Während § 188 StGB vor zwei Jahren beinahe der Böhmermann-Affäre zum Opfer fiel, soll die Vorschrift jetzt Hetze gegen Kommunalpolitiker eindämmen. Nachvollziehbar und doch zu kurz gedacht, meint Alexander Heinze.
Was haben die Ehrverletzungsdelikte im Strafgesetzbuch und Trainer des F.C. Bayern München gemeinsam? Beide werden ganzheitlich hinterfragt, sobald auch nur kurzfristig der Erfolg ausbleibt. Und für beide waren die Jahre 2016/2017 daher auch keine guten: Carlo Ancelotti wurde bei den Bayern entlassen und die Ehrverletzungsdelikte erlebten im Zuge der Böhmermann-Affäre ihren vorläufigen Popularitätstiefpunkt.
Genauer gesagt war es der erhöhte Ehrschutz, dem weitestgehend die Existenzberechtigung abgesprochen wurde. In erster Linie ging es um den erhöhten Ehrschutz ausländischer Staatsoberhäupter, der § 103 Strafgesetzbuch (StGB) ist inzwischen abgeschafft. Die Welle der Empörung erreichte aber auch Ehrdelikte, die deutsche Politiker gesondert schützen: Auf ihrem Bundesparteitag 2016 formulierte zum Beispiel die FDP in ihrem Beschluss: "Gleiches [wie zu § 103 StGB, Anm. A.H.] gilt auch für den § 90 des Strafgesetzbuches, der sich auf die Verunglimpfung des Bundespräsidenten bezieht. Durch den regulären Beleidigungs-Straftatbestand nach § 185 des Strafgesetzbuches ist bereits ein ausreichender Rechtsschutz gegeben, der auch Staatsoberhäuptern den ordentlichen Rechtsweg eröffnet, wenn sie sich unrechtmäßig angegriffen fühlen. Es ist jedoch nicht einzusehen, wieso diese unter einen höheren Schutz gestellt werden sollten als jeder andere".
Die Fraktion DIE LINKE sah überhaupt keinen Grund, die Ehre bestimmter Personen in besonderer Weise durch Sondertatbestände zu schützen, also weder durch § 103 StGB (alte Fassung), noch durch die §§ 90 oder 188 StGB. Zu Recht wurde die Meinungsfreiheit bei der Kritik von Regierungshandlungen, ob im Aus- oder Inland, betont. Oder um es mit den Worten der Vertreter der Länder Hamburg, Bremen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Thüringen in deren Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung von § 103 StGB zu sagen: "Insofern ist aber zu berücksichtigen, dass das Recht, Maßnahmen von staatlichen Einrichtungen ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch scharf zu kritisieren, zum Kernbereich der Meinungsfreiheit gehört."
Besonderer strafrechtlicher Ehrschutz ist wieder populär
Einen Popularitätsschub erfuhren die Ehrverletzungsdelikte im selben (!) Jahr. Noch 2017 sprachen sich die Justizminister im Rahmen ihrer Frühjahrskonferenz dafür aus, die Ehrverletzungsdelikte mit Blick auf die Besonderheiten einer Tatbegehung im Internet auf einen Anpassungsbedarf zu überprüfen. Ende Oktober dieses Jahres beschloss die Bundesregierung ein Maßnahmenpaket "Gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität". Auch hier wurde u.a. die Anpassung der Ehrverletzungsdelikte an Hetze im Internet angemahnt. Von dem "Kernbereich der Meinungsfreiheit" ist hier keine Rede mehr. Im gleichen Monat wurde übrigens der über jeder Kritik stehende Jupp Heynckes Trainer bei Bayern München.
Im Maßnahmenpaket 2019 wird nun vor allem § 188 StGB in den Blick genommen, der "Üble Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens" unter Strafe stellt. Im Maßnahmenpaket heißt es: "Auf kommunaler Ebene politisch engagierte Personen unterfallen bisher - anders als bspw. Bundes- und Landespolitikerinnen und -politiker - nicht dem besonderen Schutz des § 188 StGB. Dieser Zustand wird der Bedeutung des kommunalpolitischen (Ehren) Amtes nicht gerecht. Wir werden den Tatbestand des § 188 StGB daher so anpassen, dass er auch Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker erfasst." Das Land Rheinland-Pfalz hat im Hinblick auf die vorgeschlagene Änderung von § 188 StGB nun Taten folgen lassen und einen entsprechenden Gesetzesantrag in den Bundesrat eingebracht.
