Gefahrenabwehr statt 'Impfzwang'?: Frei­heit für alle oder Frei­heit für nie­mand?

Gastbeitrag von Prof. Dr. Thorsten Kingreen

02.08.2021

Die Diskussion über eine "mittelbare Impfpflicht" leidet an einer falschen Fragestellung. Zu fragen ist, welche Eingriffe sind zulässig, wenn keine rechtliche Gefahr vorliegt? Ein Stadionbesuch erleichtert die Rechtsfindung, meint Thorsten Kingreen.

Mit der Feststellung, dass Geimpfte bald "mehr Freiheiten" haben werden, hat Helge Braun (CDU) getan, was von ihm als Kanzleramtsminister erwartet wird: eine mediale Probebohrung starten und schauen, wohin sie führt. Stößt sie auf Gold, war er "His Master’s Voice", landet sie nur im Schlamm, war es halt eine private Aktion, von der die Meisterin nichts gewusst hat. Die Kanzlerin hat sich die Position jedenfalls bislang nicht zu eigen gemacht, nachdem die Debatte in das politisch eher toxische "Diskriminierungs-Privilegierungs-Schema" abgeglitten ist.

Ein Kanzlerkandidat (Armin Laschet) wendet sich "gegen eine Bevorzugung Geimpfter", die beiden anderen sagen lieber gar nichts; einer, der es gerne geworden wäre, fordert hingegen "Freiheit für Geimpfte". Was ist davon verfassungsrechtlich zu halten? Fordert Braun verfassungswidrige Diskriminierungen für Ungeimpfte oder wendet er sich gleichsam umgekehrt gegen verfassungswidrige Eingriffe in die Freiheitsrechte von Geimpften?

Ein Blick ins Fußballstadion hilft

Jura lebt von Fällen. Manchmal hilft daher ein einfacher Fall, um die Dinge rechtlich zu ordnen. Nehmen wir das Stadion eines beliebten westfälischen Bundesligisten, es bietet Platz für 81.365 Zuschauer. Nach den Regelungen der einschlägigen Corona-Schutzverordnung und der speziell für den Besuch von Stadien getroffenen Absprache der Chefinnen und Chefs der Staats- und Senatskanzleien dürfen die Stadien nur zu maximal 50 Prozent ausgelastet werden, wobei die Gesamtzahl der Zuschauenden bei 25.000 gedeckelt ist. Steigt der Inzidenzwert aber an drei aufeinander folgenden Tagen auf über 35, dürfen nur noch 1.000 Zuschauer ins Stadion. Angesichts der Infektionsdynamik muss davon ausgegangen werden, dass dieser Grenzwert bis zum ersten Heimspiel des Bundesligisten Mitte August 2021 überschritten sein wird. Der Verein muss daher u.a. zwei Fans, einem ungeimpften und einem geimpften, mitteilen, dass sie nicht ins Stadion dürfen und daher ihre Tickets zurückgeben müssen.

Die Beschränkungen greifen in die Berufsfreiheit des Vereins ein. Die beiden Fans sind in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt; wer nicht fußballerisch sozialisiert ist, wird allenfalls fragen, ob es nicht auch die allgemeine Handlungsfreiheit tut.

Auf die Gefahr kommt es an

Diese Eingriffe wären verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn sie in verhältnismäßiger Weise andere Rechtsgüter schützen. Insbesondere sind sie zum Schutz vor Gefahren für Gesundheit und Leben zulässig, aber unzulässig, wenn keine Gefahr besteht. Der Begriff der "Gefahr" ist konstitutiv für das Gefahrenabwehrrecht. Für ihn reicht es nicht aus, dass möglicherweise irgendwann, irgendwo, irgendetwas geschieht, sondern das drohende Schadensereignis muss in sachlicher, zeitlicher und personeller Hinsicht hinreichend konkretisiert sein. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist Versuchen, die Eingriffsschwelle in ein Gefahrenvorfeld zu verlagern, stets entgegengetreten (BVerfG, Urt. v. 20.04.2016, Az. 1 BvR 966/09, 1 BvR 1140/09).

