschluss stützt sich auch auf die bereits bekannt gewordenen Ausführungen, warum die Letzte Generation als kriminelle Vereinigung nach § 129 Strafgesetzbuch (StGB) einzustufen sei. Insoweit deckt er sich mit den Durchsuchungsbeschlüssen.
Beweise sichern oder Tatmittel wegnehmen?
Die Beschlagnahme von Beweismitteln dient grundsätzlich dazu, dass sie bei einem möglichen späteren Prozess den Richterinnen und Richtern vorgelegt werden können. Für den Zweck der Beweissicherung hätte aber das Erstellen einer Kopie der Webseite ausgereicht, wie Dominik Brodowski, Strafrechtprofessor an der Universität des Saarlandes, einordnet. "Das ist das mildere Mittel zur Beschlagnahme der Hardware, auf welcher die Webseite betrieben wird, oder auch der dort eingebauten Festplatte", so Brodowski.
Der Beschluss geht aber auch davon aus, dass es sich bei der Webseite um ein zentrales Tatmittel handelt. Ein milderes Mittel zur Beschlagnahme hätte nicht zur Verfügung gestanden. Das Vorgehen sei deshalb gerechtfertigt. Bei der Beschlagnahme von Tatmitteln (§ 74 StGB, § 111b StPO) wie etwa Waffen oder Einbruchswerkzeug, geht es, anders als bei der Sicherung zu Beweiszwecken, darum, den mutmaßlichen Tätern etwas zu entziehen, damit sie keine weiteren Straftaten begehen können. Beim Vorgehen gegen die Letzte Generation setzte die Generalstaatsanwaltschaft offenbar darauf, die Infrastruktur für die Spenden und damit die Finanzierung der Gruppe abzuschalten. Wird die Homepage als Tatmittel gesehen, fällt die Prüfung der Verhältnismäßigkeit leichter, denn dann wäre kaum ein anderes milderes Mittel vorstellbar.
Ging es nun um Beweissicherung oder um die Einziehung eines Tatmittels? In dem Beschluss wird beides erwähnt, aber nur eine Rechtsgrundlage genannt, die für die Beweissicherung. Anfragen von LTO dazu an die Generalstaatsanwaltschaft ließ die Pressestelle am Mittwoch unbeantwortet, so kurzfristig seien keine detaillierten Antworten möglich.
Rechtsanwältin: "Völlig unverhältnismäßig und rechtswidrig"
"Die Beschlagnahme der Internetseite der Letzten Generation war und ist völlig unverhältnismäßig und aufgrund der mangelhaften Begründungstiefe und Klarheit zum konkreten Umfang der Maßnahme auch sonst rechtswidrig", sagt die Wuppertaler Strafrechtsanwältin Andrea Groß-Bölting, die gegen den Beschluss vorgeht und den Domaininhaber der Webseite vertritt, also die Person, auf die die Webseite registriert ist. Die Person ist in dem Münchener Verfahren als Dritte betroffen und wird nicht als Beschuldigte geführt. Nach Informationen von LTO ermittelt aber die Staatsanwaltschaft Neuruppin wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) gegen sie.
Der Beschluss erlaube weder einen Weiterbetrieb der Seite noch das Aufbringen eines Banners und erst recht nicht die aktive Nutzung zur eigenen Öffentlichkeitsarbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft, so Groß-Bölting. "Das Maß des Eingriffs in Rechte zahlreicher unverdächtiger Nutzer der Webseite wird nicht thematisiert. Der Beschluss und seine Umsetzung lassen rechtsstaatliche Mindeststandards vermissen."
Ein Angebot zur Umleitung nach Bayern
Aus dem Beschluss ergeben sich Anhaltspunkte, was überhaupt an dem Tag der Razzia passiert ist. Die Generalstaatsanwaltschaft hatte bei der Strato AG eine Beschlagnahme angestrebt. Sie machte dem Unternehmen aber ein Angebot: Die Strato könnte eine Beschlagnahme abwenden, wenn sie freiwillig die Zugriffe der Internetnutzer statt auf die Webseite "letztegeneration.de" zu einer IP-Adresse der bayerischen IT-Verwaltung umleite. Das hätte Polizei und Staatsanwaltschaft theoretisch auch die Möglichkeit eröffnet, mehr über die Besucher der Letzten-Generation-Webseite zu erfahren. Denn wer das Angebot auf der Infrastruktur der bayerischen Verwaltung besucht hätte, hätte dort auch Datenspuren wie seine IP-Adresse hinterlassen. Ein solches Vorgehen erinnert den Strafrechtler Brodowski an einen Fall aus 2007, als das Bundeskriminalamt eine Art Fangschaltung auf der Behördenwebseite platzierte.
