Unternehmensverantwortung im syrischen Bürgerkrieg: War Lafarge an IS-Ver­b­re­chen betei­ligt?

Gastbeitrag von Anne Fock, LL.M.

24.05.2022

Zementhersteller Lafarge steht in Frankreich wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht. Ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die Straflosigkeit von Unternehmen, die in Kriegsgebieten Geschäfte machen, so Anne Fock.

Am vergangenen Mittwoch, dem 18. Mai 2022, hat ein Pariser Berufungsgericht verkündet, dass die Ermittlungen gegen Lafarge und seine syrische Tochtergesellschaft Lafarge Cement Cyria (LCS) wiederaufgenommen werden.

Das Verfahren bezieht sich auf Verbrechen in Nordsyrien, wo das Unternehmen im Jahr 2010 eine Fabrik bauen ließ. Um seinen Betrieb vor Ort aufrechtzuerhalten, soll das Unternehmen über die Tochter LCS und Mittelpersonen mehrere Millionen Dollar an den Islamischen Staat (IS) und andere terroristische Gruppen gezahlt haben. Auch soll es Zement an den IS verkauft sowie ihm im Gegenzug Rohstoffe wie Öl abgekauft haben.  

Gemäß dem im Jahr 2014 veröffentlichten Bericht der UN-Untersuchungskommission für die Arabische Republik Syrien machte sich der IS in dieser Zeit zahlreicher Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig. Die Terrormiliz ging systematisch gegen Minderheiten oder Andersdenkende in Form von Festnahmen, Folter, Todesdrohungen oder gewaltsamer Vertreibung vor, wie etwa im Fall der kurdischen Zivilbevölkerung.

Trotz des andauernden Krieges und obwohl der IS seit 2012 die Kontrolle über das Gebiet ausübte, räumte Lafarge die Fabrik erst im September 2014 vollständig. Damit verharrte der Zementhersteller weitaus länger als die meisten Unternehmen in der Konfliktzone, obwohl er Kenntnis von den Verbrechen gehabt haben muss. Lediglich seine nicht-syrischen Mitarbeitenden schickte es nach Ägypten und Jordanien. Syrische Mitarbeitende hingegen sollen trotz der gefährlichen Situation weiterhin dazu angehalten worden sein, zur Arbeit zu erscheinen.

Das Unternehmen teilte in einer Pressemitteilung mit, dass es sich seiner Fehler bewusst sei und Schritte eingeleitet habe, sodass diese sich nicht wiederholen.

Weltweit erste Anklage dieser Art

Zwei Nichtregierungsorganisationen (Non-governmental organization, NGO) hatten die Klage gegen das Unternehmen initiiert: der in Berlin ansässige European Center for Constitutional Rights (ECCHR) sowie der französische Verein Sherpa. Gemeinsam mit elf ehemaligen LCS-Angestellten reichten sie 2016 als Zivilparteien eine Strafanzeige gegen Lafarge und LCS ein. Die Hauptvorwürfe umfassten neben der Finanzierung von Terrorismus auch Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit.  

Nicht nur die ehemalige Führungsriege, sondern auch der Mutter- sowie Tochterkonzern selbst sehen sich vor Gericht diesen Anschuldigungen ausgesetzt. Weltweit handelt es sich um die erste Anklage einer juristischen Person für die Beteiligung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit.  

Geradlinig war der Weg dorthin jedoch nicht. 2019 hatte das Pariser Berufungsgericht den Vorwurf der Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit fallen gelassen. Dagegen wehrten sich die klagenden Organisationen erfolgreich: Im September 2021 hob das Kassationsgericht das Urteil des Berufungsgerichts auf. Jetzt hat das Berufungsgericht im zweiten Anlauf beschlossen, auch den Vorwurf der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den Blick zu nehmen.  

Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit?  

Ausschlaggebend war die Ansicht des Kassationsgerichts, "die wissentliche Zahlung einer Summe von mehreren Millionen Dollar an eine Organisation, deren Zweck ausschließlich krimineller Natur ist, [reiche aus], um die Komplizenschaft durch Hilfe und Unterstützung zu charakterisieren" (Übersetzung aus dem Französischen).  

Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sowohl im Völkerstrafrecht als auch in Art. 202-1 des französischen Code Pénal, zeichnen sich durch die Einbettung in einen ausgedehnten oder systematischen Angriff gegen eine Zivilbevölkerung aus.

Art. 7 Abs. 1 des Römischen Statuts listet verschiedene Handlungen wie Tötung, Versklavung, Folter, Vergewaltigung oder Apartheid auf, welche – wenn sie im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs verübt werden – Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Bei dem Kontextelement eines "ausgedehnten" Angriffs wird auf die Zahl der Opfer abgestellt; "systematisch" wird ein Angriff, wenn die Handlung nicht als isolierte Einzeltat begangen wird. In der Definition eines "Angriffs" in Art. 7 Abs. 2 des Statuts wird in diesem Sinne die Verbindung zur Politik eines Staates oder einer Organisation vorausgesetzt.  