Nach den Erfahrungen mit einem Virus, das allein hierzulande fast 4 Millionen Menschen angesteckt hat und über 90.000 Menschen das Leben gekostet hat, darf man davon ausgehen, dass der ungeimpfte Fan ebenso gefährdet wie gefährlich ist. Das Virus ist für ihn bislang auch nicht dadurch ungefährlicher geworden, dass mittlerweile die Mehrzahl seiner Mitbürger(innen) geimpft ist. Diese Gefahr mag durch Tests reduziert werden, die aber – egal, ob es sich um PCR- oder Antigentests handelt – immer nur Momentaufnahmen sind.

Beim geimpften Fan liegen die Dinge anders. Das Robert-Koch-Institut fasst den Stand der wissenschaftlichen Forschung dahingehend zusammen, dass "die Impfung das Risiko einer Virusübertragung in dem Maß reduziert, dass Geimpfte bei der Epidemiologie der Erkrankung keine wesentliche Rolle mehr spielen." Das darf man so deuten, dass von dem geimpften Fan keine rechtlich relevante Gefahr mehr für die Weiterverbreitung des Virus ausgeht. Natürlich vermittelt die Impfung keine hundertprozentige Sicherheit gegen Ansteckungen und die Weitergabe des Virus. Aber das nimmt der rechtsstaatliche Begriff der Gefahr um der Freiheit willen hin. Er lässt nämlich nicht schon die Möglichkeit eines Schadenseintritts ausreichen, sondern setzt dessen "hinreichende Wahrscheinlichkeit" voraus. Wie wichtig diese Unterscheidung ist, zeigt sich im Fall eines Virus, das man eben nicht einfach wegimpfen kann. Wenn man trotz der theoretischen Möglichkeit der Ansteckung auch Geimpften weiterhin den Zugang zu Veranstaltungen verwehren wollte, könnte man Stadien, Theater und Universitätshörsäle auch gleich abreißen.

Eintracht Frankfurt wehrt sich erfolgreich gegen Beschränkung

Auch die Berufsfreiheit des Fußballvereins wird verfassungswidrig beschränkt, denn ihm wird verboten, Verträge mit Personen abzuschließen, von denen keine rechtlich relevante Gefahr ausgeht. Er wird sich bestärkt fühlen durch die Auseinandersetzung, die der hessische Wettbewerber Eintracht Frankfurt soeben erfolgreich mit dem Land Hessen geführt hat. Dieses hatte den ursprünglichen Plan der Eintracht, zu einem Freundschaftsspiel neben den auch bei einer Inzidenz über 35 zulässigen 5.000 Zuschauern weitere 5.000 geimpfte und genesene Zuschauer zuzulassen, zunächst untersagt, seine Untersagung aber nach der Ankündigung des hessischen Bundesligisten, dagegen verwaltungsgerichtlich vorzugehen, in eine Empfehlung "umgedeutet".

Der einfache Fall zeigt, dass die Unterscheidung zwischen Gefahr und Nicht-Gefahr für die Grundrechte und aus eben diesem Grund auch für das Gefahrenabwehrrecht konstitutiv ist. Denn die Grundrechte stellen nicht die Ausübung der Freiheit, sondern deren Beeinträchtigung unter Rechtfertigungszwang. Dennoch wird auch in der Rechtswissenschaft prominent vertreten, mit der Differenzierung zwischen Geimpften/Genesenen und Nicht-Geimpften werde ein "mittelbarer Impfzwang" ausgelöst, der sich derzeit nicht rechtfertigen lasse.

