Das Grundgesetz ist keine Schönwetterverfassung, sondern hat sich gerade in der politischen Krise zu bewähren. Über Mechanismen, Institutionen im Krisenfall zu schützen, muss aber vor einer Krise entschieden werden, sagt Klaus F. Gärditz.
Angesichts beunruhigender Entwicklungen bei europäischen Nachbarn wird diskutiert, den freiheitlichen Pluralismus des Grundgesetzes besser gegen die Risiken zu sichern, die von populistischen Mehrheiten ausgehen könnten. Dies sollte besonnen debattiert werden, solange eine Verfassungsänderung potenziell organisierbar ist und eine unmittelbare populistische Bedrohung nicht besteht. Eine Krise kann schneller kommen, als man denkt. Für Nachverhandlungen ist es dann zu spät.
Gemeinsame Leitidee populistischer Bewegungen von rechts wie von links ist nicht ein bestimmter Katalog politischer Forderungen oder eine konkrete Ideologie. Es ist vielmehr der Alleinvertretungsanspruch, einen institutionell unverfälschten, authentischen "Volkswillen" abzubilden.
Eine derartige irrlichternde politische Romantik eines substanzhaften, "wahren" Volkswillens ist zwar fraglos infantil, institutionenblind und realitätsfern. Ein daraus vulgär-demokratietheoretisch abgeleiteter Anspruch auf ungehemmte Mehrheitsherrschaft ist aber durchgängige Handlungsanleitung in allen Staaten, in denen populistische Bewegungen Mehrheiten errungen haben. Zum Abgleiten ins Autoritäre ist es dann nur ein kleiner Schritt.
Nicht ohne Ironie bleibt, dass sich die meisten Populisten, solange sie von Mehrheiten weit entfernt sind, eher weinerlich zu verfolgten Andersdenkenden, zu Opfern einer vermeintlich dominanten Mehrheitsmeinung stilisieren. Der Härtetest bleibt, ob man die Freiheit, die man in der Opposition genossen hat, auch unter gleichen Bedingungen den politischen Gegnern zugesteht, falls man Mehrheiten erlangt.
Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenwürde
Die Grenzen, was in demokratischen Institutionen verhandelbar ist, sind sehr weit. Einen äußeren Verfügungsrahmen definiert die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz (GG) und deren unverbrüchliche Verpflichtung auf Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenwürde. Eine liberale Konkretisierung findet sich im NPD-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urt. v. 17.01.2017, Az. Az. 2 BvB 1/13).
Demokratie ist kein Fortschrittsprogramm für ein gutes Leben. Wie wir miteinander leben, mit wem wir solidarisch sind und wie wir die Institutionen des demokratischen Rechtsstaats gestalten, muss immer wieder in freier Meinungsbildung unabgeschlossen ausgehandelt werden.
In der demokratischen Veränderbarkeit des Rechts liegt auch ein Grund für permanenten sozialen Wandel. Manchen mag dies unheimlich sein. Kulturelle Verlusterfahrungen kann es hierbei nicht nur in konservativen, sondern auch in progressiven Milieus geben. Weniger Liberalität ist demokratisch selbstverständlich denkbar – auch das gehört zum Pluralismus. Man mag etwa strikte Einwanderungskontrolle, sozialstaatlichen Protektionismus oder Modernisierungsverweigerung für töricht oder moralisch falsch halten, demokratisch verhandeln kann (und muss) man hierüber gleichwohl. Demokratie anerkennt die Fehlbarkeit des Menschen und ist gerade deshalb moralischer Selbstgewissheit überlegen.
Herrschaft des Rechts ist institutionelle Herrschaft
Solange Herrschaft der Mehrheit nur als Herrschaft des Rechts begründet wird und in normative Bindungen eingehegt bleibt, lassen sich auch grundsätzliche Kontroversen freiheitsverträglich austragen. Individuelle Freiheit, Minderheiten und demokratische Spielregeln werden durch das Recht geschützt. Diese unverbrüchlichen Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats sind praktisch jedoch nur so viel wert, wie funktionierende Institutionen sie auch durchsetzen.
Populistischer Machtwille ventiliert sich daher kaum überraschend zunächst in einer Verächtlichmachung und dann in einer Demontage der Institutionen des Verfassungslebens, die in besonderer Weise gesellschaftliche Pluralität sichtbar machen: politische Opposition, Medien und vor allem Gerichte, die als letzte Bastion gerade die Freiheit der Einzelnen gegen Mehrheiten verteidigen. Wie schnell sich funktionierende Institutionen ausschalten und zur Fassade eines unkontrollierten Machtanspruchs deformieren lassen, verdeutlich ein Blick nach Polen .
