Am letzten Tag der Anhörungen vor dem IGH trat Deutschland dem Vorwurf der Beihilfe zum Völkermord entschieden entgegen. Nicaraguas Klage sei auf falsche Fakten gestützt. Liefert Deutschland in Wahrheit kaum Kriegswaffen an Israel?
In seiner Klageschrift beschreibt Nicaragua Deutschlands Rolle im Gaza-Krieg so: Es beliefere Israel, das gegen humanitäres Völkerrecht verstoße, mit Kriegswaffen, während es die Zahlungen an das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA ausgesetzt habe. Die Schlussfolgerung: Deutschland mache sich der Beihilfe zu einem vom Internationalen Gerichtshof (IGH) immerhin für plausibel gehaltenen Völkermord Israels an den Palästinensern in Gaza schuldig. Zudem verstoße Deutschland durch die Waffenexporte selbst gegen humanitäres Völkerrecht.
Nachdem Nicaragua diese Vorwürfe am Montag untermauern durfte, war am Dienstag Deutschland dran, sich dagegen zu verteidigen. Der zweite und zugleich letzte Teil der Anhörungen im Eilverfahren vor dem IGH, in dem Nicaragua den sofortigen Stopp der Exportgenehmigungen erreichen möchte.
Als erstes sprach Tania von Uslar-Gleichen, Abteilungsleiterin für Recht im Auswärtigen Amt. Sie wiederholte die von der Bundesregierung schon im Vorfeld kommunizierte Haltung, die von Nicaragua erhobenen Vorwürfe seien haltlos. Der Eilantrag habe daher "no basis in fact or law", sagte die Juristin in ihrem Eröffnungsvortrag – und wiederholte dies in ihrem Abschlussstatement. Dazwischen traten am Dienstag drei Rechtsprofessoren und ein britischer Anwalt dem nicaraguanischen Vortrag entgegen. Neben juristischen Detailfragen ging es entscheidend um die Fakten. Insofern scheint Nicaragua seine Klage nicht sorgfältig vorbereitet zu haben: Deutschland habe nach Oktober gar keine Waffen genehmigt, die für den Einsatz im Gaza-Krieg geeignet sind. Alles nur Testwaffen und Helme, so die Vertreter – die dazu neue Zahlen präsentierten.
Rechtsstreit "zwischen Stellvertretern" wird "unerträgliche Situation" nicht beenden
Worauf es rechtlich ankommt, hatten verschiedene Medien – darunter auch LTO – bereits im Vorfeld berichtet. Das zentrale Rechtsproblem im derzeitigen Verfahrensstand ist, dass ohne Israel über Israel verhandelt wird: Es geht um Israels Kriegsführung, ohne dass Israel Verfahrensbeteiligter ist und ohne dass ein israelischer Völkermord an den Palästinensern bereits festgestellt wurde. Das klärt der IGH gerade in einem separaten Verfahren, das Südafrika bereits im Dezember angestrengt hatte. "Die Teilnahme am Völkermord erfordert die Haupttat und diese muss erstmal festgestellt werden", sagte der am Verfahren nicht beteiligte Völkerrechtler Prof. Stefan Talmon im Vorfeld gegenüber LTO. Israel könnte daher in dem Verfahren Nicaragua vs. Deutschland eine "unverzichtbare dritte Partei" sein, Nicaraguas Klage wäre dann als unzulässig oder – je nach Standpunkt – als unbegründet abzuweisen.
Diese so genannte Monetary-Gold-Doktrin gilt im Hauptsacheverfahren bzgl. des Vorwurfs der Beihilfe zum Völkermord. Uneinig sind sich die Beteiligten jedoch über die Reichweite der Doktrin – erstens im Eilverfahren und zweitens bezüglich Verletzungen des humanitären Völkerrechts.
Dazu sprach für Deutschland am Dienstag ausführlich der IGH-erfahrene britische Anwalt Samuel Wordsworth. Er betonte, Nicaraguas Argumentation sei "in vollem Umfang abhängig" davon, dass der IGH zuvor einen israelischen Völkerrechtsverstoß feststelle. Das betreffe nicht nur die Beihilfe an einem vermeintlichen Völkermord, sondern auch die Anschuldigung, Deutschland verletze eigene Verpflichtungen aus Art. I Völkermordkonvention sowie den Genfer Konventionen von 1949. Art. I Völkermordkonvention verpflichtet Staaten dazu, einen Genozid anderer Staaten zu verhindern. Der gemeinsame Art. 1 der Genfer Konventionen statuiert die Pflicht der Staaten, die Einhaltung des humanitären Völkerrechts auch durch andere Staaten durchzusetzen.
Die Vorwürfe Nicaraguas beruhen laut Wordsworth auf der Idee, dass Deutschland die Völkerrechtsverletzungen Israels zulässt bzw. unterstützt. Aus diesem Grund könne der IGH seine Zuständigkeit für dieses Verfahren schon gar nicht annehmen. Als "strategische Prozessführung zwischen Stellvertretern" bezeichnete daher Anne Peters Nicaraguas Versuch, Deutschlands Waffenlieferungen und UNRWA-Zahlungen auf dem Rechtsweg zu beeinflussen. Das Verfahren sei nicht dazu geeignet, die "unerträgliche Situation in Gaza" und das Massensterben von Zivilisten zu beenden.