Es geht nicht um "Impfzwang", sondern Gefahrenabwehr

"Impfzwang" ist schon terminologisch fragwürdig, denn es wird niemand zu irgendetwas gezwungen. Es muss sich auch niemand rechtfertigen, denn die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, ist ebenso grundrechtlich geschützt wie diejenige für den Pieks. Richtig ist, dass Freiheitsangebote das Verhalten beeinflussen. Aber gibt es Rechtsnormen, die das Verhalten von Menschen nicht beeinflussen (sollen)? Im Ausgangsfall kann man ja noch nicht einmal von einer finalen Beeinflussung (neudeutsch: "nudging") sprechen, denn wenn der geimpfte Fan ins Stadion von darf und der Ungeimpfte nicht, so geht es nicht darum, Impfquoten zu steigern, sondern schlicht um Gefahrenabwehr.

Eine rechtlich angeordnete Pflicht zur Impfung (so definiere ich den Impfzwang) gibt es bislang nur bei Masern (§ 20 Abs. 8 S. 1 Nr. 3 IfSG). Sie ist zwar verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig, aber derzeit sicherlich kein probates Mittel, um Menschen vom Sinn einer Impfung zu überzeugen.

Auch grundrechtsdogmatisch ist die Debatte über die vermeintliche "mittelbare Impfpflicht" falsch aufgehängt. Der zur Begründung einer Grundrechtsbeeinträchtigung bemühte "moderne" Eingriffsbegriff ist nicht so modern, dass nun plötzlich jede Differenzierung, die die Rechtsordnung verfügt und der Rechtsanwender implementiert, ein Eingriff in ein Freiheitsrecht wäre. Dann bestünde die ganze Rechtsordnung aus Grundrechtseingriffen: Jede Norm differenziert nun einmal schon dadurch, dass sie ihren sachlichen und persönlichen Anwendungsbereich definiert und damit zugleich alles, was ihm nicht unterfällt, nicht regelt. Und die für die Gefahrenabwehr zuständige Verwaltung differenziert schon dadurch, dass sie stets im Einzelfall etwa das Vorliegen einer Gefahr prüfen muss.

Mutiert die Freiheitsprüfung subkutan zur Gleichheitsprüfung?

Auch die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der "mittelbaren Impfpflicht" hat einen merkwürdigen Bezugspunkt. Die fehlende Erforderlichkeit wird nämlich nicht etwa daraus abgeleitet, dass der ungeimpfte Fan nicht ins Stadion darf, sondern daraus, dass der Geimpfte das nun plötzlich darf. Die Freiheits- mutiert hier subkutan zur Gleichheitsprüfung: Solange niemand ins Stadion darf, soll der Eingriff in die Freiheitsrechte des Ungeimpften gerechtfertigt sein; seit der Geimpfte das aber darf, soll er unverhältnismäßig sein. Es geht also genau genommen nicht um die Freiheit des Ungeimpften, sondern um diejenige des Geimpften.

Dieses egalitaristische Verständnis von Freiheit ist verstörend. Soll es fortan auch in anderen Fällen gelten, in denen die Kapazitäten begrenzt sind? Keine Spenderorgane und keine Studienplätze für niemanden, bis genügend da sind? Sollen geimpfte Studierende zu Beginn ihres vierten Fachsemesters allen Ernstes weiter auf die erste Präsenzvorlesung ihres Lebens warten müssen, weil andere diese Veranstaltung aufgrund ihrer eigenen Entscheidung gegen das Impfen nicht besuchen können? Muss ein durch die Pandemie gebeutelter Veranstalter darauf warten, bis sich genügend Mitglieder der Herde zur Impfung bequemt haben? Zur Freiheit gehört auch, nicht abhängig sein zu müssen von freiheitlichen Entscheidungen anderer. Umgekehrt schützt sie sicherlich nicht das Recht, andere zu gefährden. Und zur Freiheit gehört schon denknotwendig auch, dass man mit den Konsequenzen seiner Entscheidungen ebenso leben darf wie muss.

Stadien auffüllen mit Geimpften und Genesenen?

