Syrien muss sich wegen der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen erstmals vor dem IGH verantworten. Kanada und die Niederlande hatten das Verfahren angestoßen. Am Dienstag beginnen die Anhörungen.
Seit nunmehr zwölf Jahren tobt der Bürgerkrieg in Syrien. Mit willkürlichen Inhaftierungen, Folter, Verschwindenlassen und Misshandlungen will der syrische Machthaber Baschar al-Assad seine politischen Gegner und deren Familien einschüchtern und bestrafen. Die vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UN) eingesetzte unabhängige internationale Untersuchungskommission für die Arabische Republik Syrien berichtet von schwersten Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen das Humanitäre Völkerrecht.
Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte sind seit Beginn des Krieges über 600.000 Menschen ums Leben gekommen. Mehr als 130.000 Menschen gelten als vermisst. Um ihr Schicksal zu klären, hat die UN-Generalversammlung Ende Juni die Einrichtung der Unabhängigen Institution für Vermisste in der Arabischen Republik Syrien beschlossen.
Auch die Zustände in syrischen Militärgefängnissen sind dramatisch. Die Gefangenen würden systematisch gefoltert, berichtet ein Zeuge im Prozess gegen einen ehemaligen syrischen Militärarzt. "Wir wurden täglich gefoltert von mittags bis etwas zwei Uhr nachts", so der Zeuge. Im Januar 2022 begann der Prozess vor dem Oberlandesgericht Frankfurt. Der 38-jährige Arzt, der 2015 nach Deutschland kam und hier in einer Klinik praktizierte, ist wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. 2011 und 2012 soll er in 18 Fällen in Syrien Menschen gequält, brutal gefoltert und einen Inhaftierten getötet haben.
Ab Dienstag muss sich der syrische Staat für derartige Verbrechen erstmals auf internationaler Ebene verantworten. Das Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) angestoßen haben Kanada und die Niederlande. Ursprünglich sollten die Anhörungen schon im Juli stattfinden, der Termin wurde aber kurzfristig verschoben, nachdem Syrien um eine Verlegung gebeten hatte.
Folter, willkürliche Inhaftierungen und Misshandlungen
Bereits im Jahr 2020 hatten die Niederlande der Regierung in Damaskus mitgeteilt, sie betrachteten die Folter durch Vertreter des syrischen Staats als Verletzung des Völkerrechts – und kündigten Konsequenzen an. Ein halbes Jahr später zog Kanada nach und erklärte, es wolle Syrien unter dem Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Antifolterkonvention) für die Menschenrechtsverletzungen an seiner Bevölkerung seit dem Jahr 2011 zur Verantwortung ziehen. Danach entschlossen sich beide Staaten, gemeinsam gegen das Assad-Regime vorzugehen.
Anfang Juni 2023 haben sie sich dann mit einer Klage sowie einem Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen an den IGH gewendet. Sie wollen erreichen, dass Syrien die massive Gewalt und systematische Folter sofort unterbindet, willkürliche Inhaftierungen einstellt und alle willkürlich verhafteten Personen freilässt. Gegenstand der Anhörungen ist das Eilverfahren. Am Dienstag und Mittwoch werden in zwei Runden jeweils zunächst Kanada und die Niederlande und dann Syrien ihre Argumente vortragen.
Seit dem Jahr 2011 habe Syrien "zahllose Verstöße gegen das Völkerrecht begangen", die mit der gewaltsamen Unterdrückung von Demonstrationen der Zivilbevölkerung begannen und sich in einem langwierigen bewaffneten Konflikt fortsetzten, heißt es in der Klageschrift. Der Vorwurf: Folter, andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Misshandlungen, willkürliche Inhaftierungen, Verschwindenlassen und sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt und Gewalt gegen Kinder. Zudem seien chemische Waffen eingesetzt worden, was zum Tod von Zehntausenden von Menschen geführt habe. Kanada und die Niederlande rügen zahlreiche Verstöße gegen die UN-Antifolterkonvention, darunter gegen Artikel 2, 7, 10 bis 16 und 19.
Syrien hat die Antifolterkonvention unterzeichnet – deshalb steht der Weg zum IGH offen
Syrien hat sich nicht der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen,* ist aber Vertragspartei der Antifolterkonvention. Über diesen Umweg stand für Kanada und die Niederlande der Weg zum IGH offen. Die Antifolterkonvention sieht in Artikel 30 Nr. 1 einen zweistufigen Streitbeilegungsmechanismus vor: Demnach muss man zunächst versuchen, Streitigkeiten durch Verhandlungen oder ein Schiedsverfahren zu lösen. Wenn die Parteien sich innerhalb von sechs Monaten, nachdem das Schiedsverfahren verlangt worden ist, nicht einigen können, kann man den IGH anrufen – entsprechende Verhandlungen mit Syrien waren jedoch gescheitert.
