IGH-Gutachtenverfahren zur israelischen Besatzung: Muss Israel raus aus dem West­jord­an­land?

Gastbeitrag von Lisa Wiese

14.02.2023

Die USA und die EU sind besorgt, nachdem Israels Regierung soeben weitere Siedlungen im besetzten Westjordanland genehmigt hat. Nun könnte ein Gutachten des IGH Israels Besatzung dort verurteilen, wie Lisa Wiese erläutert.

Ende Dezember 2022 stimmte die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) über eine Resolution ab, wonach der Internationale Gerichtshof (IGH) gemäß Art. 96 Abs. 1 UN-Charta ein Gutachten zur israelischen Besetzung, Besiedlung und Annexion der palästinensischen Gebiete erstatten soll (A/RES/77/247). Mit 87 der 193 Mitgliederstimmen wurde die Resolution angenommen. Israel, die USA und 24 weitere Mitglieder (darunter Deutschland) stimmten dagegen, 53 Staaten enthielten sich der Stimme.

Der IGH hat nun den rechtlichen Status und Konsequenzen der israelischen Besatzung seit 1967 in der Westbank zu ermitteln. Darüber hinaus ist zu untersuchen, ob sich hieraus eine fortwährende Verletzung des Rechts des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung ergibt. Das Rechtsgutachten soll sich auch mit Israels Maßnahmen beschäftigen, die auf die Veränderung der demografischen Zusammensetzung und des Charakters und Status von Ost-Jerusalem abzielen (also dem Siedlungsbau und Überführung der eigenen Bevölkerung in diese Gebiete). Schließlich soll der IGH auch eine rechtliche Wertung zu denen von Israel erlassenen speziellen, möglicherweise diskriminierenden Rechtsvorschriften und Maßnahmen vornehmen, die in den besetzten Gebieten gelten.

Israel: "UN-Entscheidungen sind illegitim"

Während die Palästinenser die UN-Resolution als historischen Erfolg bewerten, hält Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sie für eine "antiisraelische Entscheidung".  "Wie Hunderte von anderen verqueren Resolutionen der VN-Vollversammlung gegen Israel wird auch die jüngste Resolution die israelische Regierung nicht verpflichten. Das jüdische Volk hält sein eigenes Land nicht besetzt", sagte er. Israels UN-Botschafter Gilad Erdan stellte klar, dass jede Entscheidung eines Rechtsorgans, das sein Mandat von den "moralisch bankrotten und politisierten Vereinten Nationen erhalte", ohnehin völlig illegitim sei.

Israel hatte im Anschluss an den Sechstagekrieg 1967 unter anderem das Westjordanland (Westbank) und Ostjerusalem erobert. Mittlerweile leben dort mehr als 600.000 israelische Siedlerinnen und Siedler. Die Koalitionsvereinbarungen der neu gebildeten Regierung sehen vor, dass der Siedlungsbau im Westjordanland weiter vorangetrieben wird und zahlreiche Infrastrukturprojekte zum Nutzen der Siedlungen umgesetzt werden.

Noch Besatzung oder schon Annexion?

Zu welchem Ergebnis das IGH-Gutachten kommen wird, ist nicht absehbar: Der erste Teil der beschlossenen UN-Resolution bezieht sich auf mögliche Verstöße gegen die Grundprinzipien des Besatzungsrechts, wie die Verlängerung trotz des zeitlich vorübergehenden Charakters eine Militärbesatzung oder die Annexion (einseitige Schaffung staatlicher Souveränität der Besatzungsmacht auf dem besetzten Gebiet). Aus völkerrechtlicher Sicht ist unklar, ab wann eine dauerhafte Besatzung in Kriegszeiten rechtswidrig wird.

Nach dem im Israel-Palästina Konflikt anwendbaren humanitären Völkerrecht ist eine Militärbesatzung jedenfalls dann nicht mehr als rechtmäßig anzusehen, wenn sie – wie im konkreten Fall – über 50 Jahre andauert, Teile des besetzten Gebietes annektiert werden, die Besatzungsmacht nicht im besten Interesse der besetzten Bevölkerung handelt oder das besetzte Gebiet nicht in gutem Glauben verwaltet wird.

Hinsichtlich der Annektierung von besetztem Gebiet ist zwischen einer de jure und de facto Annexion zu unterscheiden. Erstere ist die formale Ausdehnung der Souveränität eines Staates auf ein Gebiet nach seinem innerstaatlichen Recht (aber nicht notwendigerweise nach internationalem Recht). De facto Annexion ist ein Begriff, den der IGH im Jahr 2003 in einem Gutachten zu den rechtlichen Folgen des Baus einer Mauer in den besetzten palästinensischen Gebieten beschreibt. Hiernach schaffe der Bau der Mauer und das damit verbundene Regime "vollendete Tatsachen" (fait accompli) vor Ort, die dauerhaft werden und ungeachtet der formalen Charakterisierung, gleichbedeutend mit einer de-facto Annexion seien.

Schaffung unumkehrbarer Tatsachen

Seit Beginn der Besatzung 1967 hat Israel Hunderte zivile Siedlungen ausschließlich für seine jüdische Bevölkerung errichtet und die dazugehörige Infrastruktur für Wasser, Strom, Mobilität, Gesundheit und Bildung in den besetzten palästinensischen Gebieten geschaffen. Durch den Bau von israelischen Siedlungen in der Westbank, werden auch hier Tatsachen am Boden geschaffen, die dauerhaft und unumkehrbar sind.

