Nach einem Beschluss des OLG Hamburg darf der Spiegel-Artikel über Julian Reichelt "Vögeln, fördern, feuern" wieder online gehen. Ein wichtiger Etappensieg für das Nachrichtenmagazin. Doch der Rechtsstreit könnte noch lange weitergehen.
Die Gerichtsfehde zwischen dem ehemaligen Chefredakteur der BILD-Zeitung Julian Reichelt und dem Spiegel läuft seit März 2021. Das Nachrichtenmagazin berichtete in dem Artikel "Vögeln, fördern, feuern" über den Verdacht, Reichelt habe Machtmissbrauch gegenüber Frauen betrieben und Abhängigkeitsverhältnissen ausgenutzt.
Reichelt ging gegen den Artikel vor und beantragte eine Unterlassungsverfügung mit der Begründung, der Spiegel habe die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung verletzt. Nach diesen Grundsätzen müssen Medien bei ehrabträglichen Verdächtigungen vor allem vier Voraussetzungen erfüllen: Es muss einen Mindestbestand an Beweistatsachen für den Verdacht geben, sie müssen sich um eine Stellungnahme des Betroffenen bemühen, sie müssen vorurteilsfrei berichten und es muss ein überwiegendes öffentliches Interesse an einer identifizierenden Berichterstattung bestehen.
Reichelt hatte mit seinem Antrag Erfolg. Das Landgericht (LG) Hamburg verbot den Bericht, da der Spiegel Reichelt nicht persönlich zur Stellungnahme aufgefordert habe (Beschl. v. 17.05.2021, Az. 324 O 162/21). So habe der Verlag zwar bei der Pressestelle des Axel-Springer-Verlages um Stellungnahme gebeten. Doch es sei "prozessual davon auszugehen", dass diese nicht an Reichelt weitergeleitet worden sei. Wegen des Compliance-Verfahrens, dass der Axel-Springer-Verlag seinerzeit gegen Reichelt führe, sei eine solche Weiterleitung auch nicht selbstverständlich gewesen.
LG: Auch Bericht mit Stellungnahme Reichelt ist verboten
Der Spiegel reagierte auf die einstweilige Verfügung jedoch nicht durch Löschen des Artikels, sondern ergänzte die Berichterstattung um eine Stellungnahme von Reichelt, in dem dieser die Vorwürfe abstritt. Das Magazin meinte, somit nicht mehr gegen die einstweilige Verfügung zu verstoßen. Denn schließlich hatte das LG Hamburg die Rechtswidrigkeit gerade mit der fehlenden Stellungnahme begründet. Reichelt beantragte daraufhin ein Ordnungsgeld gegen das Nachrichtenmagazin mit der Begründung, dass auch die veränderte Berichterstattung gegen die Unterlassungsverfügung verstoße. Das LG Hamburg sah dies ebenso und verhängte gegen den Spiegel ein Ordnungsgeld in Höhe von 2.000 Euro (Beschl. v. 15.11.2021, 324 O 162/21). Daraufhin nahm der Spiegel den Artikel offline.
Zur Begründung führte das LG aus, der Artikel sei nicht nur wegen der unterbliebenen Konfrontation verboten worden. Entsprechend enthalte auch der Verbotstenor im Beschluss keine Beschränkung. Der um die Stellungnahme ergänzte Artikel sei weiter vom Verbot erfasst. Es gelte die Kerntheorie, wonach nicht nur die identische Berichterstattung verboten ist, sondern auch solche Abwandlungen, in denen der Charakter der Rechtsverletzung weiter zum Ausdruck kommt. Dies sei vorliegend der Fall. Denn im Artikel werde weiter unverändert über den gleichen Sachverhalt berichtet, nämlich den Vorwurf des Fehlverhaltens und des Machtmissbrauchs gegenüber Frauen.
OLG: Stellungnahme verändert den Charakter des Berichts
Auf eine Beschwerde des Nachrichtenmagazins hob nun aber das Hanseatischen Oberlandesgericht (OLG) den Ordnungsgeldbeschluss auf (Beschl. v. 13.01.2022, 7 W 148/21). Die Entscheidung liegt LTO vor. Im Gegensatz zum LG geht das OLG davon aus, dass eine Stellungnahme den Charakter eines Berichts wesentlich verändert. Sie sei für die Berichterstattung ein "maßgeblich charakterisierender Gesichtspunkt". Durch das Einfügen der Stellungnahme entstehe im Kern ein neuer Bericht. Die einstweilige Verfügung des Landgerichts beziehe sich aber nur auf den ursprünglichen Bericht ohne Stellungnahme und nicht auf den neu entstandenen. Daher habe der Spiegel nicht gegen die einstweilige Verfügung verstoßen, als er den Bericht mit der Stellungnahme neu veröffentlichte.
Einfach gesprochen: Wenn ein Bericht vorher keine Stellungnahme hatte, dann aber eine Stellungnahme ergänzt wird, liegt quasi ein neuer Bericht vor, der gerichtlich neu zu beurteilen ist.
Das OLG begründet seine Sichtweise des Charakterwechsels eines Berichts durch Einfügung einer Stellungnahme explizit mit der Pressefreiheit. Anderenfalls bestünde die Gefahr, "dass die Presse gehindert wäre, nach einem entsprechenden Verbot erneut über den Verdacht zu berichten, obwohl sich etwa inzwischen Umstände maßgeblich geändert haben oder nur die Darstellung des Verdachts in der verbotenen Berichterstattung zu beanstanden war".