Der IGH ist nach Art. 41 Nr. 1 des IGH-Statuts befugt, "sofern es seines Erachtens die Umstände erfordern", vorsorgliche Maßnahmen zu bezeichnen, "die zum Schutze der Rechte jeder Partei getroffen werden müssen". Im Eilverfahren geht es noch nicht darum, dass die Rechtsverletzung feststeht, sondern es reicht aus, dass die geltend gemachten Rechte zumindest "plausibel" sind und mit den beantragten einstweiligen Maßnahmen in Zusammenhang stehen.
Sollte der IGH den Anträgen Kanadas und der Niederlande entsprechen, könnte er Syrien auffordern, Staatsfolter und die weiteren abscheulichen Taten sofort zu unterbinden. In einem vergleichbaren Fall, den Gambia im Jahr 2020 gegen Myanmar angestrengt hatte, hatte der IGH Sofortmaßnahmen zum Schutz der Rohingya-Minderheit in Myanmar angeordnet. Myanmar müsse alles tun, um einen Völkermord an den noch im Land lebenden 600.000 muslimischen Rohingya zu verhindern.
Solche Entscheidungen sind zwar zwischen den Parteien bindend. Allerdings kann der Gerichtshof sie nicht selbst durchsetzen, wenn die unterlegene Partei sie nicht befolgt. Er kann allerdings den UN-Sicherheitsrat anrufen. Dort besitzt Russland jedoch ein Vetorecht – und blockiert Resolutionen zur Lage in Syrien regelmäßig.
Syrischer Anwalt wegen Staatsfolter verurteilt
Auch vorher gab es schon Bemühungen, syrische Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen. Anfang des Jahres 2022 hatte das Oberlandesgericht Koblenz den syrischen Anwalt Anwar R. im nach Angaben der Bundesanwaltschaft weltweit ersten Strafprozess um Staatsfolter in Syrien zu lebenslanger Haft verurteilt. Das sogenannte Weltrechtsprinzip erlaubt es, auch hierzulande mögliche Kriegsverbrechen von Ausländern in anderen Staaten zu verfolgen. R. war nach seiner Flucht nach Deutschland erkannt und 2019 in Berlin festgenommen worden.
Das Verfahren vor dem IGH ist in vielerlei Hinsicht besonders, erklärt Völkerrechtler Prof. Dr. Andreas Zimmermann von der Universität Potsdam. Wie im Fall Gambia gegen Myanmar sind Kanada und die Niederlande nicht unmittelbar selbst in ihren eigenen Rechten verletzt, sondern handeln zum Schutz der jeweiligen Bevölkerung. Sie machen geltend, Syrien habe sogenannte erga-omnes-Pflichten verletzt, also Pflichten, deren Verletzung alle Staaten geltend machen und nach Auffassung des IGH auch gerichtlich einklagen können. "Man kann hier eine gewisse Tendenz beobachten, dass Staaten immer wieder solche Verfahren anstrengen. Diese Werteaufladung des Völkerrechts, auch was die gerichtliche Rechtsdurchsetzung anbelangt, mag angesichts der gegenwärtigen geopolitischen Verhältnisse etwas aus der Zeit gefallen scheinen, ist aber sehr spannend", so Zimmermann.
Werden Staaten intervenieren?
Spannend wird auch die Frage sein, ob – so wie etwa derzeit im Verfahren der Ukraine gegen Russland vor dem IGH – andere Staaten Interventionserklärungen abgeben, um Stellungnahmen abgeben und an den mündlichen Verhandlungen teilnehmen zu können. "Es wäre ein deutliches Zeichen, wenn Drittstaaten auch im Verfahren gegen Syrien vor dem IGH intervenieren würden ", sagt Zimmermann.
Ob Syrien überhaupt vor dem IGH erscheint, ist ungewiss. Allerdings kann der IGH auch völkerrechtlich verbindliche Urteile fällen, wenn die beklagte Partei dem Verfahren fernbleibt. Im Eilverfahren ist mit einer schnellen Entscheidung zu rechnen. Ein Antrag auf Erlass vorläufiger Maßnahmen hat Vorrang vor allen anderen Fällen, heißt es in Art. 74 der IGH-Gerichtsordnung.
Mit Materialien der dpa
*Korrigiert am 17.10.2023, 10:15 (Red.).
Staatsfolter in Syrien erstmals vor dem IGH: . In: Legal Tribune Online, 09.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52871 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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