Modernisierung des Strafrechts in der Ressortabstimmung: Busch­mann ent­s­orgt "totes Holz" aus dem StGB

von Hasso Suliak

16.10.2024

Noch in dieser Wahlperiode soll das Strafgesetzbuch ausgemistet werden. Straftatbestände, die sich historisch überholt haben, sollen gestrichen werden. Unter anderem wird das "Schwarzfahren" künftig nur noch als Ordnungswidrigkeit geahndet.

Der Auftrag aus dem Koalitionsvertrag steht schon lange: Das Strafgesetzbuch (StGB) soll systematisch auf Handhabbarkeit, Berechtigung und Wertungswidersprüche überprüft werden. Dabei sollen besonders historisch überholte Straftatbestände kritisch überprüft werden, um die Modernisierung des Strafrechts und die schnelle Entlastung der Justiz zu gewährleisten.

Nun macht Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) bei der StGB-Reform ernst: Am Montag gab das Bundesministerium der Justiz (BMJ) einen knapp 70-seitigen Referentenentwurf in die Ressortabstimmung. Der "Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Strafrechts" liegt LTO vor.  

Vorgesehen sind darin verschiedene Änderungen im Besonderen Teil des StGB sowie im Jugendgerichtsgesetz (JGG). Vordringliches Ziel der Generalinventur: dem Ultima-ratio-Prinzip ("Strafrecht als letztes Mittel") besser gerecht zu werden. Um diesem Grundsatz des liberalen Rechtsstaats nachzukommen, sei es erforderlich, das StGB daraufhin zu überprüfen, "ob sich Straftatbestände ganz oder teilweise überholt haben, weil die soziale, technologische oder wirtschaftliche Entwicklung dazu geführt hat, dass sie ihren Zweck nicht oder nicht mehr angemessen erfüllen". Mit der Reform sei im Übrigen auch der praktische Nutzen verbunden, dass Strafverfolgungsbehörden und Justiz entlastet werden, heißt es im Entwurf.  

Hier ein Überblick über die wichtigsten Änderungen im StGB:

Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort wird liberalisiert (Neufassung der §§ 142, 143 StGB)

§ 142 StGB sanktioniert denjenigen, der sich unerlaubt, d.h. entgegen den bestehenden Warte- und Auskunftspflichten, von einem Unfallort entfernt. Dies soll sicherstellen, dass die übrigen Unfallbeteiligten und Geschädigten die notwendigen Informationen erhalten, welche zur Geltendmachung etwaiger zivilrechtlicher Schadensersatzansprüche erforderlich sind.  

Für Unfälle mit bloßen Sachschäden sollen fortan bürgerfreundlichere Optionen zur Meldung eines Unfalls geschaffen werden. Dazu werden in einem neu formulierten 143 StGB diverse alternative Meldemöglichkeiten geschaffen. In einem neuen Gesetz über Meldestellen im Straßenverkehr werden zudem eine oder mehrere digitale Verkehrsschadensmeldestellen eingerichtet. Die Landesregierungen werden ermächtigt, etwa ihre jeweilige sog. "Onlinewache der Polizei" zu einer solchen Meldestelle zu erklären. Allerdings: Während eine Meldung des Unfalls bei einer nahe gelegenen Polizeidienststelle dem Unfallbeteiligten unmittelbar mit Inkrafttreten des neuen Gesetzes zur Verfügung stehen wird, wird es mit der Einrichtung von digitalen Verkehrsschadensmeldestellen noch etwas dauern.  

Mehr Nachsicht soll künftig gelten, wenn Menschen Unfälle zu spät melden. Bislang gilt hier die tätige Reue in § 142 Absatz 4 StGB. Danach kann das Gericht die Strafe mildern oder sogar ganz von dieser absehen, wenn der Unfallbeteiligte binnen 24 Stunden den Unfall nachmeldet. Dies gilt allerdings heute nur bei Unfällen außerhalb des fließenden Verkehrs, wenn zudem der Schaden nicht bedeutend ist. Künftig soll die tätige Reue bei allen Unfällen mit bloßen Sachschäden, einschließlich solcher im fließenden Verkehr, möglich sein.

