KlimaSeniorinnen ziehen vor den EGMR: "Die Chancen waren noch nie so gut wie jetzt"

Interview von Dr. Franziska Kring

10.12.2022

Schweizer Seniorinnen klagen gegen die Klimapolitik ihres Landes. Ab dem kommenden März verhandelt der EGMR den Fall. Co-Präsidentin der KlimaSeniorinnen Rosmarie Wydler-Wälti und Anwältin Cordelia Bähr über die Beschwerde.

LTO: Frau Wydler-Wälti, Sie sind Mitglied des Vereins mit dem Namen "KlimaSeniorinnen". Wer sind Sie und was wollen Sie erreichen?

Rosmarie Wydler-Wälti: In unserem Verein sind mittlerweile über 2.000 Schweizerinnen vereinigt – ältere Damen mit einem Durchschnittsalter von 73 Jahren. Im August 2016 gründeten wir unseren Verein mit rund 270 eingeschriebenen Mitgliedern mit dem Ziel, eine Klimaklage gegen den Bundesrat einzureichen.

Mitglied des Vereins können ausschließlich ältere Frauen ab einem Alter von 64 Jahren werden. Denn es ist wissenschaftlich erwiesen, dass wir Seniorinnen besonders anfällig für die Folgen des Klimawandels sind.

Ich bin Gründungsmitglied und Co-Präsidentin der KlimaSeniorinnen für die deutsche Schweiz.

Wieso sind ältere Damen besonders anfällig für die Folgen des Klimawandels?

Cordelia Bähr: Der Klimawandel führt zu häufigeren und intensiveren Hitzewellen, die den menschlichen Organismus belasten und zu einem Anstieg der Sterblichkeit führen. Dies liegt vor allem daran, dass starke Wärmebelastungen lebensbedrohliche Hirngefäß-, Herzkreislauf- und Atemwegserkrankungen verursachen können. Hitzewellen tragen zudem zu Dehydrierung, Hyperthermie, Ermattung, Bewusstlosigkeit, Hitzekrämpfen und Hitzschlag bei.

Hitzebedingte Todesfälle sind nicht zufällig über die Bevölkerung verteilt, sondern betreffen deutlich gehäuft ältere Menschen, vor allem Frauen – dies aufgrund ihrer altersbedingt beeinträchtigten Thermoregulation. Studien belegen, dass bei der ersten, großen Hitzewelle im Jahr 2003 in Europa tausende ältere Menschen starben, vorwiegend ältere Frauen.

 

 

Frau Wydler-Wälti, wie sind Sie zu den KlimaSeniorinnen gekommen?

Wydler-Wälti: Ich bin 72 Jahre alt und habe mein bisheriges Leben mit dem Bewusstsein für Umweltschutz verbracht. Schon in den 1970er Jahren habe ich mich an Demonstrationen gegen ein geplantes Atomkraftwerk in der Nähe von Basel beteiligt.

Ich habe versucht, so nachhaltig wie möglich zu leben: Beispielsweise hatten wir – obwohl wir vier Kinder haben – nie ein Auto. Zum letzten Mal geflogen bin ich vor zwölf Jahren, kaufe nur neue Sachen, wenn die alten kaputt sind. Ab einem gewissen Alter hat man alles, was man braucht.

Ich war auch bei der "GroßmütterRevolution" aktiv, einem Schweizer Netzwerk aus älteren Frauen, das sich für gesellschaftlich relevante Themen einsetzt. Bei einer Veranstaltung fragte Greenpeace uns, ob wir uns als Klägerinnen für mehr Klimaschutz einsetzen wollten. Ich war von dieser Idee begeistert und habe mich sofort gemeldet.

"Wenn alle entwickelten Staaten so handeln, verfehlen wir das 1,5 Grad-Ziel deutlich"

Anwältin Cordelia Bähr. Foto: Walter Bieri

Sie haben sich als Verein entschieden, gegen die Klimapolitik der Schweiz zu klagen. Frau Bähr, Sie vertreten die KlimaSeniorinnen dabei. Wieso verklagen Sie die Schweiz?