Der Gesetzesentwurf nimmt in seinem Eingangsabschnitt ausdrücklich Bezug auf den getöteten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und – genereller – "Bedrohungen und Beleidigungen" gegen Kommunalpolitiker im Internet. Im § 188 StGB soll daher das Tatbestandsmerkmal "im politischen Leben des Volkes stehende Person" durch eine Legaldefinition konkretisiert werden. Während zur Konkretisierung selbst auf die Bemerkungen von Professor Michael Kubiciel verwiesen werden kann, fallen drei Aspekte dieses Antrags ganz besonders auf:
Trifft eine Neufassung von § 188 StGB die Falschen?
Erstens: § 188 StGB stellt keine Beleidigungen im Sinne des § 185 StGB unter Strafe. Es geht um üble Nachreden oder Verleumdungen im Sinne von §§ 186, 187 StGB. Bei diesen wird in einem Kommunikationszusammenhang mit Dritten dem Opfer eine ehrenrührige Tatsache zugeschrieben. Im Gegensatz zu § 185 StGB, bei dem der Täter eigene Missachtung ausdrückt, schürt der Täter/die Täterin bei § 186 StGB fremde Missachtung. Es wird die Schaffung der Möglichkeit einer Missachtung des Achtungsanspruchs des Betroffenen unter Strafe gestellt; ehrverletzende Tatsachenbehauptungen gegenüber Dritten – unabhängig davon, ob sie tatsächlich unwahr sind – bilden also die Grundlage für die eigene Missachtung des Opfers. Es steht also zu bezweifeln, dass der möglicherweise neugefasste § 188 StGB diejenigen Fälle an Hetze, Shitstorms und Beschimpfungen erfasst, um die es in der Debatte zu gehen scheint. Kurz gesagt: § 188 StGB ist kein Straftatbestand gegen Hetze, sondern gegen Fake News.
Das führt dazu, dass die Ausweitung des geschützten Personenkreises letztlich auch eine Ausweitung seiner Gefahren bedeutet, die sich ohnehin schon jetzt aus dem Tatbestand der üblen Nachrede ergeben: Man stelle sich vor, ein Lokaljournalist behauptet eine Tatsache über einen Kommunalpolitiker (Kommunalpolitiker X habe eine Frau sexuell belästigt), die im Zeitpunkt der Äußerung erweislich wahr ist, was sich jedoch in dem späteren Verfahren ändert, weil die zunächst vorhandenen eindeutigen Beweismittel nicht mehr zur Verfügung stehen. Dies würde zu einer Verurteilung nach § 188 StGB (neue Fassung) führen, wenn nicht ein Fall des § 193 StGB (Wahrnehmung berechtigter Interessen) vorliegt.
Soziale Medien als Brandbeschleuniger
Zweitens: Die sozialen Medien wirken für unwahre Tatsachenbehauptungen über Politiker wie ein Brandbeschleuniger. Vor allem der Lokaljournalismus sieht sich einer tiefgreifenden Veränderung unterzogen – längst kann sich jedermann als Journalist gerieren, mit dem Smartphone Geschehnisse dokumentieren und diese sogleich mit eigens versehenen Kommentaren auf einer öffentlich zugänglichen Website hochladen. Vieles von dem, was in der öffentlichen Debatte unter dem Begriff "Hate-Speech" diskutiert wird, fällt unter den Tatbestand des § 186 StGB – und würde in Zukunft dann auch unter § 188 StGB fallen.
Die Frage ist jedoch, ob es tatsächlich der richtige Weg ist, aufgrund der Brandbeschleunigung (soziale Medien) gleich den Umgang mit entflammbaren Gegenständen (Meinung, Behauptungen, Kritik usw.) stärker zu pönalisieren. Zum einen steht hier die Effektivität in Zweifel. Und längst ist klar, dass nicht immer Menschen hinter den Hasskommentaren stecken, sondern auch sogenannte Bots sein können.
Flickenteppich Ehrverletzungsdelikte
Zum anderen ist ein einheitliches gesetzgeberisches Vorgehen hier kaum noch zu erkennen. Ich war 2017 für die Debatte im Rechtsausschuss um die Abschaffung von § 103 StGB als Sachverständiger geladen und konnte mit ansehen, wie der Abwärtsstrudel von § 103 StGB beinahe auch § 188 StGB erfasste. Um es klarzustellen: Eine Abschaffung aller Delikte, die die Beleidigung/Verleumdung staatlicher Repräsentanten und Politiker gesondert unter Strafe stellen, hätte wenigstens einen roten Faden des Gesetzgebers erkennen lassen. Frankreich entschloss sich 2003 zu einem solchen Schritt.