Für ihren Mandaten sagt Groß-Bölting: "Im Beschluss ist zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit eine Abwendungsbefugnis für die Beschuldigten und den Drittbetroffenen geregelt. Allerdings konnten die Betroffenen hiervon rechtswidrig keinen Gebrauch machen, weil der Beschluss ihnen gar nicht vor Beginn der Maßnahme bekannt gegeben wurde."
Wie Strato auf die Beschlagnahme reagierte, ist unklar. Auf Anfrage von LTO wollte sich das Unternehmen nicht zu dem Fall äußern. Ein Pressesprecher lässt nur wissen, man halte sich an Pflichten, die man im Zusammenhang mit behördlichen Anfragen habe, andererseits beachte man den Datenschutz zugunsten der Kundinnen und Kunden. Wer heute "letztegeneration.de" ansteuert, landet auf "letztegeneration.org" und findet dort alle Inhalte der alten Website, inklusive Spendenaufruf.
Durfte die Polizei die gekaperte Website mit einer eigenen Botschaft bestücken?
Den Strafrechtsprofessor Matthias Jahn von der Goethe-Universität in Frankfurt erinnert das Vorgehen an stolze Meldungen, die FBI und anderer US-Behörden regelmäßig hinterlassen, wenn sie Webseiten mit illegalen Inhalten beschlagnahmen.
In Deutschland gibt es wenig juristische Erfahrung mit dem behördlichen Kapern von Webseiten. 2011 löste die Beschlagnahme der Webseite des Streamingportals "kino.to" auch juristisch Unsicherheit aus. Die Polizei schaltete die Webseite nicht nur ab, sie hinterließ auch die Botschaft: "Die Kriminalpolizei weist auf Folgendes hin: Die Domain zur von Ihnen ausgewählten Webseite wurde wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung zur gewerbsmäßigen Begehung von Urheberrechtsverletzungen geschlossen." Darf die Polizei das? Braucht es für solche Hinweise eine eigene Rechtsgrundlage? Diese Fragen wurden soweit ersichtlich im Nachgang nie gerichtlich geklärt.
"Die Wiedergabe von objektiven und nachprüfbaren Informationen zu polizeilichen Maßnahmen halte ich für vertretbar und durch den staatlichen Informationsauftrag für gedeckt", sagt Dennis-Kenji Kipker, Professor für IT-Sicherheitsrecht an der Uni Bremen, zu LTO. Wer eine Webseite besuche, die abgeschaltet wurde, sollte als User aus Transparenzgründen von staatlichen Behörden den Hintergrund der Maßnahme erfahren, so Kipker. Das Bundesverfassungsgericht habe staatlichen Stellen etwa in seinen Entscheidungen zu Produktwarnungen einen weiten Spielraum eingeräumt, solange es um reines Informationshandeln geht. "Eigenmächtige behördliche Vorabverurteilungen außerhalb eines Strafverfahrens und nicht nachprüfbare Behauptungen sind davon allerdings nicht gedeckt", sagt Kipker.
Gut möglich, dass der Fall um die Webseite der "Letzten Generation" nun Gerichten die Gelegenheit verschafft, für Klarheit zu sorgen, wann unter welchen Voraussetzungen Webseiten gekapert werden dürfen – und wann nicht.
* Anm. d. Red.: Angesichts der Strafnorm des § 353d Strafgesetzbuch sieht sich LTO daran gehindert, wesentliche Teile des Beschlusses im Wortlaut wiederzugeben. Daher unterblieben teilweise Zitierungen. In diesem Fall werden die Aussagen von LTO vollständig sinnerhaltend wiedergegeben.
* Beitrag in der Version vom 8.6.2023, 8.40 Uhr, korrigiert wurde, dass es sich bei der Person um den Domaininhaber und nicht den Host handelt.
LTO liegt Beschluss vor: . In: Legal Tribune Online, 07.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51942 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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