BVerwG- und ACA-Europe-Präsident Klaus Rennert im Interview: "Fans der euro­päi­schen Idee"

Interview von Tanja Podolski

17.06.2019

Das BVerwG hat seit einem Jahr die Präsidentschaft der ACA-Europe inne. Die Idee dieser europäischen Vereinigung und die Bedeutung für das Gericht in Leipzig erklärt der Präsident des BVerwG, Klaus Rennert, im Interview.

LTO: Herr Professor Rennert, das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat seit einem Jahr die Präsidentschaft beim ACA-Europe (ACA) inne. Was ist diese Vereinigung?

Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Rennert: Das ACA ist eine Vereinigung der obersten Verwaltungsgerichte der Europäischen Union und der assoziierten Mitglieder Schweiz und Norwegen sowie der EU-Beitrittskandidaten Serbien, Montenegro und auch der Türkei mit Beobachterstatus. Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist dabei. 

Mitglied im Verein sind also nicht die einzelnen Richter, sondern die Gerichte als Institutionen. Wir treffen uns dreimal im Jahr zu Seminaren und Kolloquien, um uns und unsere Arbeitsweisen kennenzulernen und auszutauschen. Ferner organisieren wir einen Richteraustausch und unterhalten eine Datenbank.

Seit einem Jahr hat das BVerwG die Präsidentschaft über den ACA inne. Was beinhaltet dieses Amt?

Die Präsidentschaft hat nach der Satzung die Aufgabe, die jährliche Generalversammlung durchzuführen. Vor allen aber darf sie für die zweijährige Amtszeit ein Konzept vorschlagen und damit Themen setzen. Von den insgesamt sechs Veranstaltungen finden vier in Deutschland, eines in Irland und eines in Tschechien statt. Auch die Iren und die Tschechen haben sich bei ihrer Themensetzung eng mit uns abgestimmt.  

Wir haben uns drei Schwerpunkte gesetzt: die Intensivierung der Rechtsvergleichung, die genauere Kenntnis der Arbeitsweise und der Arbeitsbedingungen unserer europäischen Partnergerichte und als drittes eine Reform der Datenbank der ACA. Die muss neu konzipiert, modernisiert und mit den neuen Datenbanken des EuGH und des EGMR abgeglichen werden.

An den Veranstaltungen nehmen natürlich nicht alle Richter der nationalen Gerichte teil, sondern die ACA bezahlt pro Mitgliedsland für einen Teilnehmer, von Seiten der Präsidentschaft sowie der künftigen Präsidentschaft für jeweils zwei Teilnehmer. Jedes Land kann aber auf eigene Kosten weitere Richter zu den Treffen schicken. Bei der jüngsten Tagung in Berlin waren wir 70 Teilnehmer aus ganz Europa, drei davon vom BVerwG.

"Die Gerichtspraxis ist europaweit von ähnlichen Intentionen geleitet"

Was haben Sie bei den bisherigen Tagungen besprochen?

Beim ersten Seminar im letzten Dezember in Köln ging es um das so genannte ReNEUAL-Projekt. Hinter dem Begriff steht ein Vorschlag von Hochschulprofessoren aus mehreren EU-Mitgliedstaaten für ein Verwaltungsverfahrensgesetz für die europäische Eigenverwaltung, also die Kommission und die Agenturen. Das ist nicht nur inhaltlich, sondern vor allem methodisch interessant. Aus dem Vergleich der nationalen Regelungsmodelle zu den diversen Sachfragen lassen sich Vorschläge für Änderungen im Verwaltungsverfahrensrecht entwickeln, für das europäische wie für das eigene nationale. 

In Berlin wie kurz zuvor in Dublin haben wir uns gegenseitig über unsere Arbeitsweise und unsere Arbeitsbedingungen berichtet. Es hat sich gezeigt, dass die praktischen Herausforderungen eigentlich überall dieselben sind: Wir haben zwar sehr verschiedene Prozessordnungen. Unsere Art und Weise, diese zu handhaben, wird aber praktisch durchweg von denselben Intentionen geleitet. So verschieden sind wir also gar nicht. 

Natürlich gibt es Besonderheiten, auch prägende. Unsere Besonderheit in Deutschland ist die hohe Diskursivität und Gründlichkeit unserer Fallbearbeitung: Wir wenden viel Zeit auf jeden Fall und viel Sorgfalt auf unsere schriftliche Entscheidungsbegründung. Deshalb ist uns der Zugangsfilter so wichtig, der es uns erst erlaubt, uns auf die wichtigen Fälle zu konzentrieren.

Welche Folgen haben diese Treffen für die Arbeit des BVerwG?

Die Rechtsprechung des BVerwG steht immer wieder vor neuen Sachfragen. Das ReNEUAL-Projekt kann uns beispielsweise ermuntern, beim Nachdenken über deren Lösung auch die Lösungsmodelle unserer europäischen Nachbarn einzubeziehen. Das führt nicht zu einer Totalharmonisierung, wohl aber auf längere Sicht zu einer gewissen Konvergenz der Regelungssysteme.

Darüber hinaus wurden wir zum Beispiel inspiriert, eine eigene Übersetzungsabteilung in Leipzig aufzubauen. Wir haben dafür im Projektstatus - Planstellen haben wir noch nicht - je eine französische und eine englische Fachübersetzerin für juristische Texte eingestellt. Zwar beherrschen erstaunlich viele Kollegen die deutsche Sprache, aber die ACA hat wie die EU als offizielle Sprachen Englisch und Französisch. Das gilt auch für die Urteils-Datenbanken. Wir können deshalb die Rechtsprechung des BVerwG nur dann nach Europa transportieren, wenn wir sie übersetzen.  

