Umstrittenes Urteil des Polnischen Verfassungsgerichts: Krieg­s­er­klärung an die EU?

Gastbeitrag von Dr. Oscar Szerkus

11.10.2021

Das Verfassungsgericht in Warschau hat entschieden, dass der EuGH keine Entscheidungen über die polnische Justiz treffen darf. Ein Grund für Polens Verhältnis zur EU ist das nationale Selbstbild der PiS-Regierung, meint Oscar Szerkus.

Am 7. Oktober 2021 urteilte das polnische Verfassungsgericht (Trybunał Konstytucyjny – TK), dass die Auslegung einzelner Vorschriften der Verträge der Europäischen Union (EU) durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) für Polen nicht verbindlich ist, soweit die Auslegung die polnische Gerichtsbarkeit betrifft. Anders als vielerorts berichtet, hat das TK nicht direkt über den Vorrang nationalen Rechts vor dem EU-Recht entschieden.

Mit EU-Beitritt übertragen Mitgliedstaaten eine Reihe an Kompetenzen auf die Union, die in diesem Rahmen verbindliches Recht schaffen kann. Insoweit kann man von einer partiellen Aufgabe der Souveränität eines Staates sprechen – eine uneingeschränkte Souveränität gibt es in der globalen Staatengemeinschaft ohnehin nicht.

Ein Teilaspekt der typischerweise nicht dispositiven Souveränität ist die Selbstbestimmung der innerstaatlichen Gerichtsbarkeit, die die PiS-Regierung seit 2015 mit zahlreichen umstrittenen Reformen traktiert. Die EU hat aber keine "Kompetenz-Kompetenz", d.h. sie kann keine neuen Kompetenzen erschaffen.

Polens Premierminister bezweifelt Zuständigkeit des EuGH

Im März 2021 erhob der EuGH rechtsstaatliche Bedenken gegen einige Justizreformen der PiS und entschied, dass der Richterwahlmodus durch den reformierten Landesjustizrat KRS unionsrechtswidrig sein könnte (Urt. v. 02.03.2021, Rechtssache C-824/18). Daraufhin beantragte Premierminister Mateusz Morawiecki beim TK die Prüfung, ob der EuGH eine solche Entscheidung überhaupt treffen durfte.

Dem Antragsteller ging es darum, aufzuzeigen, dass Rechtsakte der polnischen Gerichtsbarkeit nur an der polnischen Verfassung zu messen seien. Der EuGH könne in diesem Zusammenhang nicht entscheiden, weil die EU insoweit keine Kompetenz besitze.

Zudem gebe es auf EU-Ebene kein einheitliches Modell für die Organisation der Gerichte oder die Richterwahl. Der Weg des EuGH stelle eine unzulässige Rechtsfortbildung dar, die für Polen unbeachtlich sei. Das TK-Urteil erging antragsgemäß: Polen muss sich nicht immer an EuGH-Entscheidungen halten.

National-konservative Richtung Polens als Mitursache für EU-Konflikte

Eine der Hauptursachen für den andauernden Konfrontationskurs mit der EU ist zweifellos die national-konservative Richtung, die Polen unter der PiS-Regierung eingeschlagen hat. Das TK-Urteil ist ein folgerichtiger Schritt, der durch diese Politik begünstigt wurde. Gleichzeitig stellt es keine Überraschung dar: Euroskeptische Bewegungen gibt es in allen Mitgliedstaaten und deren Ziele sind kein Geheimnis.

In der causa Polen kommt ein nationales Selbstbild hinzu, das unabhängig von der Politik kultiviert wird und die praktizierte Rechtskultur maßgeblich beeinflusst. Das Verständnis dieser Aspekte erscheint unabdingbar, um das aktuelle Verhältnis Polens zur EU nachvollziehen zu können.

Unter dem Vorbehalt, dass sich die Selbstwahrnehmung eines großen Teils der polnischen Bevölkerung – vor allem linksorientierter Parteien sowie jüngerer Generationen – im Wandel befindet, sind drei Grundthesen zu berücksichtigen:

Polens Souveränität kam erst spät

Erstens, Polen ist erst seit 1989/1990 ein souveräner Staat. Teilweise wird auch auf 1997, den Zeitpunkt des Inkrafttretens der polnischen Verfassung, bzw. von  PiS-Politikern auf 2014, den Wahlsieg Kaczyńskis, abgestellt. Seit der dritten Teilung Polens 1795 bis zum Jahr 1918 und dann seit 1939 bis zumindest 1989 konnte das polnische Staatsvolk nicht frei über das eigene Schicksal entscheiden.

Dieser Zustand führte zur Bildung parteiübergreifender Bewegungen für den Kampf um Unabhängigkeit. Unabhängigkeit setzte die Möglichkeit voraus, eine "rein polnische" Rechtsordnung zu schaffen – im Gegensatz zum fremden Recht, das von den Teilungs- bzw. Besatzungsmächten aufoktroyiert wurde.

Eine besondere Stellung als Grundpfeiler polnischer Staatlichkeit nahm dabei immer die Verfassung ein. Die erste polnische Verfassung vom 3. Mai 1791 gilt als erste verschriftlichte moderne Verfassung in Europa. Dies hat einerseits zur Folge, dass Aussagen aus dem Ausland über das polnische Grundgesetz als Angriff auf die polnische Staatlichkeit angesehen werden. Anderseits bedeutet es in den Augen vieler, dass Europa – heutzutage als EU – Polen nicht über Verfassungsrecht belehren darf.

Dieses Grundverständnis bestätigten die Fragen und Anmerkungen der TK-Richter in den mündlichen Verhandlungen zum gegenständlichen Verfahren: Es könne nicht sein, dass es Vorschriften gibt, die nicht vom polnischen Volk als Souverän stammen und die trotzdem Vorrang vor polnischem Verfassungsrecht haben. Aussagen des EuGH über die polnische Gerichtsbarkeit gleichen einem Angriff auf die Souveränität Polens.

