Internationaler Strafgerichtshof: Das Ver­b­re­chen der Aggres­sion

von Dr. Christian Rath

21.07.2018

In dieser Woche erhielt der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag eine neue Aufgabe. Er kann auch über die Verursacher von Angriffskriegen richten. Der Weg dahin war lang, doch das Ergebnis ist voller Schlupflöcher.

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) beruht bekanntlich auf einem völkerrechtlichen Vertrag, dem Römischen Statut. Er wird inzwischen von 123 Staaten weltweit getragen. Zwanzig Jahre nach Annahme des römischen Statuts erweitert sich jetzt die Zuständigkeit des Gerichtshofs. Ursprünglich war er "nur" für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen* zuständig. Seit dem 17. Juli 2018 kann er auch die Gerichtsbarkeit über "das Verbrechen der Aggression" ausüben.

Die "Aggression" war zwar von Beginn an in Artikel 5 des Römischen Statuts erwähnt. Die Gerichtsbarkeit des IStGH war aber in Artikel II aufgeschoben. Sie sollte erst möglich sein, "sobald in Übereinstimmung mit den Artikeln 121 und 123 eine Bestimmung angenommen worden ist, die das Verbrechen definiert und die Bedingungen für die Ausübung der Gerichtsbarkeit im Hinblick auf dieses Verbrechen festlegt." Der Verweis auf Artikel 121 und Artikel 123 besagte, dass der nächste Schritt frühestens nach sieben Jahren möglich ist und einer Zwei-Drittel-Mehrheit unter den Vertragsstaaten bedarf.

Tatsächlich befasste sich die erste Überprüfungskonferenz zum Römischen Statut 2010 in Kampala (Uganda) mit dem Verbrechen der Aggression. In Artikel 8 bis wurde es nun definiert und es wurde geregelt, wer in diesen Verfahren wann den IStGH anrufen darf. Doch mit diesem einstimmigen Beschluss war der endgültige Durchbruch noch nicht erreicht. Im Statut wurden zwei neue Hürden eingebaut, die zu überwinden waren, bevor der IStGH auch für Aggressionsverbrechen zuständig ist. Erstens sollte der IStGH seine Gerichtsbarkeit in solchen Fragen erst ausüben können, wenn 30 Staaten diese Änderung ratifiziert haben und ein weiteres Jahr vergangen ist. Zweitens war ein neuer Beschluss der Vertragsstaatenkonferenz erforderlich, der frühestens am 1. Januar 2017 möglich war und eine neue Zwei-Drittel-Mehrheit erforderte.

Dieser endgültige Aktivierungsbeschluss wurde am frühen Morgen des 15. Dezember 2017 auf der 16. Vertragsstaatenkonferenz im UN-Hauptquartier in New York getroffen. Zu diesem Zeitpunkt hatten auch bereits mehr als 30 Staaten die Kampala-Änderungen ratifiziert, so dass nun beide Bedingungen erfüllt waren. Als Startdatum wurde mit Bedacht der 17. Juli 2018 festgelegt, der 20. Geburtstag des Römischen Statuts. Auch diese Resolution wurde einstimmig angenommen, allerdings nach harten Verhandlungen.

Invasionen und Bombardierungen

Artikel 8 bis des Römischen Statuts definiert das Verbrechen der Aggression als "Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Ausführung einer Angriffshandlung, die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 darstellt". Der Artikel nennt sieben Modalitäten, die als "Angriffhandlungen" gelten, von der Invasion (mit Bodentruppen) über die Bombardierung bis zur Blockade von Häfen. Als Angriffshandlung soll auch gelten, wenn das eigene Territorium einem anderen Staat für Angriffe zur Verfügung gestellt wird.

Strafbar machen kann sich dabei aber nur eine Person, "die tatsächlich in der Lage ist, das politische oder militärische Handeln eines Staates zu kontrollieren oder zu lenken." Es geht also nicht um Strafverfolgung einfacher Soldaten und Offiziere, sondern um Staats-Chefs und die obersten Militärbefehlshaber.

Ein Aggressions-Vorwurf kann auf drei Wegen zum IStGH kommen. Zum einen kann jeder Vertragsstaat die IStGH-Chefanklägerin (derzeit die Gambierin Fatou Bom Bensouda) um Prüfung bitten. Zum zweiten kann diese auch aus eigenem Entschluss einen Vorgang untersuchen. Für eingehende Untersuchungen braucht sie aber die Genehmigung der Vorverfahrenskammer des IStGH. Drittens kann auch der UN-Sicherheitsrat dem IStGH mutmaßliche Aggressionsfälle vorlegen.

