Ab kommendem Jahr darf das UN-Palästinenserhilfswerk nicht mehr in Israel arbeiten. Faktisch werden so die Palästinensergebiete abgeriegelt. Völkerrechtler Matthias Goldmann ordnet das Verbot ein – und sieht Anzeichen für einen Genozid.
LTO: Herr Professor Goldmann, mit zwei umstrittenen Gesetzen hat das israelische Parlament dem UN-Palästinenserhilfswerk (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees, UNRWA) die Tätigkeit in Israel untersagt. Was hat die Knesset genau beschlossen?
Prof. Dr. Matthias Goldmann: Israel hat alle Aktivitäten des UNRWA auf israelischem Staatsgebiet untersagt. Ein zweites Gesetz verbietet jeglichen Kontakt israelischer Behörden mit dem Hilfswerk. Beide Gesetze sollen binnen 90 Tagen nach Veröffentlichung in Kraft treten.
Auf dem Papier soll das Verbot zwar nur für israelisches Territorium gelten, allerdings wird das UNRWA seine Einsätze auch in den Palästinensergebieten im Gazastreifen, im Westjordanland und in Ostjerusalem nicht fortsetzen können, denn Israel kontrolliert alle Zugänge und Hilfslieferungen. Die Mitarbeitenden des UNRWA kommen also gar nicht nach Gaza oder ins Westjordanland, ohne durch Israel oder einen von Israel kontrollierten Grenzübergang zu gehen. De facto führt das also zu einem Zugangsverbot für das UNRWA.
Wie begründet Israel das Verbot?
Israel wirft dem UNRWA vor, einige seiner Mitarbeiter seien in das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 verwickelt gewesen. Im August waren deshalb neun UNRWA-Mitarbeitende entlassen worden. Insgesamt ist die Zahl der nachgewiesenen Fälle von Mitarbeit bei Hamas, vor allem auf höherer Ebene, allerdings sehr gering. UNRWA beschäftigt nach eigenen Angaben rund 30.000 Mitarbeiter vor Ort, von denen die überwiegende Mehrheit palästinensische Flüchtlinge sind. Israel meint jedoch, die Organisation als Ganzes sei von der Hamas unterwandert und will das UNRWA als Terrororganisation einstufen. Dabei hat UNRWA als Reaktion auf die Vorwürfe einen Maßnahmenkatalog aufgestellt, der die Neutralität des Hilfswerks sichern soll.
"Verbot wird dramatische humanitäre Lage weiter verschlechtern"
Welche Folgen hat das UNRWA-Verbot?
Das Verbot hat Auswirkungen auf die gesamten palästinensischen Gebiete. Zum Beispiel spielt UNRWA eine entscheidende Rolle für die Schulbildung in Flüchtlingssiedlungen. Hier besteht die Gefahr, dass viele Kinder nicht mehr zur Schule gehen können. Drastischer dürften die Auswirkungen auf den Gazastreifen sein. Das Verbot wird die ohnehin schon dramatische humanitäre Lage noch weiter verschlechtern. UNRWA stellt hier oft die einzige funktionierende Infrastruktur. Und das kann lebensbedrohlich sein. Im Gazastreifen sind rund zwei Millionen Menschen auf die Unterstützung von UNRWA angewiesen. Nahezu alle Hilfslieferungen, die derzeit im Gazastreifen ankommen, laufen über das UNRWA.
Israel hat zwar angekündigt, es werde weiterhin mit anderen UN-Agenturen wie dem Welternährungsprogramm, dem UN-Kinderhilfswerk Unicef und der Weltgesundheitsorganisation zusammenarbeiten und humanitäre Hilfe sicherstellen. Auch private Träger von humanitärer Hilfe könnten einspringen. Das wird die Arbeit des UNRWA aber nicht gleichwertig ersetzen können, vor allem nicht kurzfristig. Keine Organisation verfügt über die gleichen Kenntnisse und Strukturen – gerade bei dem Zustand, in dem Gaza gerade ist.
Darf Israel denn grundsätzlich so eine Regelung treffen?