Bähr: Die Klimapolitik der Schweiz ist ungenügend. Die Zielsetzungen stimmen nicht mit dem Ziel des Paris-Abkommens überein, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Auch die Schweiz ist Mitglied des Pariser Klimaabkommens.

Die Schweiz hat sich eigene, niedrigere Reduktionsziele gesetzt. Dabei orientiert sie sich an einem Durchschnittswert, der nach den Berechnungen des Weltklimarats global erreicht werden muss.

Verschiedene Studien zeigen auf, wie faire Reduktionsziele der Schweiz aussehen müssen – und dafür reichen die derzeitigen Maßnahmen bei weitem nicht aus. Wenn alle entwickelten Staaten so handeln wie die Schweiz, verfehlen wir das 1,5 Grad-Ziel deutlich. Es liegt auf der Hand, dass wir als entwickelte Länder mehr tun können und müssen.

Die Maßnahmen, die die Schweiz derzeit ergreift und plant, reichen nicht einmal aus, um die eigenen – ungenügenden – Reduktionsziele zu erreichen.

Welche Klimaschutzmaßnahmen ergreift die Schweiz derzeit?

Bähr: Die Schweiz will über den Erwerb von Emissionszertifikaten im Ausland ihre (ungenügenden) Ziele auf dem Papier erreichen – aber innerhalb des Landes werden kaum griffige Maßnahmen umgesetzt. Zwischen 2010 und 2020 hatte die Schweiz sogar höhere Reduktionsziele als derzeit.
Und: Wir verlangen, dass die Schweiz auch Maßnahmen ergreift, um die grauen Emissionen zu reduzieren. Das sind Emissionen, die im Ausland entstehen, beispielsweise durch den Konsum von Schweizer:innen im Ausland.

"Die Schweiz soll Menschenrechte der älteren Frauen in Reduktionsziele einbeziehen"

Sie haben sich schon in der Schweiz durch alle Instanzen geklagt. Können Sie kurz den Verfahrensablauf schildern?

Bähr: Wir wollten zunächst beim Bundesrat, also der Schweizer Regierung, eine menschenrechtskonforme Klimapolitik erreichen. Dieser sollte dem Parlament ein verschärftes Klimaschutzgesetz vorschlagen, dessen Ziele dem Pariser Abkommen entsprechen. Der Bundesrat ist auf das Begehren nicht eingetreten, weil die Seniorinnen eine Verminderung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre bezwecken würden und nicht bloß eine Reduktion von CO2-Emissionen in ihrer Umgebung.

Dagegen haben wir vor dem Schweizer Bundesverwaltungsgericht geklagt – wiederum erfolglos (Anm. d. Redaktion: Urt. v. 27.11.2018, Az. A-2992/2017).

Wir wollen erreichen, dass insbesondere die Menschenrechte der älteren Frauen als besonders vulnerable Gruppe in die Festlegung der Reduktionsziele einbezogen werden.

Das abweisende Argument überzeugt kaum: Alle Menschen seien vom Klimawandel betroffen, deswegen konnte das Gericht keine besondere Betroffenheit der Seniorinnen feststellen. Das Bundesgericht als nächste Instanz wiederum sagte, die Seniorinnen seien nicht in der genügenden Intensität in ihren Rechten betroffen – es bliebe ja noch genug Zeit, um das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen. Auch inhaltlich äußerte es sich – und sah die Rechte der Frauen und auch der sonstigen Bevölkerung nicht als verletzt an (Anm. d. Redaktion: Urt. v. 05.05.2020, Az. 1C_37/2019).

Damit war zumindest der Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geebnet.

 

Worauf stützen Sie die Individualbeschwerde beim EGMR?

Bähr: Wir sehen die Art. 2, 8, 6 und 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) als verletzt an. Aus den Rechten auf Leben aus Art. 2 sowie auf Privat- und Familienleben aus Art. 8 hat der Staat eine positive Schutzpflicht und muss seine Bürger:innen schützen. Die konkrete Ausgestaltung dieser Schutzpflicht ergibt sich insbesondere aus dem Pariser Übereinkommen in Verbindung mit den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Vor diesem Hintergrund ist es die menschenrechtliche Pflicht der Schweiz, alles zu tun, um das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen.