Innerhalb kürzester Zeit jedoch auf dem Boden derselben Delikte zwei völlig unterschiedliche kriminalpolitische Motive durchblicken zu lassen, zeugt jedoch nicht gerade von gesetzgeberischer Weitsicht. Zumal die berechtigte Kritik an § 188 StGB, die in der Debatte 2017 laut wurde, auch nach einer Neufassung des § 188 StGB gelten wird: Aufgrund der extensiven Interpretation der Meinungsfreiheit durch das Bundesverfassungsgericht hat die Vorschrift eine nur geringe Bedeutung. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Gesetzesdebatten reflexartig von medienwirksamen Beispielen losgetreten werden, und ich habe die Frage des Sachverständigen Professor Wolfgang Mitsch in der Debatte um die Abschaffung von § 103 StGB noch im Ohr, was denn passiert wäre, wenn eine rechtsradikale Person die Englische Queen in übelster Weise verunglimpft hätte.
Strafgesetzgebung als Reflex – Zivilrechtsschutz als Lösung?
Das bedeutet nicht, dass der Hetze im Netz tatenlos zugesehen werden sollte. Im Gegenteil. Selbst auf Seiten der Plattformbetreiber setzt sich inzwischen die Einsicht durch, dass der Staat regulierend eingreifen muss, zuletzt stellvertretend Bradley Smith, Chefjurist von Microsoft, in seinem Buch Tools and Weapons. Dass die Strafgesetzgebung zunehmend instrumentalisiert und die ultima-ratio-Funktion des Strafrechts ignoriert wird, ist jedoch kein Geheimnis mehr.
Die Rolle des Zivilrechts bei der Ahndung von Ehrverletzungen wird in der öffentlichen Debatte kaum noch wahrgenommen. Nicht zuletzt die Berichterstattung über die Entscheidung des Landgerichts Berlin zur Verunglimpfung von Renate Künast lässt dies vermuten: Hier ging es nicht um einen strafrechtlichen Fall, sondern die Politikerin hatte erreichen wollen, dass Facebook die personenbezogenen Daten von 22 Nutzern herausgeben darf, um zivilrechtlich gegen diese vorzugehen. Gerade das Zivilrecht spielt bei Ehrverletzungen eine wichtige Rolle. Obwohl wir keine sogenannten punitive damages wie in den USA kennen, hat der Bundesgerichtshof bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen das Schmerzensgeld als Mittel zur Genugtuung entdeckt.
Dennoch werden zivil-, straf- und öffentlich-rechtliche Instrumentarien zur "Krisenbewältigung" zunehmend als austauschbar angesehen mit der Folge, dass die Wahl schlicht auf das medienwirksamste Instrumentarium fällt. Und das ist meist das Strafrecht. Gerade bei Ehrverletzungen über die Medien entbehrt diese Entwicklung nicht einer gewissen Ironie, war der Reiz einer "Bestrafung" über das Zivilrecht doch darauf zurückzuführen, dass strafrechtliche Novellen zum Schutz vor Medienmissbrauch in der Vergangenheit am Widerstand der Medien und öffentlichen Meinung scheiterten.
Warnungen von Experten und Sachverständigen aus der Wissenschaft werden in Gesetzgebungsprozessen zwar gehört, im Ergebnis aber oft ignoriert. Natürlich ist es dem Gesetzgeber unbenommen, auf gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren. Und der Ruf nach frischer Gesetzgebung ist letztlich auch das Resultat offen formulierter Strafnormen. Doch handelt es sich, erstens, bei vielen gesetzgeberischen Debatten um Scheingefechte, die fehlende Ressourcen bei der Strafverfolgung kaschieren sollen; wird, zweitens, die Rolle der Gerichte in diesen Debatten unterschätzt; und sind, drittens, systemwidrige Gesetzgebungsschritte zwar kaum vermeidbar, doch beherrschbar: indem der reflexartige Ruf nach frischer Strafgesetzgebung nicht auf einen Monolog der Rufenden reduziert wird, sondern zu einem Dialog mit dem Gesetzgeber wächst.
Der Autor Dr. Alexander Heinze LL.M ist Akademischer Rat a.Z. am Institut für Kriminalwissenschaften in der Abteilung für ausländisches und internationales Strafrecht an der Universität Göttingen.
Zielen "Hate-speech"-Änderungen zu § 188 StGB ins Leere?: . In: Legal Tribune Online, 12.12.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39199 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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