2/2: Auch Richter können rechnen
Die Sozialgerichte haben bisher überwiegend die neue Regelbedarfsbemessung gestützt. Nach Ansicht mehrerer Senate des Bundessozialgerichts werden die Leistungen nach den neuen Regelungen nicht in verfassungswidriger Weise zu niedrig festgesetzt (BSG, Urt. v. 12. Juli 2012, B 14 AS 153/11; Urt. vom 28. März 2013, B 4 AS 12/12 R). Die Leistungen seien nicht "evident unzureichend", vielmehr auf Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu rechtfertigen. Der Gesetzgeber habe sich innerhalb des ihm zustehenden Gestaltungsspielraums bewegt.
Nur das Sozialgericht (SG) Berlin hat in einem sehr umfangreichen Beschluss vom 24. April 2012 (S 55 AS 9238/12) dem BVerfG die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob nicht die Regelsatzbemessung zusammenlebender Erwachsener und die von Jugendlichen in der Gruppe von 15 bis 18 Jahren die Verfassung verletze. Die Verbrauchsstichprobe sei fehlerhaft. Deshalb seien die Bedarfe falsch bestimmt worden. Außerdem sei der Abzug für einzelne Posten ungerechtfertigt.
Drei bis vier Millionen Menschen in verdeckter Armut
Ob das BVerfG dem folgen wird, erscheint jedoch fraglich. Der vergangenen Mittwoch vom Kabinett beschlossene Bericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales über die Weiterentwicklung der für die Ermittlung von Regelbedarfen anzuwendenden Methodik weist jedenfalls in die gegenteilige Richtung: Die Methodik zur Ermittlung der Regelbedarfe und damit auch ihre geltende Höhe seien "angemessen und sachgerecht".
Eine andere Frage ist freilich, ob eine korrekte Berechnungsmethode auch zu befriedigenden Ergebnissen führt. So geht etwa eine im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales erstellte Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) davon aus, dass in Deutschland 3,1 bis 4,9 Millionen Menschen in verdeckter Armut leben. Diese Personen nehmen derzeit also keine Grundsicherungs-Leistungen in Anspruch, obwohl sie bezugsberechtigt wären.
Kein Zählwerk für Menschenwürde
Die unterschiedlichen Sichtweisen von Juristen und Statistikern belegen: Menschenwürde ist schwer zu zählen. Es wäre rechtsstaatlich nicht möglich, die Festlegung eines Existenzminus allein den Statistikern zu überlassen. Sie liefern allerdings das nötige Datenmaterial, um die richtige Entscheidung zu finden.
Auch kann kein Gericht dem Gesetzgeber vorschreiben, von den untersten 15 Prozent der Befragten Haushalte auszugehen, obgleich diese normative Orientierung an einer noch ärmeren Bevölkerungsgruppe das zur Existenz Notwendige weiter herabschraubt. Verfassungsrechtlich problematischer erscheinen da schon die manchmal schwer nachzuvollziehenden Streichungen, vor allem betreffend den Konsum von Gütern in sozialer Gemeinschaft.
Ohne die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ist zudem bei widrigen wirtschaftlichen Verhältnissen im flexibilisierten kapitalistischen System die Rutschbahn zur Armut kaum zu stoppen. Denn es gilt zu Recht weiter das sogenannte Lohnabstandsgebot. Die existenzsichernden Sozialleistungen dürfen nur eine dem zu niedrigen Löhnen arbeitenden Menschen vergleichbare "einfache Lebensweise" ermöglichen, § 28 Abs. 4 SGB XII.
Eine "anständige Armenfürsorge" ist, wie es der Rechtsphilosoph Avishai Margalit (Politik der Würde, 2012) formuliert, der "Prüfstein für eine menschliche Zivilisation". Man muss aus Gerechtigkeitsgründen ergänzen: wie auch ein "anständiger Lohn". Denn jedem muss in menschlicher Gesellschaft ein würdiger Lebensstil offenstehen, in dem er respektiert wird, und den er lebenswert finden kann.
Franz Dillmann, Debatte zu Hartz-IV-Regelsätzen: . In: Legal Tribune Online, 05.07.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9084 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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