Am Sonntag wählt Berlin, und prompt fordern viele wieder ein kommunales Wahlrecht für alle ansässigen Ausländer. Die Gegner dieser Idee zitieren gebetsmühlenartig das BVerfG: Ein solches pauschales Recht ist verfassungswidrig. Doch erscheint diese Ansicht längst überholt und der Begriff "deutsches Volk" durchaus im Sinne des Grundgesetzes erweiterbar, meint Felix Hanschmann.
Pünktlich zur Wahl in Berlin, seit langem auch Heimat vieler vor allem türkischstämmiger Menschen, kocht sie wieder hoch, die Diskussion um eine Ausweitung des kommunalen Wahlrechts. Dabei scheint die Sache schon seit mehr als 20 Jahren geklärt zu sein: Bereits 1990 hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) der Einführung des kommunalen Wahlrechts für Nichtdeutsche durch den Landesgesetzgeber eine verfassungsrechtliche Absage erteilt und entsprechende Gesetze aus Hamburg und Schleswig-Holstein für nichtig erklärt (Urt. v. 31.10.1990, Az. 2 BvF 2, 6/89; 2 BvF 2/89; 2 BvF 6/89).
Die Karlsruher Richter argumentierten damals, dass das "Volk" im Sinne des Grundgesetzes (GG) auf allen staatlichen Ebenen allein aus deutschen Staatsangehörigen bestehe. Die Eigenschaft als Deutscher und die Zugehörigkeit zum Staatsvolk als dem Inhaber der Staatsgewalt sei unauflöslich miteinander verbunden.
Kritiker wandten dagegen ein, es entspreche der demokratischen Idee, einen Gleichlauf zu schaffen zwischen denjenigen, die demokratische Mitwirkungsrechte haben und denen, die dauerhaft einer bestimmten staatlichen Herrschaft unterworfen sind. Das BVerfG konterte mit dem Verweis auf ein großzügigeres Staatsangehörigkeitsrecht. Der Gesetzgeber müsse Einbürgerungen erleichtern und dadurch zu einer Erweiterung des Wahlvolkes beitragen.
Auf dem demokratietheoretischen Irrweg
Der ehemalige Richter am BVerfG Brun-Otto Bryde bezeichnete die "Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie"; die Befürworter des kommunalen Wahlrechts für Nichtdeutsche hielten mit den demografischen und soziologischen Veränderungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft dagegen. Sie stellten die Frage: Kann es sich eine Demokratie leisten, Menschen von demokratischer Mitentscheidung auszuschließen, die seit mehreren Jahrzehnten in Deutschland ansässig oder gar hier geboren sind?
Weil viele Bürgerinnen und Bürger diese Frage mit "Nein" beantworten, hat es in den vergangenen Jahren zahlreiche Versuche gegeben, das kommunale Wahlrecht, das Unionsbürger schon seit 1992 besitzen, auch für Drittstaatsangehörige einzuführen. So wollten dies Bündnis 90/DIE GRÜNEN und die LINKE im Bundestag 2007 durch eine Änderung des GG erreichen. In Berlin strebten die Grünen eine Änderung der Landesverfassung an; Rheinland-Pfalz hingegen versuchte den Weg über den Bundesrat. Zudem forderten zahlreiche deutsche Städte ihre jeweilige Landesregierung auf, das Kommunalwahlrecht für Nicht-EU-Bürger einzuführen, zuletzt die Stadt Halle.
Sämtliche Initiativen sind jedoch bisher erfolglos geblieben. Die Gegner zitierten einfach die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung; diese sei unmissverständlich: Die Erweiterung der Wahlberechtigten ist jenseits der Möglichkeit der Einbürgerung verfassungsrechtlich unzulässig.
Die Rechtsprechung des BVerfG ist längst widerlegt
Diese Sicht auf die Karlsruher Entscheidung von 1990 stimmt so jedoch nicht. Das BVerfG hatte damals lediglich der Einführung des kommunalen Wahlrechts für Nichtdeutsche durch den Landesgesetzgeber einen verfassungsrechtlichen Riegel vorgeschoben, zu einer entsprechenden Änderung des GG aber kein Wort verloren. Im Gegenteil hatte das Gericht ausdrücklich festgestellt, dass die Einführung eines kommunalen Wahlrechts zumindest für Unionsbürger Gegenstand einer Verfassungsänderung sein kann.
