Ein gehörloses Mädchen möchte auf eine ganz normale Schule gehen. Doch weder der Bezirk Schwaben noch das bayerische Kultusministerium wollen die Kosten für einen Gebärdendolmetscher übernehmen. Ein Beispiel dafür, dass das Menschenrecht auf gemeinsames Leben und Lernen immer noch alles andere als Realität ist, meint Arnold Köpcke-Duttler.
Die im Jahr 2005 geborene, hochgradig hörgeschädigte Schülerin besucht seit diesem Schuljahr die Regelschule an ihrem Wohnort. Sie hat bei dem Bezirk Schwaben die Übernahme der Kosten für einen Gebärdendolmetscher beantragt, damit sie an dem gemeinsamen Unterricht teilnehmen kann und nicht auf eine Sonderschule gehen muss. Sie kommuniziert in der deutschen Gebärdensprache und wird unterstützt von ihren Eltern, die beide selbst hörgeschädigt sind. In Eilverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Augsburg und dem Bayerischen Landessozialgericht (LSG, Beschl. v. 02.11.2011, Az. L 8 SO 165/11 B ER) war das Mädchen bislang erfolglos.
Vor dem SG schlossen die Beteiligten jetzt im Hauptverfahren einen Vergleich, nach dem die Schülerin bis zum Januar 2013 erst einmal auf der Grundschule bleiben darf. Immer noch ist ungeklärt, wie die Arbeit eines Gebärdendolmetschers finanziert werden soll. Der Träger der Sozialhilfe verweist auf die hohen Kosten für einen Gebärdendolmetscher und die Verpflichtung des Kultusministeriums, alle Regelschulen behindertengerecht zu gestalten. Das Kultusministerium seinerseits beruft sich darauf, dass die schulische Inklusion nur in kleinen Schritten verwirklicht werden könne. Dazwischen steht nicht nur die schwäbische Schülerin, die sich auf ihr Menschenrecht auf inklusive Bildung beruft. Sie und viele andere Schülerinnen und Schüler wollen und müssen jetzt schon ihren schulischen Bildungsweg fortsetzen und können nicht jahrelang warten, bis viele kleine Schritte in Richtung auf die Verwirklichung der Inklusion abgeschlossen sind.
Das LSG hat in seinem ablehnenden Eilbeschluss behauptet, eine Infrastruktur für die "inklusive Beschulung", also das gemeinsame Lernen von nicht-behinderten und behinderten Kindern und Jugendlichen, fehle. Der Eingliederungsbedarf an der allgemeinen Schule sei daher nicht hinreichend gedeckt, zum Beispiel hätten viele Lehrkräfte noch keinerlei Erfahrungen im Umgang mit gehörlosen Kindern. Unter den derzeit gegebenen Bedingungen sei eine Beschulung , die mit der an einer Förderschule vergleichbar und in gleicher Weise geeignet wäre, an einer Regelschule noch nicht möglich.
Das Menschenrecht auf inklusive Bildung
Diese Argumentation übersieht, dass Art. 24 der Behindertenrechtskonvention (Recht auf inklusive Menschenbildung) nicht nur langfristig zu verwirklichende Zielvorgaben enthält. Vielmehr sind die staatlichen Organe auch verpflichtet, bei Bedarf angemessene konkrete Vorkehrungen zu treffen, um schon heute im Einzelfall den Zugang zu einer allgemeinen Schule zu sichern. Das Menschenrecht gibt Kindern und Jugendlichen schon jetzt einen durchsetzbaren Anspruch darauf, wohnortnah und diskriminierungsfrei auf eine Regelschule gehen zu können.
Das Menschenrecht auf inklusive Bildung ist in der Konvention als individuelles Recht ausgestaltet, nicht nur als allgemeiner Programmsatz. Auch die Länder, welche die Schulhoheit für sich reklamieren, sind verpflichtet, die Behindertenrechtskonvention mittel- und langfristig zu verwirklichen. Zugleich müssen sie kurzfristig das individuelle Recht auf einen diskriminierungsfreien Zugang zu der Regelschule praktisch einlösen.
Das Bundesrecht, konkret das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 2 Grundgesetz, und alle Schulgesetze der Länder müssen im Sinne des Art. 24 der Konvention ausgelegt werden.
Das Deutsche Institut für Menschenrechte fordert als Monitoring-Stelle dazu auf, die Umsetzung der Konvention in allen Bundesländern durch Aktionspläne voranzutreiben und schon im Einzelfall angemessene Vorkehrungen zu treffen.
Kind muss Streit um Finanzierung ausbaden
"Nicht allein die neue Behindertenrechtskonvention, sondern auch die UNESCO fordert schon seit Jahrzehnten die Verwirklichung des Prinzips der Inklusion. Dazu gehört auch, dass die Bedürfnisse blinder, gehörloser und hörsehbeeinträchtigter Menschen in den Regelschulen angemessen berücksichtigt werden."
Auch die Schulgesetze der Länder betonen den Vorrang der gemeinsamen Bildung. Gemäß Art. 30b des Bayerischen Gesetzes für das Erziehungs- und Unterrichtswesen ist die inklusive Schule ein Ziel der Schulentwicklung aller Schulen. Das im Jahr 2011 geänderte Gesetz verpflichtet dazu, das Menschenrecht auf inklusive Bildung zu verwirklichen, das bereits in Art. 13 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966 verankert ist.
Mit der Reform des Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes wurde ganz deutlich auch das Wahlrecht der Eltern hervorgehoben. Es ist ihre Entscheidung, ob das behinderte Kind eine Regel- oder aber eine Sonderschule besuchen soll. Eine getrennte Beschulung in Sonderschulen ist zudem mit dem Grundgedanken der Inklusion grundsätzlich unvereinbar. Angesehene Juristen wie Eibe Riedel und viele Heilpädagogen sehen in der zwangsweisen Zuweisung zu dem Fördersystem eine nicht erlaubte Diskriminierung.
Jedes Kind mit Behinderung ist vor der Ausgrenzung aus dem gemeinsamen Regelschulunterricht zu schützen. Der Streit über die Finanzierung eines diskriminierungsfreien Unterrichts darf nicht auf dem Rücken des Kindes ausgetragen werden.
Der Autor Prof. Dr. Arnold Köpcke-Duttler ist Rechtsanwalt und Diplom-Pädagoge und führt eine Anwaltskanzlei in Marktbreit/Unterfranken. Er gehört dem Vorstand der Heilpädagogischen Vereinigung an und ist Justitiar des Montessori-Landesverbands Bayern. Als habilitierter Pädagoge und zugleich Rechtsanwalt bilden die Schwerpunkte seiner Arbeit schulrechtliche, sozialrechtliche, kinder- und jugendrechtliche Fragen.
Gezerre um das Menschenrecht Inklusion: . In: Legal Tribune Online, 07.08.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6776 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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