In dubio pro Pressefreiheit
Vor dem Hintergrund der Pressefreiheit sei daher Zurückhaltung bei der Frage angesagt, ob eine veränderte Berichterstattung noch unter ein gerichtliches Verbot fällt. Wenn die Berichterstattung nur "in einem für die Prüfung der Einhaltung der Voraussetzungen zulässiger Verdachtsberichterstattung wesentlichen Punkt von der verbotenen Berichterstattung maßgeblich abweicht", könnte nicht mehr von einem Verstoß gegen das ursprüngliche gerichtliche Verbot ausgegangen werden.
Diese Ausführungen zu Ende gedacht wäre ein Bericht der wegen Fehlens aller vier Voraussetzungen der Verdachtsberichterstattung verboten wird, gerichtlich schon dann neu zu beurteilen, wenn auch nur eine diese vier Voraussetzungen durch eine Änderung des Berichts nun erfüllt ist, drei weitere aber unerfüllt bleiben. Ob dies so gemeint sein kann, wird die weitere Rechtsprechung zeigen.
Unterdessen begrüßte der Rechtsanwalt des Spiegel, Dr. Marc-Oliver Srocke, gegenüber LTO den OLG-Beschluss: "Das OLG hat im Sinne der Pressefreiheit klargestellt, dass entsprechende gerichtliche Verbote besonders eng auszulegen sind. Dabei wurde dem Verständnis von Herrn Reichelt, dass ein generelles Pauschalverbot erlassen worden sei, eine klare Absage erteilt."
Frage der Rechtmäßigkeit weiter offen
Der Beschluss des OLG könnte jedoch nicht die letzte Gerichtsentscheidung in der Sache gewesen sein. So stellt der Pressesenat klar, dass die Entscheidung allein die formale Frage betrifft, ob die veränderte Berichterstattung unter die aktuelle Unterlassungsverfügung fällt, nicht ob diese rechtmäßig ist. Auch die Pressestelle des Gerichts betont gegenüber LTO: "Eine inhaltliche Bewertung, ob diese Berichterstattung für sich genommen in dieser Form rechtmäßig ist oder nicht, enthält der Beschluss vom 13. Januar 2022 nicht."
Das heißt: Auch der veränderte Spiegel-Artikel könnte rechtswidrig sein, weil andere Voraussetzungen der Verdachtsberichterstattung nicht eingehalten worden sein könnten. Dies hatte das LG Hamburg in seiner einstweiligen Verfügung offengelassen, tendiert aber offenbar dazu, wie die Begründung des Ordnungsmittelbeschlusses nahelegt.
Weitere gerichtliche Möglichkeiten für Reichelt
Will Reichelt die Sache weiter gerichtlich ausfechten, ergeben sich zwei Möglichkeiten. Er könnte eine neue einstweilige Verfügung gerichtet gegen den veränderten Artikel beantragen. Problematisch ist allerdings schon die Eilbedürftigkeit. Eine einstweilige Verfügung ist nur möglich, wenn ein Antragsteller belegt, dass es ihm mit der Rechtsverfolgung "eilig ist". Regelmäßig gilt dabei, dass der Betroffenen innerhalb weniger Wochen nach Kenntnis der Berichterstattung gegen diese vorgehen muss. Der um die Stellungnahme ergänzte Bericht des Spiegel ist jedoch schon seit Mai 2021 online. Viel zu lang her – normalerweise. Allerdings sind Reichelts und seine Anwälte offenbar – wie das LG Hamburg – davon ausgegangen, dass die veränderte Berichterstattung weiter unter das ursprüngliche Verbot fällt. Auch belegt der Ordnungsmittelantrag, dass es ihm mit dem Verbot eilig war, er "am Ball" geblieben ist. Doch ob er mit dieser Argumentation Erfolg hätte, ist zweifelhaft. Denn letztlich handelt es sich insoweit um einen Rechtsirrtum. Insofern könnte also die lange Dauer des Ordnungsmittelverfahrens dazu führen, dass einem neuen Verfügungsantrag die Dringlichkeit fehlt und der Antrag daher abgewiesen wird.
Die Entscheidung des Hanseatischen OLG zeigt somit ein allgemeines prozessrechtliches Dilemma für Gläubiger eines Unterlassungstitels auf. In der Praxis müssen diese angesichts der unsicheren Frage, ob ein Gericht eine veränderte Berichterstattung oder auch veränderte Wettbewerbshandlung als "noch nicht verboten" oder "schon verboten" einstuft, zeitnah sowohl einen neuen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung als auch einen Ordnungsmittelantrag stellen, mit der Folge, dass in der Regel eines der beiden Verfahren verloren geht und Kosten entstehen.
Alternativ könnte Reichelt nun ein Hauptsacheverfahren gegen den Artikel auf den Weg bringen. Ein Verfahren, das sicherlich sämtliche Instanzen durchlaufen würde. Selbst wenn Reichelt am Ende siegreich wäre, würde der Artikel "Vögeln, feuern, fördern" in seiner aktuellen Fassung jedenfalls viele Jahre online bleiben.
Spiegel siegt vor OLG gegen Julian Reichelt: . In: Legal Tribune Online, 18.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47237 (abgerufen am: 12.11.2024 )
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