Der Ausgangsfall ist zum Teil fiktiv. Denn die als "Bevorzugung Geimpfter" skandalisierten Freiheiten gibt es längst, weil es sie geben muss. Den Anstoß für rechtliche Regelungen gab ausgerechnet die erratische "Bundesnotbremse". Ein doppelt geimpftes Ehepaar durfte plötzlich ab einer Inzidenz von 100 abends nach 22 Uhr nicht mehr vor die Tür. Trotz dieses drastischen Freiheitseingriffs gegenüber Personen, die weder gefährlich noch gefährdet sind, meinte der Gesetzgeber, die Regelung von "Erleichterungen oder Ausnahmen" u.a. für Geimpfte einer in das Ermessen der Bundesregierung gestellten Rechtsverordnung überlassen zu können (§ 28c IfSG a.F.).

Nachdem dann aber Ende April 2021 hunderte von Verfassungsbeschwerden auch gegen diese Eingriffe in die Freiheitsrechte von Geimpften eingelegt worden waren, ging plötzlich alles ganz schnell. Am 8. Mai 2021 wurde die COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung erlassen, die Geimpfte und Genesene u.a. von Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen freistellt. Die Verordnung bleibt auch nach dem Außerkrafttreten von § 28c IfSG Maßstab für die in den Landes-Rechtsverordnungen verfügten Schutzmaßnahmen bestehen. Auf sie verweist beispielsweise § 6 Abs. 2 der 13. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (BayIfSMV).

Wie unterschiedlich es die Landesverordnungen regeln

Andere Bundesländer gehen sogar noch weiter. § 3 Abs. 3 S. 5 der nordrhein-westfälischen Coronaschutzverordnung (Corona-SchutzV) verfügt, dass immunisierte Personen vorbehaltlich anderslautender Regelung nicht eingerechnet werden, soweit in der Verordnung für Zusammenkünfte und Veranstaltungen eine Höchstzahl zulässiger Personen oder Hausstände festgesetzt ist. Dies gilt nicht für in dieser Verordnung festgesetzte einrichtungsbezogene Personengrenzen pro Quadratmeter oder Kapazitätsbegrenzungen (§ 3 Abs. 3 S. 6 Corona-SchutzV). Das hat Auswirkungen auf den Ausgangsfall. Nach § 14 Abs. 3 Nr. 3 Corona-SchutzV dürfen bei einer Überschreitung des Inzidenzwerts von 35 nur 1.000 Personen, aber höchstens bis zu einem Drittel der regulären Zuschauerkapazität ins Stadion. Da aber Geimpfte und Genesene nach § 3 Abs. 3 S. 5 Corona-SchutzV nicht mitgerechnet werden, dürfte ein NRW-Fußballverein das Stadion bis zu einem Drittel der für internationale Spiele maßgeblichen Kapazität mit geimpften und genesenen Zuschauern auffüllen, d. h. auf gut 22.000 Fans. Und Borussia Dortmund hat angekündigt, genau das auch zu tun. In Bayern ist das nicht möglich, weil die dort allein maßgebliche Ausnahmeverordnung des Bundes keine Regelungen für Veranstaltungen vorsieht.

Damit besteht jeweils eine frappierende Diskrepanz zwischen geltendem Landesrecht und öffentlichem Auftritt: Der bayerische Ministerpräsident betont zwar die verfassungsrechtliche Notwendigkeit, Eingriffe in die Freiheiten Geimpfter zu unterlassen, die die von ihm mitverantwortete Rechtsverordnung aber sehr weitgehend zulässt. Umgekehrt ermöglicht das nordrhein-westfälische Landesrecht eine sehr weitgehende Freistellung Geimpfter von den Schutzmaßnahmen, was aber den Ministerpräsidenten des Landes nicht daran hindert, die "Privilegierung Geimpfter" zu skandalisieren. Muss man das verstehen?

Der Autor Prof. Dr. Thorsten Kingreen ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht an der Universität Regensburg. Für kritische Diskussion des Textes dankt er Marje Mülder. Er vertritt die Bundestagesabgeordneten der FDP in einem Verfahren der Verfassungsbeschwerde gegen Bestimmungen der sog. "Bundesnotbremse".

Zitiervorschlag

Gefahrenabwehr statt 'Impfzwang'?: . In: Legal Tribune Online, 02.08.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45630 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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