"Die menschliche Vernunft ist vergleichbar gestrickt"

Was können denn die anderen EU-Länder mit der Rechtsprechung des BVerwG anfangen? 

Wir haben mit einigem Erstaunen gelernt, wie viel die Länder gemein haben. Angefangen natürlich damit, dass wir Verwaltungsrichter es überall mit dem Staat und seinem Herrschaftsanspruch, seinen Regelungen und seiner Verwaltung zu tun haben. Die daraus folgenden sachlichen Probleme und die Herangehensweise sind zwar nicht überall dieselben, aber doch ähnlich, allein schon, weil die menschliche Vernunft vergleichbar gestrickt ist. 

Natürlich gibt es Unterschiede in den diversen Rechtssystemen. Das vergleichen wir; so kann man die Unterschiede erkennen und abschleifen oder gar ganz aufgeben, wo sie überflüssig sind. Immer aber sollte man das stehen lassen, was nationale oder historische, als wertvoll empfundene Eigenheiten sind. 

Werden diese Vergleiche langfristig zu einer Vereinheitlichung der Rechtsprechung führen, die auch beim EuGH zu weniger Arbeit führen könnte?

Wenn sich die nationalen Regelungen annähern, kann dies auch das Europarecht ein bisschen einfacher machen. Wenn wir uns Europa als Dreieck vorstellen, dann gibt es eine vertikale Sichtweise zur Spitze des Dreiecks – also zum Unionsrecht und dem EuGH als seinem Repräsentanten – und die horizontale Sicht, die über den Zaun des Nachbarn zu den nationalen Gerichten. Die Rechtsvergleichung betrifft zunächgst diese horizontale Sicht. Das Europarecht fällt aber nicht vom Himmel; es speist sich aus den vielfältigen nationalen Regelungstraditionen und Regelungsideen. Langfristig betrachtet bleibt eine Konvergenz der nationalen Systeme also auch fürs Unionsrecht nicht ohne Auswirkung.  

"Der Ertrag der ACA-Veranstaltungen ist für uns Richter ganz konkret vorhanden"

Wenn Sie sich als Richter über die Rechtssysteme der diversen Länder austauschen, schafft das in Ihrer Peergruppe sicherlich ein Verständnis füreinander. Was bringt das darüber hinaus? Ist die Politik an irgendeiner Stelle Adressat Ihrer Aktivitäten?

Sie ist nicht unmittelbar Adressat, aber mittelbar durchaus. Denn natürlich werden wir als oberste Richter bei gesetzgeberischen Vorhaben gelegentlich gefragt, und unsere Antworten sind beeinflusst von den Erfahrungen in der ACA. Das Seminar in Leipzig im nächsten Jahr dürfte für den Gesetzgeber sogar von besonderem Interesse sein. Wir befassen uns dann mit rechtlichen Fragen zum Informationshandeln der Verwaltung, damit auch zum Internet, zu Informationsansprüchen Dritter und zum Datenschutz. Da ist die deutsche Rechtslage im Fluss und es bestehen Erneuerungsbestrebungen und auch -bedarf. 

Das gilt nicht nur für den Gesetzgeber, sondern auch für die Gerichte. Für uns Richter ist der Ertrag der Veranstaltungen ganz konkret in der richterlichen Arbeit vorhanden und beeinflusst in sehr kleinen, nach außen wahrscheinlich gar nicht erkennbaren Schritten unsere Rechtsprechung. 

Das klingt so, als wären die Richter beim ACA alle Fans von Europa.

Fans der Europäischen Idee, das sind alle in der Tat. 

Gilt das auch für Länder wie Polen und Ungarn, in denen die Justiz in Bedrängnis ist?

Ja, unbedingt. Unsere polnischen und ungarischen Kollegen aus der Richterschaft nehmen ohne irgendwelche Repressalien unverändert an den Treffen teil und äußern sich uneingeschränkt. 
Wir haben als BVerwG auch bilaterale Beziehungen zu einigen Partnergerichten, so auch zu den höchsten Verwaltungsgerichten in Polen und Ungarn, die von einer ausgesprochenen Offenheit, Gastfreundschaft und Neugier gekennzeichnet sind. Über die Großwetterlage in den Ländern wird hier wie in der ACA frank und frei geredet. Gerade diese kollegiale und nicht selten freundschaftliche Offenheit stärkt die europäische Idee. Darin liegt eigentlich der Hauptzweck der ACA-Europe. 

Herr Professor Rennert, vielen Dank für das Gespräch.

Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Rennert ist seit Juli 2014 Präsident des Bundesverwaltungsgerichts. Während der deutschen Präsidentschaft der Vereinigung der Staatsräte und obersten Verwaltungsgerichte in Europa (ACA-Europe) von Mai 2018 bis zum Mai 2020 bekleidet Rennert zugleich das Amt des Präsidenten von ACA-Europe.

Zitiervorschlag

BVerwG- und ACA-Europe-Präsident Klaus Rennert im Interview: . In: Legal Tribune Online, 17.06.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35923 (abgerufen am: 03.11.2024 )

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