Sprachliche Neufassung der Tötungsdelikte (§§ 211 ff.)

Auch wenn es andere Reformbestrebungen gibt, hat sich das BMJ entschieden, sich im Rahmen der Modernisierung des Strafrechts bei den Tötungsdelikten auf eine sprachliche Anpassung zu beschränken.  

Hintergrund ist, dass die Strafvorschriften über die Tötungsdelikte im Wesentlichen aus dem Jahr 1941 stammen. Sie bezeichnen die Täter als "Mörder" und "Totschläger". Diese atypische Gesetzesfassung beruht auf der Lehre vom "normativen Tätertyp". Dabei handelt es sich um die Vorstellung, dass es im Strafrecht nicht um die Bestrafung einer bestimmten Tat geht, sondern um bestimmte Tätertypen. Diese Lehre war besonders in der NS-Zeit populär. Auch wenn sie heute keine Rolle mehr spielt, sind die Formulierungen bislang unverändert geblieben. Die Normen sollen daher sprachlich angepasst werden.

Der Mordparagraf (§ 211) lautet künftig: "Wer einen Menschen aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch, grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken tötet, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft."

"Schwarzfahren" nicht mehr nach § 265a StGB strafbar

Das Fahren ohne Fahrausweis soll nach dem Willen des BMJ nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden, sondern soll künftig nur noch als Ordnungswidrigkeit (OWi) verboten sein. Hintergrund der seit langem diskutierten Änderung ist, dass der Unrechtsgehalt des Fahrens ohne Fahrausweis nach Auffassung des BMJ so gering ist, dass es nach dem Ultima-Ratio-Grundsatz nicht angemessen sei, die bloße Beförderungserschleichung unter Strafe zu stellen. Schließlich müssten für das Vorliegen einer Beförderungserschleichung vom "Täter" keine Zugangsbarrieren oder -kontrollen überwunden, Fahrausweise gefälscht oder Kontrollpersonen getäuscht werden. Der bloße Anschein, sich ordnungsgemäß zu verhalten, reiche aus.  

Und gehe das Verhalten des Täters über die bloße Beförderungserschleichung hinaus, könne es weiterhin angemessen sanktioniert werden: In Betracht kommen Delikte wie der (versuchte) Betrug (§ 263 StGB), Urkundendelikte (§§ 267 ff. StGB) oder Hausfriedensbruch (§ 123 StGB).  

Ersatzlos streichen will das BMJ das Schwarzfahrverbot jedoch nicht: Mit der Einstufung als Ordnungswidrigkeit soll der Unwert der Handlung weiter angemessen deutlich gemacht werden. Schließlich gehe das Fahren ohne Fahrausweis zulasten der betroffenen Verkehrsunternehmen sowie aller anderen Fahrgäste, die für ihre Beförderung ordnungsgemäß einen Fahrausweis lösen.

Von der Herabstufung zur Owi erhofft sich das BMJ Entlastung: Etwa bei der Justiz, wenn ein Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ausbleibt. Außerdem würden die Fälle künftig nicht mehr originär bei den Staatsanwaltschaften, sondern bei den Verwaltungsbehörden in einem standardisierten, weniger personalintensiven Verfahren bearbeitet.  

NS-Vorschrift § 316a StGB "fliegt raus"

Gestrichen sollen außerdem auch die Vorschriften des § 290 StGB (Unbefugter Gebrauch von Pfandsachen) und des § 316a StGB (Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer).

Derzeit machen sich nach § 290 StGB öffentliche Pfandleiher strafbar, die von ihnen in Pfand genommenen Gegenstände unbefugt in Gebrauch nehmen. Allerdings kommt die Vorschrift in der Rechtspraxis kaum noch vor, da das Pfandrecht als Sicherungsmittel erheblich an Bedeutung verloren hat. So gab es laut BMJ in den Jahren 2018 bis 2020 keine einzige Verurteilung wegen § 290 StGB.