Grundsätzlich dürfte Israel aufgrund seiner Souveränität die Angelegenheiten auf seinem Staatsgebiet regeln. Allerdings enthält Art. 2 Abs. 5 der UN-Charta eine allgemeine Kooperationspflicht mit der UN. Staaten sind verpflichtet, den UN bei der Durchführung ihrer Maßnahmen Beistand zu leisten. UNRWA hat zwar kein Mandat des Sicherheitsrates, aber die Einsetzung ist von der Generalversammlung beschlossen worden. Israel ist deshalb verpflichtet, mit UNRWA zu kooperieren. Natürlich hat Israel auch Sicherheitsinteressen und muss sich selbst vor Terrorismus schützen – allerdings halte ich es nicht für verhältnismäßig, die gesamte Zivilbevölkerung bei der dünnen Beweislage so schwerwiegenden Risiken auszusetzen.
Ferner ist hier zu beachten, dass Israel nach wie vor die palästinensischen Gebiete Westjordanland, Ostjerusalem und den Gazastreifen besetzt hält. Zwar hat der Internationale Gerichtshof (IGH) in seinem Gutachten Ende Juli festgestellt, dass die Besatzung rechtswidrig ist und Israel aufgefordert, sich "so schnell wie möglich" aus den Gebieten zurückzuziehen. Damit entfallen jedoch nicht die humanitären Pflichten der Besatzungsmacht zum Schutz der Zivilbevölkerung. Außerdem ist Israel zum Schutz der Menschenrechte verpflichtet.
"Israel ist verpflichtet, dem UNRWA Hilfe zu leisten"
Gegen welche Normen verstößt Israel konkret?
Hier geht es vor allem um verschiedene Normen aus der vierten Genfer Konvention, die den Schutz der Zivilbevölkerung in internationalen bewaffneten Konflikten wie in Gaza regelt. Die Parteien eines solchen Konfliktes sind verpflichtet, humanitäre Hilfe für die betroffene Zivilbevölkerung sicherzustellen. Auch das Westjordanland ist immer noch besetzt. Nach Art. 59 der IV. Genfer Konvention muss die Besetzungsmacht die Versorgung der Bevölkerung sicherstellen und humanitäre Hilfe mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln erleichtern. Durch die vollständige Abriegelung der Gebiete von humanitärer Hilfe verstößt Israel auch gegen verschiedene menschenrechtliche Verpflichtungen.
Etwa zwei Millionen Menschen sind in Gaza auf die lebenswichtige Hilfe des UNRWA angewiesen – das fällt jetzt weg. Könnte das UNRWA-Verbot womöglich auch für den Vorwurf des Völkermordes eine Rolle spielen, den Südafrika gegen Israel vor dem IGH erhebt? Die Hürden für den Nachweis eines solchen Genozids im Rechtssinne sind ja extrem hoch. Erforderlich ist unter anderem die Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Dies hielten viele Experten nach Erhebung von Südafrikas Klage im Dezember 2023 für abwegig. Mittlerweile wird dies offener diskutiert. Gerade international gibt es Stimmen, die das Geschehen nun anders bewerten. Einige sehen zumindest das Risiko eines Genozids.
In der Tat ist die Hürde für die Feststellung eines Genozids sehr hoch. Die Vernichtungsabsicht lässt sich nicht leicht nachweisen. Sofern wie hier keine direkten Vernichtungsbefehle vorliegen, setzt der Internationale Gerichtshof den Nachweis eines “pattern of conduct” voraus, das sich nicht anders als ein Vernichtungsplan lesen lässt.
Die Lage im Gazastreifen bleibt schwierig zu beurteilen. Aber: Die Anzeichen für einen Genozid verdichten sich. Zumindest das Risiko eines Genozids, von dem auch der IGH spricht, würde ich hier als gegeben ansehen. Die Menschen im Gazastreifen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen und aus meiner Sicht kann man die Hilfe in der vorgesehenen Übergangsfrist von drei Monaten nicht effektiv neu regeln.
Auf der anderen Seite ließ Israel im ersten Halbjahr 2024 tatsächlich mehr Hilfe in den Gazastreifen als zu Beginn des bewaffneten Konflikts. Auch hat es die Impfungen gegen Polio ermöglicht. Hier entsteht der Eindruck, dass Israel sich um die Bevölkerung kümmert. Dann jedoch werden wieder Krankenhäuser beschossen und Menschen vertrieben. Man könnte angesichts dieser Widersprüche den Eindruck gewinnen, dass Israel mit Ambivalenzen spielt und hier der Eindruck einer Vernichtungsabsicht vermieden werden soll.