Die Ausnahmen überwiegen

Während das völkerrechtliche Gewaltverbot der UN-Charta verbindlich für alle Staaten gilt, gibt es zahlreiche Ausnahmen für die strafrechtliche Verfolgung der Staats-Chefs und Befehlshaber, die das Gewaltverbot brechen.

Da das römische Statut ein völkerrechtlicher Vertrag ist, hat er nur Gültigkeit für die Staaten, die ihn ratifiziert haben, also zum Beispiel nicht für die USA, Russland und China. Es gibt hier auch keine Ausnahme, wenn ein Vertragsstaat angegriffen wird.  Hinzu kommt, dass auch die Kampala-Änderungen nicht von allen IStGH-Vertragsstaaten ratifiziert wurden. Derzeit gelten die Ergänzungen nur für 35 Staaten, vor allem aus Europa, einschließlich Deutschland. Der Großteil der Vertragsstaaten hat sich diesem Schritt bisher also verweigert, also zum Beispiel auch Staaten wie Großbritannien und Frankreich. Die Abstinenz schützt freilich nicht davor, dass der UN-Sicherheitsrat einen entsprechenden Fall dem IStGH vorlegt.

Selbst die Staaten, die die Kampala-Änderungen ratifiziert haben, können jederzeit per Erklärung an den Gerichtshof mitteilen, dass sie die Gerichtsbarkeit über Aggressions-Vorwürfe nicht akzeptieren. Die Erklärung muss allerdings vor der fraglichen Handlung abgegeben worden sein. Und auch diese Erklärung kann nicht verhindern, dass der UN-Sicherheitsrat die Sache zum IStGH bringt.

Graubereich: nur offenkundige Verletzungen der UN-Charta  

Eine wichtige inhaltliche Einschränkung findet sich in der Definition des Aggressionsverbrechens. Weil nur "offenkundige" Verletzungen der UN-Charta strafbar sein sollen, sind völkerrechtlich umstrittene Aggressionen ausgenommen. Dies gilt vor allem für "humanitäre Interventionen", die ohne das eigentlich erforderliche Mandat des UN-Sicherheitsrats vorgenommen wurden. Die These von der generellen Zulässigkeit humanitärer Interventionen hat sich zwar völkerrechtlich nicht durchgesetzt, wird aber immer noch von zahlreichen Staaten und manchen Wissenschaftlern vertreten.

Der Kölner Rechtsprofessor Claus Kreß nennt als weitere Fälle in der völkerrechtlichen Grauzone die "antizipatorische" Selbstverteidigung und die Selbstverteidigung gegen Angriffe von nicht-staatlichen Akteuren, etwa Terrorgruppen. Kritiker wenden ein, dass Staaten mit willfährigen Völkerrechtsprofessoren so jedes Handeln in den Graubereich des Umstrittenen rücken können.

Als vierte Einschränkung hat der UN-Sicherheitsrat eine Veto-Position erhalten. Wenn dieser in einem potenziellen Fall keine Aggression feststellt und die IStGH-Anklägerin dennoch mit Genehmigung der Vorverfahrenskammer ermittelt, dann kann der UN-Sicherheitsrat diese Ermittlungen für ein Jahr stoppen. Da dieser Beschluss wiederholbar ist, kann er Ermittlungen faktisch auch dauerhaft verhindern.

Der Umfang und die Relevanz der Einschränkungen ist so groß, dass man sich kaum vorstellen kann, wie je ein Aggressionsverbrechen vor den IStGH kommen soll. Vielleicht sind Konstellationen nach einem Machtwechsel denkbar, schließlich geht es am IStGH ja um individuelle Verantwortlichkeit, nicht um Strafen für die Staaten als Völkerrechtssubjekte.

Aber wie so oft im Recht ist auch die Festschreibung von Prinzipien ein Wert an sich. Es besteht zumindest die Chance, dass die Lückenhaftigkeit der Umsetzung eines Tages als so defizitär angesehen wird, dass die Einschränkungen nach und nach aufgehoben werden.

*Zuständigkeit ergänzt um Kriegsverbrechen am 23.07.2018, 14.56 Uhr

Zitiervorschlag

Christian Rath, Internationaler Strafgerichtshof: . In: Legal Tribune Online, 21.07.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29901 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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