Ganz offensichtlich war dem Gericht dabei der Widerspruch zu seiner eigenen Prämisse entgangen. Diese lautete nämlich eigentlich, dass es einen zwingenden Zusammenhang zwischen Staatsangehörigkeit und Wahlrecht gibt. Das mag überraschen, ändert aber nichts an der Einsicht, dass es durchaus ein Wahlrecht geben kann ohne Staatsangehörigkeit des Landes, in dem gewählt wird.
Hinzu kommt, dass aber genau jene Prämisse durch Entwicklungen im internationalen, europäischen und deutschen Recht heute als widerlegt gelten kann. Dass staatsbürgerliche Rechte einschließlich des Wahlrechts nicht notwendig an das Innehaben der deutschen Staatsangehörigkeit gebunden sind, ist seit der Einführung des kommunalen Wahlrechts für Unionsbürger offensichtlich.
Die "demokratiewidrige Fremdbestimmung" ist Verfassungsrecht geworden
Der deutsche Verfassungsgesetzgeber hat, angestoßen durch das Europarecht, das kommunale Wahlrecht für Unionsbürger ausdrücklich in das GG geschrieben. Seitdem dürfen nicht nur Deutsche, sondern auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union besitzen, bei Kommunalwahlen wählen und sich wählen lassen. Das sieht Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG vor.
Die Legitimierung deutscher Staatsgewalt erfolgt seitdem nicht mehr allein durch das aus Deutschen bestehende Staatsvolk, sondern ebenso durch die in Deutschland lebenden Unionsbürger. Unstreitig sind diese aber ebenso wenig deutsche Staatsangehörige wie Drittstaatsangehörige. Ein EU-Bürger ist nicht eher "Deutscher" als ein Nicht-EU-Bürger.
Während konservative Staatslehrer für den Ernstfall der Beteiligung von Nichtdeutschen an Wahlen immer wieder die "demokratiewidrige Fremdbestimmung" heraufbeschworen haben, ist genau diese Mitbestimmung geltendes Verfassungsrecht geworden.
Auch für die Wahlen zum Europäischen Parlament ist der wenig flexible Staatsvolkbegriff des BVerfG europäisiert worden. Die 96 deutschen Europaabgeordneten werden nämlich nicht nur von deutschen Staatsangehörigen gewählt, sondern ebenso von in Deutschland lebenden Unionsbürgern. Ob jemand bei deutschen Wahlen wahlberechtigt ist, richtet sich im Fall der Unionsbürger mit anderen Worten nicht nach der Staatsangehörigkeit, sondern nach dem vergleichsweise unspektakulären Kriterium des Wohnsitzes.
Rechte und Pflichten sind zunehmend von Staatsangehörigkeit abgekoppelt
Die Vorstellung, dass die Staatsangehörigkeit unabdingbare Voraussetzung für einen staatsbürgerlichen Status sei, gerät aber auch durch das Völkerrecht unter Druck. Heute ist der rechtliche Status des Individuums nicht mehr in der Weise von der Staatsangehörigkeit abhängig wie dies in der Vergangenheit noch der Fall war.
Verantwortlich hierfür ist die zunehmende Einbindung von Menschen in transnationale Rechtssysteme, beispielsweise durch einen internationalen Menschenrechtsschutz. Rechte und Pflichten, die früher exklusiv an die Staatsangehörigkeit gebunden waren, werden also von dieser abgekoppelt und vermehrt zum Bestandteil neuer transnationaler Angehörigkeitsverhältnisse.
Wenn aber entgegen der Annahme des BVerfG die Staatsangehörigkeit keine notwendige Bedingung für die Einräumung staatsbürgerlicher Rechte ist, taugt diese Rechtsprechung auch nicht länger als Argument gegen die Einführung des kommunalen Wahlrechts für Drittstaatsangehörige. Der demokratietheoretische Holzweg, den die höchsten Verfassungsrichter 1990 beschritten haben, ist (glücklicherweise) zusehends einsturzgefährdet.
Dr. Felix Hanschmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Habilitand an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er war Sachverständiger bei Anhörungen zum kommunalen Wahlrecht für Drittstaatsangehörige im Bundestag und im Berliner Abgeordnetenhaus.
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Kommunalwahlrecht für Ausländer: . In: Legal Tribune Online, 16.09.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4311 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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