“Ich warne vor vorschnellen Schlüssen”
Völkermord ist ja ein extrem schwerer Vorwurf. Israel verteidigte sich vor dem IGH damit, es wolle kein Volk vernichten, sondern sein eigenes Volk schützen. UN-Generalssekretär António Guterres sprach am Mittwoch nicht von Völkermord, aber der Gefahr einer “ethnischen Säuberung”. Der Völkerrechtler Matthias Herdegen hielt auch dies im Dezember 2023 noch für abwegig. Wie ist das nun einzuordnen?
Es deutet vieles auf eine ethnische Säuberung hin. Der Unterschied zum Genozid liegt dabei vor allem in der Zielsetzung. Bei der ethnischen Säuberung geht es darum, eine bestimmte Gruppe aus einem Gebiet zu vertreiben; bei einem Völkermord muss die Vernichtungsabsicht hinzukommen. Wenn man sich aber anschaut, was in den Flüchtlingslagern und auch im gesamten Gazastreifen passiert, verdichtet sich der Eindruck, dass die Bevölkerung nicht nur an einen anderen Ort vertrieben wird, sondern in vielen Fällen in eine ausweglose Lage gebracht wird. Hier könnte eine ethnische Säuberung in einen Genozid umschlagen.
Hinzukommt, dass das Kriegsziel scheinbar immer weiter ausgeweitet wird. Nach der Tötung von Jihia al-Sinwar, der als Drahtzieher des Massakers vom 7. Oktober gilt, gibt es keine namhaften Hamas-Führer mehr im Gazastreifen. Auch die Geisel-Deals sind gescheitert. Deshalb stellt sich jetzt schon die Frage, welches Ziel Israel jetzt noch verfolgt. Allerdings warne ich vor vorschnellen Schlüssen, die Lage ist sehr komplex. Insofern ist das UNRWA-Verbot ein weiteres Mosaiksteinchen, das sich in ein "pattern of conduct", ein auf Vernichtungsabsicht hindeutendes Verhaltensmuster, wie der IGH es für einen Genozid voraussetzt, einfügt.
"Der IGH sollte erneut tätig werden"
Der IGH hat Israel ja bereits mehrmals dazu verpflichtet, mehr humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zu lassen, zuletzt Ende Mai. Durch das UNRWA-Verbot wird es jetzt noch schwieriger, die Zivilbevölkerung in Gaza zu versorgen. Glauben Sie, dass der IGH bald erneut tätig wird?
Ich könnte mir gut vorstellen, dass Südafrika weitere vorsorgliche Maßnahmen beantragt und der IGH dann die Verpflichtung ausspricht, humanitäre Hilfe durch das UNRWA zu ermöglichen, bis es einen gleichwertigen Ersatz gibt.
Allerdings könnte der IGH auch tätig werden, ohne dass Südafrika dies beantragt. Das ist zwar unwahrscheinlich, aber rechtlich möglich. Nach Art. 75 seiner Gerichtsordnung kann er nämlich jederzeit von Amts wegen prüfen, ob die Anordnung einstweiliger Maßnahmen erforderlich ist. Art. 76 Nr. 1 bestimmt, dass er – wenn die Änderung der Sachlage dies rechtfertigt – jederzeit vor der endgültigen Entscheidung eines Rechtsstreits einstweilige Maßnahmen aufheben oder abändern kann. Eine solche Änderung der Sachlage könnte man hier annehmen.
In der Anordnung könnte der IGH klären, wie sich Israels Sicherheitsinteressen zu seinen Kooperationspflichten und auch seinen humanitären Pflichten verhalten. Israel ist den bisherigen Anordnungen nicht ausreichend nachgekommen, deshalb sollte der IGH erneut tätig werden.
Und darauf reagiert Israel dann?
Bei der Durchsetzung des humanitären Völkerrechts sollte jedenfalls nichts unversucht gelassen werden.
Vielen Dank für das Gespräch!
Prof. Dr. Matthias Goldmann ist Inhaber des Lehrstuhls für Internationales Recht an der EBS Universität Wiesbaden sowie Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.
* Das Interview wurde aufgrund eines Redaktionsversehens am 31.10.24 in einer Vorfassung veröffentlicht. Die Endfassung enthält Ergänzungen zum Kontext der völkerrechtlichen Diskussion.
UNRWA-Verbot in Israel: . In: Legal Tribune Online, 01.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55760 (abgerufen am: 13.11.2024 )
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