Israel ist "unverzichtbare dritte Partei" – auch im Eilverfahren?
Wordsworth hält Israel auch im Eilverfahren für eine unverzichtbare Partei. Dort prüft der IGH seine Zuständigkeit aber nur "nach erstem Anschein" (prima facie). Völkerrechtsprofessor Matthias Goldmann überzeugt die deutsche Argumentation daher nicht. Im Eilverfahren werde die Monetary-Gold-Regeln nicht geprüft, kommentierte Goldmann auf X. Ein Verstoß gegen die Pflicht eines Staates, einen durch einen anderen Staat verübten Völkermord zu verhindern, müsse nicht rechtsverbindlich festgestellt sein. "Ansonsten würde die Präventionspflicht jegliche praktische Bedeutung verlieren."
Diese Auffassung hatten am Montag auch Nicaraguas IGH-Anwälte vertreten. Israels Rolle als möglicherweise "unverzichtbare dritte Partei" spiele erst im Hauptverfahren eine Rolle.
Wie der IGH insofern entscheiden wird, ist völlig offen. Einen Fall wie diesen hat das Gericht in Den Haag noch nie entschieden. "Insofern kann Deutschland hier Rechtsgeschichte schreiben", sagte Talmon gegenüber LTO. Er hält es für möglich, dass der IGH diese Rechtsfrage schon früh im Verfahren klären wolle. Ebenso wie Kai Ambos, Professor für Straf- und Völkerrecht in Göttingen: "Wenn der IGH diesen strategischen Klagen einen Riegel vorschieben will, könnte der IGH das Verfahren bis zur Entscheidung im Verfahren zwischen Südafrika und Israel aussetzen", so Ambos im Vorfeld der Anhörungen gegenüber LTO.
Ein weiterer juristischer Streitpunkt besteht darin, ob überhaupt eine Streitigkeit zwischen Nicaragua und Deutschland besteht, über die der IGH entscheiden kann. Der Inhalt dieses dispute-Erfordernisses ist unter Völkerrechtlern umstritten. Laut Goldmann sollte die Verbalnote, die das nicaraguanische Regime ans Auswärtige Amt gesendet hat, dafür ausreichen. Die Bundesregierung sieht das jedoch anders. Nicaragua habe Deutschland nicht die Möglichkeit gegeben, auf die in der Verbalnote erhobenen Vorwürfe und Aufforderungen zu reagieren. Nur siebzehn Tage nach Erhalt der Verbalnote habe Nicaragua "ohne vorherige Warnung" die Klageschrift in Den Haag eingereicht.
Damit habe Managua auch eine eigene Chance vertan – die wahre Faktenlage zu klären. Nicaraguas Klage beruhe nämlich auf zahlreichen unzutreffenden Annahmen und einer verzerrten Darstellung, so die deutsche Verteidigung am Dienstag deutlich.
Rüstungsgüter sind nicht gleich Kriegswaffen
Schon Baerbock-Vertreterin Uslar-Gleichen stellte am Dienstagmorgen früh klar: Deutschland will seine Anhörung nutzen, um "den Sachverhalt richtigzustellen". Dafür zuständig: Christian Tams, Professor für Völkerrecht in Lüneburg. Er hatte einige Grafiken mitgebracht, die die Forderungen nach einem Stopp der Waffenlieferungen in einem anderen Licht erscheinen lassen.
326 Millionen Euro – auf diese Zahl stützt Managua seine Klage im Wesentlichen. Sie beschreibt den Umfang von Rüstungsexporten von Deutschland an Israel im Jahr 2023, der Wert ist zehnmal so hoch wie der in 2022.
Bekannt war schon vor dem Verfahren, dass diese Zahlen sich auf Rüstungsexporte allgemein beziehen und der wertmäßige Umfang der genehmigten Kriegswaffen wie Panzerabwehrwaffen und Munition um ein Vielfaches geringer ist: nur – aber immerhin – 20 Millionen Euro in 2023. Nicaragua habe sich zu dieser Unterscheidung kaum geäußert, kritisierte Tams.
Für Nicaraguas Vorwürfe ist aber nur die Zeit nach dem 7. Oktober 2023 relevant. Dafür stellte Tams einige bislang nicht bekannte Zahlen vor: Nur zwei Prozent der Exportgenehmigungen im Zeitraum Oktober bis April beziehen sich demnach auf Kriegswaffen, 98 Prozent auf sonstiges militärisches Equipment, etwa Helme, Schutzkleidung, Kommunikationsmaterial.