Demokratischer Prozess oder Staatsstreich
Die Verfassung ist keine Schönwetterordnung. Sie hat sich in der Krise zu bewähren, und das heißt vornehmlich: im juristischen Verfassungskonflikt. Die Krisenresistenz lässt sich verbessern, indem man basale Statusfragen von Institutionen konstitutionalisiert.
Man mag einwenden, dass die beste Verfassung nichts nütze, wenn sich Mehrheiten formieren, die das Recht als Grenze von Herrschaft ohnehin nicht akzeptieren. Dies würde aber zu kurz greifen. Der verfassungsrechtliche Rahmen und die Regeln seiner Änderung markieren die Grenze zwischen dem legalen demokratischen Prozess und einem Staatsstreich. Diese Schwelle ist nicht nur machtpsychologisch relevant. Politische Mehrheiten sind vielmehr auf das Zusammenwirken mit anderen Institutionen angewiesen, die nicht einfach austauschbare Instrumente der Herrschaft sind. Gelebte Gewaltengliederung beruht auch auf staatlichen Binnenresistenzen.
Schon Alexis de Tocqueville wusste: „Würde das Gesetz Unterdrückung üben, so könnte doch die Freiheit in der Art, wie man es vollzieht, noch eine Zuflucht finden. Die Mehrheit kann nicht in die Einzelheiten und die Kindereien der Verwaltungstyrannei hinabsteigen.“ Nicht zuletzt der deutsche Föderalismus mit seinen verschiedenen politischen Kraftzentren und seinem Raum für urwüchsige Eigenwilligkeit ist ein Bollwerk gegen handstreichartige Gleichschaltung. Rechtsfeindlicher Cäsarismus stößt in differenzierten Institutionen, solange diese intakt sind, absehbar auf Widerstände gegen plumpen Machtmissbrauch.
Gerade der Wert einer unabhängigen Justiz ist nicht zu unterschätzen, wie man derzeit in den USA beobachten kann. Das Berufsbeamtentum (Art. 33 Abs. 5 GG) dient mit dem BVerfG (Beschl. v. 28.05.2008, Az. 2 BvL 11/07) schließlich dazu, „im politischen Kräftespiel eine stabile, gesetzestreue Verwaltung zu sichern“ , ist also strukturell anti-populistisch. Vielfältige Kontrollstrukturen erschweren ein Durchregieren von Mehrheiten. Nicht überall sind freilich die verfassungsrechtlichen Sicherungen krisenfest.
Gerichte als Beute illiberaler Mehrheiten
Eine intakte Verfassungsgerichtsbarkeit ist der konstitutionelle Anker, um Mehrheitsmacht wirksam zu kontrollieren und damit die Funktionsbedingungen des demokratischen Rechtsstaats auch unter populistischer Dominanz zu erhalten. Illiberale Mehrheiten (wie in Polen und Ungarn) haben daher stets als erstes versucht, die Verfassungsgerichtsbarkeit zu schleifen.
Dass das BVerfG bislang nicht zur Beute einfacher Mehrheiten wurde, verdanken wir nicht dem Grundgesetz, sondern einer politischen Kultur des institutionellen Respekts. Art. 94 Abs. 1 GG regelt nur fragmentarisch die Wahl der Richterinnen und Richter des BVerfG. Der einfache Gesetzgeber legt hingegen deren Zahl, die Mehrheitserfordernisse bei der Wahl, die Amtsdauer, die Wiederwahlmöglichkeit, den Sitz des Gerichts oder die Mehrheitsregeln bei einer Normverwerfung fest.
Dies ist missbrauchsanfällig . Eine verfassungsrechtliche Sicherung der Funktionsbedingungen eines politisch unabhängigen BVerfG würde nicht nur das Grundgesetz krisenfester machen. Sie würde auch ein Signal an andere Länder senden, dass wir es mit dem Schutz unserer Institutionen ebenso ernst nehmen, wie wir es mit Recht von anderen erwarten.
Der Autor Prof. Dr. Klaus F. Gärditz ist Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht an der Universität Bonn.
Schutz gegen autoritäre Versuchungen: . In: Legal Tribune Online, 08.02.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26893 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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