Außerdem stützen wir uns auf die prozessualen Bestimmungen in Art. 6 und 13 EMRK. Dadurch, dass die Schweiz die Klagen der Seniorinnen schon auf der Ebene der Zulässigkeit abgewiesen hat, hat sie das Recht auf Zugang zu einem Gericht verletzt.    

"Eine Verhandlung bei der Großen Kammer ist keine Routineangelegenheit"

Wie ist der Stand der Beschwerde beim EGMR?

Bähr: Ab dem 29. März 2023 findet die öffentliche Verhandlung am EGMR statt. Die zuständige Kammer hatte den Fall bereits Ende April 2022 an die Große Kammer überwiesen.

Drittbeteiligte in dem Verfahren sind u.a. die ehemalige UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet sowie die drei UN-Sonderberichterstatter:innen David R. Boyd, Marcos A. Orellana und Claudia Mahler. Beim EGMR können sich nämlich Dritte einbringen und beantragen, dem Gericht Stellungnahmen einzureichen. Alle haben deutlich gemacht, wie wichtig es ist, dass der EGMR die Frage, ob ein Staat mit einem ungenügenden Klimaschutz seine Schutzpflicht verletzt, klärt.

Eine Überweisung an die Große Kammer passiert nur äußerst selten. Was bedeutet das für das Verfahren – und für Sie persönlich?

Bähr: Überweisungen erfolgen bei bedeutenden Fragen zur Auslegung der EMRK. Weiterer Aspekt: Es wird eine schnellere Entscheidung geben – hätte die Kammer selbst entschieden, hätten die Schweiz oder wir das Urteil in nächster Instanz noch von der Großen Kammer überprüfen lassen können. Für mich persönlich ist es ebenfalls besonders spannend – eine Verhandlung bei der Großen Kammer des EGMR ist schließlich keine Routineangelegenheit für eine Anwältin.

Wydler-Wälti: Wir merken, dass das Bewusstsein für den Klimawandel zunimmt und wir deutlich mehr mediale Aufmerksamkeit bekommen. Die Klage zeigt, was wir Frauen ab 64 auch noch bewirken können – außer Enkel betreuen und Kuchen backen. Es wäre eine große Freude und auch ein Sieg für uns ältere Frauen, wenn wir über diese Klischees hinaus noch etwas so Wichtiges und Dringendes erreichen könnten.

"In Zukunft wird es deutlich mehr Klimaklagen geben"

Welche Erfolgschancen rechnen Sie sich für die Individualbeschwerde aus?

Bähr: Die Chancen waren noch nie so gut wie jetzt. Die Überweisung an die Große Kammer, die Dringlicherklärung der Klage und das Interesse des EGMR, sich mit Klimafragen zu beschäftigen, stimmen mich optimistisch.

Der EGMR ist ein auf Menschenrechte spezialisiertes Gericht und wird sich – anders als die Schweizer Gerichte – intensiv mit der Thematik beschäftigen.

Was erhoffen Sie sich von der Entscheidung des EGMR – auch im Hinblick auf andere Klimaklagen?

Wydler-Wälti: Ich denke, dass es in Zukunft noch deutlich mehr Klimaklagen geben wird. Organisationen und Aktivist:innen aus verschiedenen Staaten haben uns eingeladen, um über unsere Klage zu sprechen – und zu erfahren, wie wir vorgegangen sind.

Bähr: Eine Entscheidung des EGMR in unserem Sinne wäre ein Präzedenzfall – und würde mittelbare Auswirkungen für alle Staaten des Europarates haben. Die würden dazu angehalten, ihre eigene Klimapolitik zu überprüfen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zitiervorschlag

KlimaSeniorinnen ziehen vor den EGMR: . In: Legal Tribune Online, 10.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50406 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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