Nur viermal überhaupt habe Deutschland seit Oktober die Ausfuhr von Kriegswaffen nach Israel lizensiert. Dabei habe es sich zunächst um 3.000 Antipanzerwaffen gehandelt, die Deutschland Israel kurz nach dem Hamas-Massaker geliefert hatte. Die übrigen Genehmigungen hätten sich auf 1.500 Stück Munition und Treibstoff bezogen. Die Munition habe aber lediglich Trainingszwecken gedient, für den Einsatz im Krieg sei sie untauglich. Auch der Treibstoff habe nur Testzwecken gedient; was Israel nicht benötigt habe, sollte zurückgeliefert werden. Schließlich sei eine Lizenz für die Lieferung eines U-Bootes erteilt worden, hier fehle es aber an der zweiten erforderlichen Genehmigung. Bis auf die 3.000 zu Beginn gelieferten Panzerabwehrwaffen seien die Waffen(teile) also nicht für den Einsatz in Gaza geeignet oder bestimmt.
Reicht eine mittelbare Unterstützung des Kriegsgeschehens?
Tams wies außerdem auf den zeitlichen Verlauf der Waffenlieferungen hin. 80 Prozent der seit Oktober genehmigten Exporte von Rüstungsgütern fielen auf den Monat Oktober. Danach sei das Volumen der Exportgenehmigungen von 203 Millionen Euro von 23,6 Millionen Euro (November) auf schließlich eine Million Euro (Februar) gesunken.
Diese Entwicklung könnte maßgeblich sein für die juristische Frage, ob Deutschland etwaigen Völkerrechtsverstöße Israels wissentlich unterstützte oder ob es sein Verhalten den sich mehrenden Berichten über mögliche Kriegsverbrechen angepasst hat. Insofern nahm Rechtsprofessorin Peters auch die Art der nach Oktober gelieferten Rüstungsgüter in den Blick: Die einzigen Rüstungsgüter, die für den Einsatz im Krieg taugten, seien Helme und Sanitär-Equipment. Dass diese für Völkerrechtsverletzungen benutzt würden, sei nicht vorstellbar. Insofern sei der Vorwurf Nicaraguas, Deutschland beteilige sich wissentlich an fremden Völkerrechtsbrüchen, nicht plausibel.
Demnach soll es also nur darauf ankommen, ob das konkret gelieferte Material sich für die Begehung von Völkerrechtsverletzungen eignet. Zwingend ist diese Rechtsauffassung nicht, denn auch die Lieferung von Helmen unterstützt die Armee als solche. Rechtsprofessor Goldmann äußerte Zweifel an Peters' Position. Er fragte am Dienstag auf X, ob nicht auch eine mittelbare Unterstützung des Kriegsgeschehens durch die Lieferung von Rüstungsgütern, die keine Waffen sind, genügen kann. Alles unter der Voraussetzung, dass die Gefahr besteht, dass im Krieg "etliche" Verletzungen des humanitären Völkerrechts "vorgekommen sein könnten". Darüber müsste der IGH entscheiden, wenn er seine Zuständigkeit prima facie bejaht.
"Wenn man genau hinsieht, brechen Nicaraguas Anschuldigungen in sich zusammen"
Tams verwies in diesem Kontext auf die strengen Regeln, denen die Genehmigung von Kriegswaffenexporten unterliegt. Zwei Ministerien entscheiden von Fall zu Fall darüber, ob die Lieferung der jeweiligen Waffen dafür genutzt werden könnten, Völkerrechtsbrüche zu begehen. Mindestens zwei Bundesministerien seien beteiligt – das Wirtschaftsministerium sowie das Auswärtige Amt –, je nach Fall auch weitere Häuser. Peters und der italienische Völkerrechtsprofessor Paolo Palchetti (Sorbonne) wiesen auch noch auf die Rechtsgrundlagen hin, die hier sorgfältig geprüft würden, u.a. das Kriegswaffenkontrollgesetz, den völkerrechtlichen Vertrag über den Waffenhandel und den Gemeinsamen EU-Standpunkt zu Waffenexporten (2008/944/GASP).
Was den Vorwurf mangelnder humanitärer Unterstützung der Palästinenser angeht, verwies Tams darauf, dass Deutschland der wichtigste Geldgeber für Palästina sei. Nach der Entscheidung vom 27. Januar, weitere Gelder an UNRWA vorerst auszusetzen, habe die Bundesregierung Palästina mittelbar unterstützt – über andere Organisationen wie das Welternährungsprogramm, das Internationale Rote Kreuz und UNICEF. Insbesondere sei Deutschland an den Hilfslieferungen aus der Luft beteiligt gewesen. "Wenn man genau hinsieht, brechen Nicaraguas Anschuldigungen in sich zusammen", resümierte Tams.
Ob die Richter in Den Haag das genauso sehen? Basierend auf den am Dienstag präsentierten Tatsachen erscheint das nicht unwahrscheinlich. Womöglich wird das Verfahren wegen der Monetary-Gold-Regel aber auch ausgesetzt. Eine vollständige Klageabgeweisung in der Hauptsache wäre ebenfalls denkbar. Eine Entscheidung wird innerhalb der nächsten zwei Wochen erwartet.
Deutschland verteidigt sich gegen Nicaragua: . In: Legal Tribune Online, 09.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54293 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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