Den aktuell noch unter Strafe stehenden räuberischen Angriff auf Kraftfahrer nach 316a StGB bezeichnet das BMJ als "Produkt nationalsozialistischer Strafrechtswissenschaft". Die Vorschrift geht auf das Gesetz gegen Straßenraub mittels Autofallen aus dem Jahr 1938 zurück. Ziel war es damals, nach einer aufsehenerregenden Serie von Überfällen auf Autofahrer gegen die Täter die Todesstrafe anordnen zu können. Durch die geplante Aufhebung des Paragrafen entsteht nach Meinung des BMJ allerdings keine Strafbarkeitslücke: Das StGB biete mit den Straftatbeständen des Raubs (§ 249 StGB), des schweren Raubs (§ 250 StGB), des Raubs mit Todesfolge (§ 251 StGB), des räuberischen Diebstahls (§ 252 StGB) und der räuberischeren Erpressung (§ 255 StGB) ausreichende Möglichkeiten, um die bislang von § 316a StGB erfassten Sachverhalte angemessen zu ahnden.

Anwälte und Notare beim Betrügen nicht mehr privilegiert

Aufgehoben werden sollen im StGB nach Plan des BMJ außerdem noch die Straftatbestände § 323b StGB ("Gefährdung einer Entziehungskur") und § 352 StGB ("Gebührenüberhebung"). Ersterer spiele rechtstatsächlich keinerlei Rolle mehr. Strafwürdige Sachverhalte würden von den Vorschriften zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (§§ 29 ff. des Betäubungsmittelgesetzes) ausreichend erfasst.

Und mit der Streichung des § 352 StGB endet die Privilegierung bestimmter Berufsgruppen, wie Anwälte, Notare, Gerichtsvollzieher oder Bezirksschornsteinfeger. Für sie stellte der Tatbestand der Gebührenüberhebung nach § 352 StGB regelmäßig eine gegenüber der Regelung des Betruges in § 263 StGB (Strafrahmen: Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe statt Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe) mildere Strafandrohung in Aussicht. Diese Privilegierung sei heute rechtspolitisch nicht begründbar, so das BMJ. Strafwürdige Sachverhalte können nach Aufhebung der Vorschrift eben als "normaler" Betrug erfasst werden.  

NS-Begriffe aus dem JGG werden gestrichen

Im JGG werden die ebenfalls NS-belasteten und teilweise stigmatisierenden Begriffe "schädliche Neigungen" sowie "Zuchtmittel" – ohne Änderungen in der Sache – durch angemessenere Formulierungen ersetzt. "Schädliche Neigungen" werden künftig als "Entwicklungsmängel" bezeichnet, "Zuchtmittel" heißen fortan " unrechtsverdeutlichende Maßnahmen".

Darüber hinaus sieht der Entwurf die Aufhebung einer für Jugendliche und Heranwachsende derzeit geltenden Rechtsmittelbeschränkung in § 55 Abs. 1 JGG vor. Diese sei nach heutigem Erziehungsverständnis fachlich überholt und stehe auch mit internationalen Rechtsvorgaben in Konflikt. Nach der Vorschrift können Erziehungsmaßregeln oder "Zuchtmittel" aktuell nur beschränkt überprüft werden, außerdem wird der Weg zur Revision unterbestimmten Voraussetzungen abgeschnitten.

Anwaltsverbände kritisieren OWi-Lösung beim Schwarzfahren

In einer ersten Einschätzung auf Nachfrage von LTO reagierten Strafrechtler und anwaltliche Berufsorganisationen unterschiedlich auf den BMJ-Entwurf.

Kritik an der OWi-Lösung beim Schwarzfahren übte etwa die Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Anwaltvereins (DAV) Sylvia Ruge. Damit sei die Chance auf echte Entkriminalisierung verpasst worden. "Es ist zwar ein richtiges Signal, die Beförderungserschleichung künftig nicht mehr als Straftat zu bewerten. Menschen, die sich in ihrer Armut kein Ticket leisten können, können auch die Strafen in aller Regel nicht zahlen: Sie zu verfolgen, belastet die Staatskasse und nützt niemandem", so Ruge. Dass nun als Ersatz ein Ordnungswidrigkeitstatbestand eingeführt werden soll, sei jedoch kontraproduktiv. "So entfällt zwar die Ersatzfreiheitsstrafe, stattdessen müssen Betroffene aber Erzwingungshaft fürchten. Das Strafrecht sollte die ultima ratio sein – hier muss es als Inkassobüro herhalten."