Möglichweise hat der IGH nunmehr Grund zur Annahme, dass nicht nur die durch die Sperranlage entstandene Situation, sondern auch Israels Besatzung einer de-facto-Annexion gleichkommt, zumindest in dem Teil des palästinensischen Gebiets, der unter ausschließlicher israelischer Verwaltung steht (Gebiet C gemäß Osloer Verträge).

Die politischen Leitlinien der rechtsorientierten neuen israelischen Regierung, die Ende 2022 ihr Amt antrat, schließen jedenfalls auch die Annahme einer de-jure Annexion nichtmehr aus, wenn sie verkünden, dass das jüdische Volk das ausschließliche und unbestreitbare Recht auf ganz "Eretz Israel" (das Land von Samarien, Judäa und die Golanhöhen) habe und die Regierung die Besiedlung des Westjordanlandes weiterhin intensiv fördert.

Verstoß gegen das Apartheidverbot?

Innerhalb einer Besatzung ist es üblich, dass der eigenen Bevölkerung der Besatzungsmacht andere Rechte zustehen als der besetzten Bevölkerung. Im Rahmen dessen ist daher zwischen ungleicher Behandlung aufgrund von Staatszugehörigkeit und Diskriminierung wegen der Rasse zu unterscheiden. In der Vergangenheit haben große Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty Internation oder Human Rights Watch Israel sogar als Apartheidstaat bezeichnet. Internationale Verträge wie die Anti-Apartheidkonvention von 1974 oder das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998 definieren den Begriff als eine besonders schwere Form der diskriminierenden Unterdrückung und als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Damit wird das völkerrechtliche Verbot kriminalisiert, wodurch die individuelle strafrechtliche Verfolgung möglich ist.

Das Apartheidverbot besteht aus drei Elementen, nämlich (1) das Begehen besonders schwerwiegender Verstöße in Form von unmenschlichen Behandlungen um, (2) eine rassische Gruppe systematisch zu unterdrücken und (3) mit der Absicht ein institutionelles Regime der Vorherrschaft über die unterdrückte rassische Gruppe zu etablieren (AAK) oder aufrechtzuerhalten (Rom-Statut).

Israel hat weder die Anti-Apartheit Konvention noch das Rom-Statut ratifiziert. Stellt sich also die Frage, ob das Apartheidverbot völkergewohnheitsrechtlich etabliert ist und Israel auf dieser Grundlage völkerrechtlich bindet. Im Rahmen dessen ist aber offen, wie das völkergewohnheitsrechtliche Verständnis des Apartheidverbotes konkret ausgestaltet ist und ob für die Konturierung und Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs auf die Anti-Apartheidkonvention oder das Rom-Statut zurückgegriffen werden kann. Durch die nicht Ratifizierung hat Israel schließlich deutlich gemacht, dass es sich dieser Ausgestaltung und vor allem auch der Kriminalisierung des völkerrechtlichen Apartheidverbotes nicht unterwerfen wollte. Fraglich ist darüber hinaus die extraterritoriale Anwendbarkeit des Verbots, da Israel in der besetzten Westbank außerhalb des eigenen Staatsgebiets agiert.

Auch wenn der Resolutionstext der UN-Generalversammlung den diffamierenden Apartheidvorwurf nicht ausdrücklich erwähnt, könnte der IGH hierzu aber Stellung beziehen, weil der Resolutionstext einen Verweis auf diskriminierende Gesetze und Maßnahmen enthält. Dann müsste sich das Gericht aber der heiklen Aufgabe stellen das völkergewohnheitsrechtliche Apartheidverbot genau zu definieren und bei der Subsumtion den Besatzungskontext (Geltungsbereich des humanitären Völkerrechts) zu berücksichtigen. Dies ist besonders relevant bei dem Absichtselement (Absicht zu unterdrücken und zu beherrschen), denn nicht jede Maßnahme, die im Rahmen des Anwendungsbereichs des humanitären Völkerrechts (Besatzungsrecht) diskriminierend wirken, können per se als rassische Unterdrückung im Sinne des Apartheidverbotes verstanden werden.

IGH-Gutachten mit Signalwirkung

Auch wenn das IGH-Gutachten nicht bindend ist, so geht von ihm grundsätzlich eine große Signalwirkung aus. Mangels Rechtsdurchsetzungsmechanismus im Völkerrecht und auch mit Blick auf das bereits ergangenen Mauergutachten, stimmt eine Prognose zur Beendigung der Besatzung jedoch wenig optimistisch.

Da in der UN-Generalversammlung zudem noch nicht einmal die Hälfte aller 193 Mitglieder für die Resolution stimmten, ist zu vermuten, dass das Gutachten auch auf internationalen Gegenwind stoßen könnte. Wie stark dieser ausfallen wird, hängt sicher auch von der weiteren innenpolitischen Ausrichtung Israels ab.

Derzeit steht das Land wegen einer geplanten Justizreform massiv in der Kritik. Am Montag protestierten erneut Zehntausende in Jerusalem gegen das rechtsstaatlich bedenkliche Vorhaben. Auf dem Spiel steht der Erhalt der Demokratie mit einer unabhängigen Justiz.

Lisa Wiese (Ass. Iur.) ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Völker-, Europa- und Öffentliches Recht der Universität Leipzig. Sie forscht und lehrt zum Verfassungsrecht, zu Menschenrechten und Internationalem Strafrecht. Ihre Wahlstation verbrachte sie in Tel-Aviv, Israel und beschäftigte sich dort in einer Anwaltskanzlei mit jüdischen Restitutionsklagen und Diskriminierungsfällen.

Zitiervorschlag

IGH-Gutachtenverfahren zur israelischen Besatzung: . In: Legal Tribune Online, 14.02.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51058 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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