Joachim Gauck hat im Fernsehen Zweifel daran geäußert, dass die Linke so weit sei, eine Regierung zu führen. Entgegen der teilweise geäußerten Kritik darf der Bundespräsident in maßvoller Form auch zu umstrittenen Fragen Stellung beziehen, erklärt Sebastian Roßner. Präsidiale Tradition steht schließlich nicht im Gesetz.
Es war am Sonntagabend im Bericht aus Berlin. Gefragt zu einem möglichen linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow in Thüringen, stellte Bundespräsident Joachim Gauck zunächst klar, dass Wahlentscheidungen der Bürger zu respektieren seien. Dann aber äußerte er Zweifel, ob die Linke sich inhaltlich schon so weit von der SED entfernt habe, dass man ihr "voll vertrauen" könne.
Prompt meldeten sich Kritiker wie Verteidiger der Gauck'schen Äußerungen zu Wort. Von der thüringischen Landesvorsitzenden der Linken Susanne Hennig-Wellsow wurde dem Präsidenten vorgehalten, auch er habe demokratische Entscheidungen zu akzeptieren - obgleich er eben das ausdrücklich getan hatte. Katja Kipping, die Linken Co-Vorsitzende auf Bundesebene, meinte gar, derartige Zweifel an der demokratischen Gesinnung der Mitglieder und Wähler ihrer Partei zu äußern, gehöre sich nicht für einen Bundespräsidenten. Cem Özdemir, Kippings Amtskollege bei den Grünen, äußerte dagegen Verständnis für den Bürgerrechtler, der das DDR-Unrecht noch am eigenen Leib erlebt habe.
Diese Reaktionen auf Gaucks Interview sind wenig verwunderlich, weil aus der jeweiligen politischen Position heraus motiviert. Die eigentliche Frage, die über den Einzelfall hinausgeht, lautet jedoch, wie weit sich der Bundespräsident in die Tagespolitik einschalten darf.
BVerfG: nicht an das Leitbild eines neutralen Präsidenten gebunden
Parteipolitische Neutralität des Bundespräsidenten ist kein ganz unbekanntes Thema, erst im Juni 2014 wies das Bundesverfassungsgericht eine entsprechende Klage der NPD gegen Gauck ab (BVerfG, Urt. v. 10.06.2014, Az. 2 BvE 4/13). Stein des Anstoßes war eine Äußerung des Staatsoberhauptes im Vorfeld der Bundestagswahl 2013. Gauck hatte seinerzeit dazu ermuntert, gegen "Spinner" auf die Straße zu gehen, die gegen ein Asylbewerberheim protestierten. Die NPD, die wesentlich an den ausländerfeindlichen Kundgebungen beteiligt war, fühlte sich durch die präsidiale Bemerkung benachteiligt.
Es lohnt sich, in dieses Urteil noch einmal hineinzuschauen, das in der gegenwärtigen Diskussion erstaunlich wenig erwähnt wird. Das Gericht betonte, der Bundespräsident repräsentiere Deutschland nach innen wie nach außen und übe so seine Integrationsfunktion aus. Er sei dabei frei, die Themen zu wählen, über die er mit der Gesellschaft kommunizieren wolle, und nicht an das Leitbild eines neutralen Präsidenten gebunden. Dieser Spielraum des Staatsoberhaupts sei begrenzt durch das Verbot, willkürlich Partei zu ergreifen.
Es spricht einiges dafür, diesem Karlsruher Richterspruch beizupflichten. Das Grundgesetz regelt zwar eine Reihe von Kompetenzen des Präsidenten ausdrücklich, wie die Vertretung Deutschlands nach außen, die Rolle bei der Wahl eines neuen Kanzlers oder die Mitwirkung bei der Gesetzgebung des Bundes.
Die präsidiale Tradition steht nicht im Grundgesetz
Zu der Frage, wie der Präsident repräsentieren und integrieren soll, schweigt es aber. In dieser Lücke entfaltet die Tradition eine große Bedeutung, die von den Amtsvorgängern geprägt wurde. Jahrzehntelang haben sich Bundespräsidenten meist recht zurückhaltend, eben präsidial geäußert und ihre persönlichen Positionen in aktuellen Auseinandersetzungen allenfalls anklingen lassen.
Gauck dagegen blieb - anders übrigens als bei seiner Spinner-Äußerung über die NPD-Anhänger - im Bericht aus Berlin zwar moderat im Ton, machte aber aus seiner persönlichen Ansicht kein Hehl, die Linke sei noch nicht so weit, in Deutschland Regierungen anzuführen.
Das Staatsoberhaupt entfernt sich damit zwar von der präsidialen Tradition. Aber in der Möglichkeit, das zu tun, besteht der Sinn des grundgesetzlichen Schweigens darüber, wie die Repräsentationsaufgaben wahrzunehmen sind. Wie zu repräsentieren ist, kann, je nach den Erfordernissen der Zeit und dem politischen Temperament des Amtsinhabers, immer wieder neu interpretiert werden. Es ist klug, dass sich die Verfassung zurückhält, der Kommunikation des Bundespräsidenten mit den Bürgern, die ja in ganz unterschiedlichen Situationen stattfinden muss, enge rechtliche Grenzen zu setzen.
Auch der Präsident aller Deutschen muss nicht schweigen
Das heißt nicht, dass keine Grenzen existierten. Sie ergeben sich daraus, dass der Bundespräsident als einzelne Person Deutschland repräsentiert und integriert. Er muss versuchen, der Präsident aller Deutschen zu sein. Das unterscheidet ihn von den Bundestagsabgeordneten, die einem großen und politisch vielfältigen Gremium angehören, das als Ganzes das deutsche Volk repräsentiert. Der einzelne Volksvertreter darf und soll prononciert bestimmte Meinungen und Interessen vertreten, denn er kann sich darauf verlassen, dass auch für die Gegenmeinung im Bundestag ein Fürsprecher auftreten wird und so die große Mehrzahl der Bürger ihre Ansichten im Parlament wiederfinden kann. Der Bundespräsident hingegen muss zurückhaltender und ausgewogener auftreten, weil er die Repräsentationsfunktion alleine wahrnehmen muss.
Das BVerfG hat in dem erwähnten Urteil versucht, diese politisch-funktionalen Argumente auf eine rechtliche Formel zu bringen, die markiert, wo die Grenze des präsidialen Spielraumes verläuft. Diese sei überschritten, sobald der Bundespräsident seine Integrationsfunktion evident vernachlässige und damit willkürlich Partei ergreife.
Von einer solchen evidenten Vernachlässigung der Integration oder einer willkürlichen Parteinahme kann im Fall von Gaucks Äußerung im Bericht aus Berlin nicht die Rede sein. Repräsentieren und integrieren heißt eben nicht, zu kontroversen Themen zu schweigen. Wenn ein Bundespräsident ein Thema für gesellschaftlich relevant hält, dann darf und soll er sich dazu äußern. Nur muss er dies in einer angemessenen Form tun. Man muss die Zweifel, die Gauck an der Linken geäußert hat, nicht teilen. Aber er hat seine Zweifel maßvoll geäußert, so dass sie nicht als unverrückbares Verdikt erscheinen, sondern eine Diskussion zulassen und sogar zu ihr auffordern. In dieser Form darf ein Bundespräsident eine politische Debatte eröffnen.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Sebastian Roßner, Gauck zur Linken in der Regierung: . In: Legal Tribune Online, 05.11.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13710 (abgerufen am: 04.11.2024 )
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