Ähnliche Kritik äußerte auch der Republikanische Anwaltverein (RAV): "Die Betroffenen sind zu einem erheblichen Teil Menschen, die aus verschiedenen Gründen, z.B. wegen Obdachlosigkeit, einer psychischen Erkrankung oder einer Suchterkrankung, kein Geld für Tickets haben. Diese Menschen werden auch Geldbußen nicht bezahlen können", so RAV-Vorstandsmitglied und Fachanwältin für Strafrecht Angela Furmaniak. Wer eine dauerhafte Lösung anstrebe, werde nicht daran vorbeikommen – auch aus Klimaschutzgründen – über kostenlosen Nahverkehr für alle nachzudenken.

Strafrechtlerin kritisiert: "Grundlegende Reform der Tötungsdelikte versäumt"

Die Bielefelder Strafrechtslehrerin Charlotte Schmitt-Leonardy lobte gegenüber LTO den Referentenentwurf des BMJ als "Beitrag zu aufgeklärter Kriminalpolitik und ein – selten gewordenes – Bekenntnis zu einem liberalen Strafrecht, das sich dem Ultima-Ratio-Grundsatz verpflichtet sieht". Ähnlich wie die Anwaltsverbände sieht auch Schmidt-Leonardy die Owi-Lösung beim Schwarzfahren kritisch.  

Im Zusammenhang mit den sprachlichen Änderungen bei den Tötungsdelikten bedauert die Strafrechtlerin aber, dass das BMJ die Gelegenheit versäumt habe, die Normen grundlegender zu reformieren und dabei insbesondere den absolut geltenden Sanktionssprung zur lebenslangen Freiheitsstrafe beim Mord zugunsten einer differenzierten Strafzumessung zu streichen. "Konkrete Reformvorschläge – nicht zuletzt die einer 2014 vom BMJ selbst eingesetzten Expertenkommission zur Reform der Tötungsdelikte – liegen schon lange vor", so Schmitt-Leonardy.

"Keine Entkriminalisierung"

Generell lobend bewertete der Augsburger Strafrechtsprofessor Michael Kubiciel im Gespräch mit LTO Buschmanns Pläne, das StGB zu entschlacken. Es sei gut, dass das BMJ Zeit und politische Ressourcen für eine Pflege des Strafgesetzbuches aufwende. "Es hat sich dort über die Jahre viel 'totes Holz' angesammelt, Vorschriften also, die aus unterschiedlichen Gründen ihre Funktion oder gar Geltung eingebüßt haben."

Die Änderungen, stelle Kubiciel klar, seien "legalistisch" zu begrüßen, seien aber keine Entkriminalisierungen. "Nur in wenigen Fällen nimmt der Gesetzgeber das Strafrecht wirklich zurück und dies auch nur teilweise." Kubiciel kritisierte, dass "anders als angekündigt" das Veranstalten Illegalen Glücksspiels weiter strafbar bleibe.  

Dagegen begrüßte der Hochschullehrer die Herabstufung des Schwarzfahrens zur Ordnungswidrigkeit: "Gerade in Zeiten der Verkehrswende muss der Gesetzgeber das System des öffentlich finanzierten Personenverkehrs als schutzwürdig anerkennen." Die Neuregelung beim Unerlaubten Entfernen vom Unfallort sieht Kubiciel skeptisch: Sie werde kaum zu einer Reduktion von Strafverfahren führen, schaffe aber mit der Einrichtung von Meldestellen neuen Verwaltungsaufwand.  

Zitiervorschlag

Modernisierung des Strafrechts in der Ressortabstimmung: . In: Legal Tribune Online, 16.10.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55643 (abgerufen am: 18.10.2024 )

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