Präsident Duda: EU ist eine "imaginäre Gemeinschaft"

Zweitens ist die EU eine reine Interessen- und Wirtschaftsorganisation. Die Mitgliedstaaten sind dabei nicht Teilnehmer eines gesamteuropäischen Friedens- und Freiheitsprojekts, sondern einfache Vertragspartner, für die sich die EU lohnen muss. PiS-Anhänger betonen dies seit Jahren, bezeichnend mit den Worten Präsident Dudas, der die EU als "imaginäre Gemeinschaft" bezeichnete.

Eingang in die polnische Rechtsordnung findet EU-Recht u.a. durch Art. 9 und Art. 90 der polnischen Verfassung, der völkerrechtliche Verträge bzw. internationale Organisationen betrifft und die EU im Wesentlichen etwa wie die Welthandelsorganisation behandelt. Der Wortlaut der Verfassung sieht für die EU keine privilegierte Stellung vor.

Daher stellt jede Aussage von EU-Organen, die über wirtschaftliche Aspekte hinaus geht und nicht explizit übertragene Kompetenzen betrifft, einen unter Art. 9 der polnischen Verfassung unbeachtlichen Exzess dar. Dies bestätigte das TK in der mündlichen Urteilsbegründung am 7. Oktober.

Rechtsformalismus der polnischen Rechtskultur

Drittens, die polnische Rechtskultur ist geprägt vom Rechtsformalismus, der den Wortlaut einer Vorschrift in den Vordergrund stellt und idealerweise eine mechanische Rechtsanwendung ermöglicht. Folge ist eine extensive und kleinliche Gesetzgebung, die für mehr Rechtssicherheit sorgen soll, oftmals aber das Gegenteil bewirkt.

In diesem Rechtsverständnis gibt es kaum Platz für eine historische oder teleologische Auslegung – also die Frage nach dem ursprünglichen Willen des Gesetzgebers und dem eigentlichen Sinn und Zweck einer Vorschrift. Maßgeblich ist grundsätzlich der Wortlaut, so dass sich die rechtliche Würdigung häufig in sprachlogischen Überlegungen erschöpft. Dies erschwert eine gerichtliche Entscheidungsfindung auf Grundlage von Prinzipien, die nicht explizit kodifiziert sind und sich erst aus der Gesamtschau mehrerer Vorschriften und deren Zweck ergeben.

Die unter PiS ernannten TK-Richter scheinen dieser Herangehensweise besonders verschrieben zu sein: In der mündlichen Verhandlung am 30. September und 7. Oktober 2021 wollte das Verfassungsgericht von den Vertretern des Bürgerrechtsbeauftragten, der am Verfahren beteiligt war, wissen, aus welcher Vorschrift sich die Verbindlichkeit von EuGH-Entscheidungen für Polen ergebe. Zudem fragte es, wo die polnische Verfassung den Vorrang des EU-Rechts regele. Diese "Fangfragen" sollten der Öffentlichkeit klar machen, dass die genannten Aspekte so nicht explizit geregelt sind. Explizit geregelt sei aber, dass die polnische Verfassung in Polen höchstes Recht bilde (Art. 8).

Politische Wirkung des umstrittenen Urteils

Die polnische Verfassung sieht vor, dass TK-Entscheidungen im Gesetzesblatt veröffentlicht werden. Erst dann sollen sie Rechtswirkung entfalten. Die Verantwortung für die Veröffentlichung hat der Premierminister. Die bisherige Praxis unter PiS hat gezeigt, dass der Zeitpunkt je nach Bedarf aufgeschoben werden kann. Dies geschah etwa mit der Abtreibungsentscheidung, die mit monatelanger Verzögerung veröffentlicht wurde, als das heikle Thema aus den Schlagzeilen verschwand. Der Veröffentlichungszeitpunkt kann in den Verhandlungen mit der EU-Kommission, die eine eingehende Prüfung des Urteils und dessen Folgen angekündigt hat, als Druckmittel dienen.

Bereits jetzt entfaltet das TK-Urteil aber politische Wirkung. Kritiker sehen es als Schritt Richtung "Polexit" an, weil es keine partielle EU-Mitgliedschaft gebe. Polen könne sich nicht aussuchen, welche EuGH-Entscheidungen verbindlich sind und welche ignoriert werden können. Für Premierminister Morawiecki, Antragsteller im TK-Verfahren, habe das Urteil keine grundlegende Auswirkung auf die Stellung Polens in der EU. Geklärt seien nun die Grenzen der EU-Kompetenzen sowie der Vorrang der nationalen Verfassung bei deren Überschreitung.

Diese bagatellisierende Einschätzung lässt außer Betracht, dass Polen durchaus andere Mittel zur Verfügung standen, um EU-Kompetenzen überprüfen zu lassen. Vor dem Hintergrund der bisherigen PiS-Politik dürfte es Morawiecki vor allem darauf ankommen, der teilweise praktizierten unmittelbaren Berufung auf EuGH-Urteile durch polnische Richterinnen und Richter einen Riegel vorzuschieben. Denn diese Vorgehensweise wird nun nach polnischem Recht verfassungswidrig sein.

Der Autor Dr. Oscar Szerkus ist Rechtsanwalt bei der Sozietät Gentz und Partner in Berlin. Als Gesellschaftsrechtler betreut er Mandantinnen und Mandanten in Deutschland und Polen.

Zitiervorschlag

Umstrittenes Urteil des Polnischen Verfassungsgerichts: . In: Legal Tribune Online, 11.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46301 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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