Das französische Recht verlangt darüber hinaus einen konzertierten Plan der handelnden Person, damit die Tat als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten kann. Während diese Voraussetzung selbst nicht im Römischen Statut zu finden ist, scheint sie sich aus der Definition des Angriffs zu ergeben.

Kenntnis der Verbrechen der Haupttäter und der eigenen Unterstützung genügt

Das Kassationsgericht stellte sich die Frage, ob diese Voraussetzungen auch für die Feststellung der Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfüllt werden müssen. Es kam 2021 zu dem Schluss, dass die bloße Kenntnis darüber genügt, dass die Haupttäter oder -täterinnen ein solches Verbrechen begehen oder begehen werden, und dass die eigene Unterstützungshandlung den Vollzug des Verbrechens erleichtert.  

Das Gericht vermerkt dabei, dass eine andere Auffassung dazu führen würde, dass "zahlreiche Handlungen der Beihilfe [zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit] straffrei blieben" (Übersetzung aus dem Französischen).  

Diese Feststellung folgt außerdem dem Verständnis der "complicité" (direkte Übersetzung: Komplizenschaft) aus Art. 121-7 Code Pénal. Demzufolge ist Komplize oder Komplizin, wer die "Vorbereitung oder Vollendung [eines Verbrechens oder Vergehens] durch Unterstützung oder Beistand wissentlich gefördert hat" (Übersetzung aus dem Französischen). Das moralische Element bezieht sich dabei sowohl auf die Kenntnis über die Rechtswidrigkeit der unterstützten Handlungen, als auch auf das Bewusstsein des Komplizen oder der Komplizin, dass die Handlung die Straftat unterstützte.

Erstmals Anklage gegen Unternehmen als juristische Person

Obwohl die Ermittlungen erst wieder aufgenommen wurden und es bis zu einer möglichen Verurteilung der Konzerne noch dauern kann, sprechen die klagenden NGOs bereits von einer "historischen Entscheidung" und einem "Meilenstein". Das trifft zu, obgleich Unternehmen als Beteiligte an Verbrechen gegen die Menschlichkeit kein neues Szenario darstellen: Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Führungskräfte wegen Mittäterschaft verurteilt.  

Anders als bisher wird im Lafarge-Fall jedoch ein Unternehmen als juristische Person der Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezichtigt, nicht nur seine Spitzenleute.  

Aus mehreren Gründen blieb diese Tür bislang verschlossen: Während in Frankreich juristische Personen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können, ist dies bei Weitem nicht in allen Staaten der Fall. Auch durch sein 2017 verabschiedetes Lieferkettengesetz demonstrierte Frankreich, dass es die Strafverfolgung wirtschaftlicher Akteure ernst nimmt. 2021 zog auch Deutschland mit dem Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz nach, um unternehmerische Sorgfaltspflichten in globalen Lieferketten durchzusetzen.

Auch auf internationalem Level ist das Fehlen rechtlich durchsetzbarer Instrumente entscheidend. Verantwortungen sind hauptsächlich in – rechtlich nicht verbindlichen – sogenannten Soft-Law-Instrumenten verankert, wie etwa den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte.  

Eine weitere Hürde ist die fehlende Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs für juristische Personen. Obgleich ein Entwurf des Römischen Statuts die Schuldfähigkeit von Unternehmen miteinschloss, sprachen sich letzten Endes einige Mitgliedstaaten dagegen aus, da dies nicht ihren eigenen Rechtsordnungen entsprochen hätte. Dementsprechend beschränkt Art. 25(1) des Römischen Statuts die Strafbarkeit bislang auf natürliche Personen. Den Verbrechen seitens Unternehmen kann im Völkerstrafrecht daher nur über die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit oder die Vorgesetztenverantwortlichkeit gemäß Art. 28 des Statuts beigekommen werden.

Vielschichtige Strukturen multinationaler Unternehmen erschweren Ermittlungen

Zum anderen stehen die vielschichtigen Strukturen multinationaler Unternehmen oft dem Erfolg von Ermittlungen im Wege. Handelt es sich um die Aktivitäten einer Tochtergesellschaft im Ausland, sinkt die Bereitschaft zur Strafverfolgung angesichts mühsamer Ermittlungen.  

Multinationale Unternehmen konkurrieren in einer globalisierten Welt um die besten Produktionsbedingungen. Die Suche nach billigeren Arbeitskräften, ressourcenreichen Gegenden und weniger strengen Rechtsstandards verschlägt sie dabei oft in konfliktbehaftete Gebiete. Dies wird daher nicht der letzte Fall sein, in dem sich Unternehmen für ihre Teilnahme an Verbrechen vor Gericht verantworten müssen. Das Verfahren wird somit nicht nur Licht auf die fragwürdigen Verstrickungen von europäischen Unternehmen in Kriegsgebieten werfen; sein Ausgang wird darüber hinaus auch einen bedeutenden Präzedenzfall schaffen.  

Die Autorin Anne Fock, LL.M. (Universiteit Leiden) ist akademische Mitarbeiterin an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht, Europarecht und ausländisches Verfassungsrecht.

Zitiervorschlag

Unternehmensverantwortung im syrischen Bürgerkrieg: . In: Legal Tribune Online, 24.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48549 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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