Eine juristische Aufarbeitung der militärischen Auseinandersetzungen um Südossetien aus dem Jahr 2008 steht nach der Abweisung der Klage Georgiens gegen Russland durch den Internationalen Gerichtshof weiter aus. Timo Tohidipur über die Entscheidung und die Hintergründe eines jahrelangen Streits um den Vorwurf ethnischer Säuberungen und rassistischer Diskriminierungen.
Die von Georgien im August 2008 beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag eingereichte Klage gegen Russland bleibt in der Hauptsache erfolglos. Begründung: Es fehle an den Voraussetzungen für eine gerichtliche Entscheidung des Streits. Mit einer Mehrheit von zehn zu sechs Stimmen entschied der IGH am 1. April, dass die hier maßgebliche Verfahrensnorm des Art. 22 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung (CERD) zunächst den Verhandlungsweg zwischen den streitenden Parteien vorschreibt. Russland hatte dies als Erwiderung auf die Klage Georgiens gerügt und nun vom Gerichtshof Recht bekommen.
Dem Rechtsstreit vor dem IGH ging ein militärischer Konflikt zwischen beiden Ländern voraus. Im August 2008 waren georgische Militärverbände in die von Georgien abtrünnige und russlandnahe Region Südossetien einmarschiert, nach wenigen Tagen aber von russischen Truppen zurückgeschlagen worden.
Die diffuse Konfliktlage erschwerte die Klärung von Verantwortlichkeiten für den blutigen Konflikt. Einem umfangreichen Untersuchungsbericht der EU-Kommission zufolge hatte Georgien entgegen eigenem Bekunden den "ersten Schuss" abgefeuert, sei allerdings auch zuvor von Russland monatelang provoziert worden.
Human Rights Watch warf in einem separaten Bericht beiden Seiten eine Verletzung des Kriegsrechts vor. Insbesondere hätten zehntausende Georgier aus der Konfliktregion flüchten müssen oder seien vertrieben worden. Georgien lastet dies den südossetischen und insbesondere den russischen Truppen als "Besatzer" an, die zudem widerrechtlich auf georgisches Hoheitsgebiet vorgedrungen wären.
Vorwurf der Rassendiskriminierung und ethnischen Säuberung
In der Folge leitete Georgien ein Verfahren vor dem IGH ein und behauptete, dass durch oder unter Aufsicht der russischen Sicherheitsbehörden und Militärs gegen fundamentale Rechte Georgiens und seiner Bevölkerung aus dem CERD verstoßen wurde, indem sie rassisch bedingte Angriffe gegen und Massenvertreibungen von Georgiern durchgeführt oder unterstützt hätten.
Dies verletze die Pflicht zur Verhinderung von Rassendiskriminierungen (Art. 2), Segregation und Apartheid (Art. 3), rassistischer Propaganda (Art. 4) sowie die Pflicht zur Gewährung von Gleichbehandlung vor dem Gesetz (Art. 5) und wirksamen Rechtsschutz (Art. 6).
In einer ersten Eilentscheidung kurz nach Klageeinreichung 2008 hatte der IGH es für notwendig befunden, die Schutzbedürftigkeit der georgischen Bevölkerung in der Konfliktregion festzustellen und beide Konfliktparteien in der unübersichtlichen Lage des Konflikts dazu aufzufordern, sich an die bindenden Regeln des CERD zu halten, also jegliche rassistisch begründete Diskriminierung zu verhindern. Die Zuständigkeit, den Rechtstreit durch ein Urteil zu entscheiden, hatte der IGH auf den ersten Blick (prima facie) angenommen.
Vorrang der Verhandlung zwischen Staaten vor gerichtlicher Streitentscheidung?
Die hier maßgebliche Verfahrensnorm des Art. 22 CERD sieht als Voraussetzung für eine gerichtliche Entscheidung durch den IGH vor, dass der Streit zwischen den Vertragsparteien auf dem Verhandlungsweg oder nach den im CERD vorgesehenen Verfahren nicht beigelegt werden konnte.
Der IGH betont in seinem Urteil vom 1. April, dass seitens der streitführenden Partei zumindest der Versuch von Verhandlungen über die behaupteten Rechtsverstöße unternommen werden muss. Ebenfalls muss vor einer Zuständigkeit des IGH das im CERD vorgesehene Ausschussverfahren nach Art. 8 ff. CERD durchlaufen worden sein.
Die Richter führen aus, dass es nach der bisherigen Rechtsprechung des IGH übliche Praxis sei, Streitparteien auf den Verhandlungsweg zu verweisen, da nur auf der diplomatischen Ebene der Kern des Streits sowie die gemeinsamen und divergierenden Interessen offengelegt werden können.
Der Austausch gegensätzlicher rechtlicher Standpunkte vor dem IGH ist nach der Auslegung des Gerichtshofs ebenso wenig mit einer Verhandlung über einen Streitpunkt gleichsetzbar, wie reine gegenseitige Beschuldigungen. Der IGH sieht in Anbetracht der Vorträge der Parteien keinen Nachweis dafür erbracht, dass die das CERD betreffenden Vorwürfe Gegenstand diplomatischer Verhandlungsversuche waren.
In ihrer abweichenden Meinung bedauern die Richter Owada, Abraham, Donoghue, Simma und Gaja die Ablehung einer Streitentscheidung und führen sehr deutlich aus, dass es mitnichten in der Tradition des IGH stehe, seine Jurisdiktion aufgrund fehlender formaler Verhandlungsversuche zu beschneiden. Noch weiter geht Richter Cançado Trindade: Er wirft in seinem sehr ausführlich begründeten Votum dem IGH vor, mit dieser Entscheidung den humanitären Gehalt des CERD zu untergraben und sich durch Berufung auf rechtsdogmatische Erwägungen zu sehr auf einen Konsens der Staaten bei der Streitbeilegung zu verlassen.
Ein Rechtsmittel gegen das Urteil ist nicht möglich. Nun sind Georgien und Russland gezwungen, das zu tun, was ihnen in den letzten Jahren so schwer fiel: direkte Verhandlungen über ihre Streitfragen anzustreben oder die außergerichtlichen Verfahren des CERD zu nutzen.
Dr. Timo Tohidipur ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Institut für Öffentliches Recht der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
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Timo Tohidipur, Klage zu Georgienkonflikt erfolglos: . In: Legal Tribune Online, 05.04.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2947 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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